Afghanistan bleibt ein Schachbrett

Taliban zeigen seit einiger Zeit vermehrt Aufnahmen von Bau- und Reparaturmaßnahmen wie hier in der Provinz Kunduz.

Russland pflegt Verbindungen zu den Taliban, USA und Kabul bringen Warlords wieder ins Spiel

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Als ich mich 2014 in Kabul befand, meinten einige, den Taliban nahe stehenden Quellen, dass sich die Lage am Hindukusch drastisch verändern werde. Der Grund: Noch mehr ausländische Akteure würden sich einmischen. Gemeint war hiermit vor allem Russland.

Zeitgleich tobte die Ukraine-Krise und zahlreiche internationale Beobachter, die zum Teil gewiss keine "Putin-Versteher" sind, meinten, dass die NATO und der Westen zu weit gegangen waren. Experten wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer, der wohl wichtigste Vertreter der politischen Denkschule des Neorealismus, bezeichneten Putins Handeln als nachvollziehbare Reaktion.

In Afghanistan, so hieß es damals, sah jene "nachvollziehbare Reaktion" wie folgt aus: Moskau näherte sich den Taliban an, um auf diese Art und Weise der NATO "eins auszuwischen". So fingen die Extremisten etwa an, gezielt georgische Soldaten anzugreifen. Ein solcher Angriff fand etwa im Juni 2013 in der Provinz Helmand statt. Sieben Georgier wurden dabei getötet. Georgien gehört neben der Ukraine zu jenen Ländern, die vom "Verteidigungsbündnis" NATO in den letzten Jahren nicht unangetastet blieben und vor Russlands Haustür für Wirbel sorgten.

Die Annäherung zwischen Moskau und den Taliban fand in Katar statt, wo sich seit 2013 ein Verbindungsbüro des "Emirats", wie die Aufständischen sich selbst bezeichnen, befindet. Eine führende Rolle bei den Gesprächen spielte der russische Diplomat Zamir Kabulov, Moskaus Sondergesandter für Afghanistan und Pakistan. Zum damaligen Zeitpunkt verhandelte Kabulov in Doha unter anderem die Freilassung eines russischen Piloten, der von den Taliban als Geisel gehalten wurde. Der Mann war für eine private Firma tätig.

Obwohl zum damaligen Zeitpunkt viele Beobachter nichts davon wissen wollten, haben sich die "Kreml-Emirat-Beziehungen" in den letzten Wochen, sprich, zum Ende des Jahres 2016, in vielerlei Hinsicht bestätigt. Ende Dezember fand etwa ein Treffen von Vertretern Russlands, Pakistans und Chinas in Moskau statt. Die teilnehmenden Staaten drückten dabei vor allem ihre Besorgnis über das Erstarken des sogenannten Islamischen Staates (IS) am Hindukusch aus. Zeitgleich wurden die Taliban als politische Realität im Land anerkannt, was von der Gruppierung umgehend medial begrüßt wurde. Die Taliban gelten als Hauptfeind des IS in Afghanistan.

Vertreter der afghanischen Regierung waren auf der Konferenz nicht anwesend. Ebenfalls nicht zugegen waren US-amerikanische und indische Regierungsvertreter. Neu-Delhi gehört mittlerweile zu den engsten Partnern Kabuls.

Die Regierung des afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani, die weiterhin vollkommen von Washington abhängig ist, zeigte sich über die Schritte Russlands besorgt und warf dem Kreml vor, innerstaatliche Angelegenheiten zu sabotieren und die Taliban gezielt zu unterstützen. Daraufhin leugnete Moskau jegliche Unterstützung und versprach, die afghanische Regierung in Zukunft nicht außen vor zu lassen.

Die Realität am Hindukusch ist allerdings eine andere. De facto ist schon seit langem klar, dass Moskau aktiv auf dem Kampffeld mitmischt und dabei den Konflikt wie alle anderen ausländischen Akteure weiterhin aufheizt. Ein namentlich nicht genannter Taliban-Kämpfer meinte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP sogar, dass die kurzzeitige Eroberung der Provinzhauptstadt von Kunduz im vergangenen Oktober ohne russische Hilfe - hauptsächlich wohl in Form von logistischer Unterstützung - nicht möglich gewesen wäre. Bereits im Oktober 2015 eroberten die Taliban die Stadt kurzzeitig und brachten westliche Politiker, die weiterhin von einer heilen Welt am Hindukusch schwadronierten, in Bedrängnis.

Proxy-Spieler auf dem Schachbrett

Für viele Beobachter ist klar, dass Russlands Ziel keineswegs ein vollständiger Sieg der Taliban ist, sondern lediglich eine Aufrechterhaltung des Konflikts mit der afghanischen Regierung und ihren NATO-Unterstützern. Eine mögliche Friedenslösung mit der Kabuler Regierung mittels russischer Hilfe scheint allerdings auch nicht im Interesse Washingtons zu sein. Ein Indiz hierfür ist etwa der vor wenigen Monaten stattgefunden Friedensdeal mit der Mudschaheddin-Partei Hizb-e Islami des Kriegsfürsten Gulbuddin Hekmatyar (Die Rückkehr des Kriegsherrn).

In den 1980er-Jahren gehörten die Kämpfer Hekmatyars zu den effektivsten im Kampf gegen die Sowjetunion und wurden deshalb dementsprechend von den USA und ihren Verbündeten unterstützt. Nachdem die NATO 2001 in Afghanistan einmarschierte, stellte sich Hekmatyar gegen die neuen Besatzer und landete auf die Terrorliste Washingtons.

Dies ist nun nicht mehr der Fall - und dies scheint kein Zufall zu sein. Waheed Mozhdah, ein politischer Analyst und ein Kenner der Hizb-e Islami, meint etwa, dass die Gruppierung seitens Washingtons bewusst zurückgeholt wurde, um ein Gegengewicht zum russischen Einfluss im Land zu haben. Als ehemalige Mudschaheddin-Gruppierung, die einst als stärkstes Bollwerk gegen die kommunistische Regierung in Kabul galt, haben viele führende Mitglieder der Hizb-e Islami weiterhin Vorbehalte gegenüber Moskau (Neue Warlord-Geschichten).

Man könnte meinen, dass dies auch in den Reihen der Taliban der Fall ist. Denn obwohl es die Gruppierung zum damaligen Zeitpunkt nicht gab, kämpften auch viele Taliban-Führer in ihren jungen Jahren einst gegen die Sowjetunion, in vielen Fällen sogar innerhalb der Hizb-e Islami. Die Erklärung für die gegenwärtige Realität ist jedoch nicht allzu schwierig: Die Taliban handeln pragmatisch, realistisch und denken in erster Linie an ihre eigenen Interessen, auch jenseits des Schlachtfeldes. Dabei beachten sie, dass sie als nichtstaatlicher Akteur stets eine gewisse Abhängigkeit gegenüber anderen politischen Akteuren mit sich tragen. Man kann in diesem Kontext mittlerweile von einer "Taliban-Diplomatie" sprechen.

Problematisch ist hierbei jedoch die Tatsache, dass Afghanistan sich immer mehr zu einem internationalen Schachbrett politischer Machtspiele entwickelt, ähnlich wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Damals unterstützte Moskau die Kabuler Regierung, während Washington sich auf Seiten der Aufständischen schlug. Ironischerweise - und genau dieser Aspekt scheint in diesen Tagen unterzugehen - ist nun genau das Gegenteil der Fall.