Afrin ein Jahr unter türkischer Besatzung
Die Situation der Kurden, die noch in Afrin leben, wie auch der Minderheiten verschlechtert sich Tag für Tag
Vor einem Jahr - am 20. Januar 2018 - begann die Armee des Nachbarlandes Türkei mit ihrer "Operation Olivenzweig" gegen die syrisch-kurdische Region Afrin. War es der Region mit großen Anstrengungen gelungen, sich aus dem seit 2011 herrschenden Bürgerkrieg herauszuhalten, brachte der Angriff der Türkei der Zivilbevölkerung neues Leid. Bis zu 250.000 Menschen mussten damals fliehen, etwa 100.000 verblieben in der Stadt Afrin.
Die gleichnamige Region Afrin wurde am 18. März 2018 von türkischen Truppen eingenommen. Die kurdischen Flüchtlinge aus dem Gebiet leben noch immer in provisorischen Camps im Niemandsland zwischen Aleppo und Afrin in der sogenannten "Shahba Region". Diese Menschen sind seit März 2018 von der Außenwelt abgeschnitten. Ihre humanitäre Lage ist katastrophal.
Es mangelt an Wasser, Nahrungsmitteln und Medikamenten. Das Gleiche gilt für Kurden, die noch in Afrin leben. Sie sind Schikanen, willkürlichen Verhaftungen und Plünderungen durch das türkische Militär und syrischen Islamisten ausgesetzt. Insbesondere die Situation der Minderheiten verschlechtert sich Tag für Tag.
Ein Rückblick
In Syrien gab es zu Beginn des Bürgerkrieges 2011 etwa drei Millionen Kurden. Sie stellten rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung und lebten hauptsächlich in zwei Enklaven, in Jazira1, östlich des Flusses Euphrat im Nordosten des Landes, und in Afrin, westlich des Euphrats im Nordwesten des Landes. 2012 zogen sich die Pro-Assad-Regierungsgruppen aus Afrin und zum Teil aus Jazira zurück.
Kurz danach übernahm die kurdische Miliz "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) die Kontrolle in der Stadt und errichtete im Jahr 2014 unter dem Namen Rojava ("Westkurdistan") die drei Kantone Afrin, Kobani (Kobane) und Jazira. In Afrin und in Jazira konnten die Kurden während des syrischen Bürgerkrieges lange Zeit ein friedliches Leben aufrechterhalten. Viele glaubten, dass hier der Grundstein eines demokratischen Syriens gelegt wurde.
Afrin sollte eine selbstverwaltete Region in einem föderalen Land sein - Minderheitenschutz eingeschlossen. Afrin bot nicht nur seinen Bewohnern, sondern auch zahlreichen Geflüchteten Schutz und galt als Hoffnung für den Aufbau einer stabilen und ruhigen Gesellschaft in der Kriegsregion. Durch das völkerrechtswidrige Vorgehen der Türkei ist die nordwestsyrische Region jetzt vom türkischen Militär besetzt.
Mit gezielten Maßnahmen versuchen die türkische Regierung und syrische Islamisten dort seit März 2018 tiefgreifende Veränderungen zu erzwingen. Die kurdische Zivilbevölkerung wurde systematisch eingeschüchtert, beraubt und vertrieben. Selbst vor Mord schrecken die Besatzer nicht zurück.
Kurdischen Familien werden mehr und mehr die wirtschaftlichen Grundlagen entzogen; Infrastruktur und Denkmäler werden zerstört, Dörfer, Berge und Täler bekommen neue Namen in arabischer oder türkischer Sprache. Was in Afrin geschieht, nimmt zunehmend Züge des Versuchs einer Vernichtung der kurdischen Sprache, Kultur und nationalen Identität der Kurden an.
Ansiedlung arabischer Familien
Vor dem Angriff auf Afrin behauptete die türkische Regierung, dass die Kurden dort nur 42 Prozent der Bevölkerung stellen. In Wirklichkeit betrug ihr Bevölkerungsanteil (detailliert auch hier) bis 2011 rund 95 Prozent. Die Region war auch bekannt unter dem Namen "Kurdax" oder "Ciyayê Kurmênc". Übersetzt bedeutet das "Berg der Kurden".
Nach der vollständigen Eroberung Afrins hat das türkische Militär in dem Gebiet verstärkt arabische Sunniten aus anderen Teilen Syriens angesiedelt. Es handelt sich vor allem um Familien islamistischer Kämpfer. In allen kurdischen Dörfern und Städten ließen sich Araber nieder. Im Rajo-Distrikt nördlich von Afrin-City hat das türkische Militär die Kurden aus den beiden Dörfern Darwish und Jia vollständig vertrieben und dort jeweils einen türkischen Militärstützpunkt errichtet.
In der früher ausschließlich von Kurden bewohnten Ortschaft Bulbul lebten etwa 1.000 Familien. Nur 50 kurdischen Familien durften in ihre Häuser zurückkehren. In die Ortschaft Meydan Ekbaz, die auf einem Pass zwischen Kurd Dagh (Kurdenberg) und dem Amanos-Gebirge liegt, durften nur 150 Familien von einst 500 kurdischen Familien zurückkehren. In der mehrheitlich kurdisch-alevitischen Ortschaft Mabata wurden 150 arabisch-sunnitische Familien angesiedelt. Etwa 60 kurdische Familien wollen seit April 2018 in ihre Häuser in Mabata zurückkehren. Das türkische Militär und die syrischen Islamisten erlauben dies aber nicht.
Zwangsarabisierung, Zwangstürkisierung und Islamisierung
Das türkische Militär und syrische Islamisten sollen mindestens 32 Schulen in Afrin abgerissen haben. 318 Schulen, Institute oder Universitäten wurden geschlossen. Die türkische Besatzungsmacht zwingt der kurdischen Bevölkerung die arabische oder türkische Sprache auf.
An den Schulen wird türkisches Lehrmaterial verwendet. An allen öffentlichen Gebäuden und Vereinen müssen türkische Fahnen aufgehängt, Namen von Einrichtungen und Straßen müssen arabisiert oder türkisiert werden. Der zentrale Platz der Stadt Afrin soll in "Erdogan-Platz" umbenannt worden sein. In den Moscheen predigen nur noch radikalislamistische Imame. Sie erhalten ihre Predigten von der türkischen Religionsbehörde "Diyanet" in Ankara.
Besonders schwer haben es die kurdischen Frauen. Sie werden gezwungen, sich zu verschleiern. Die kurdisch-muslimische Bevölkerung in Afrin war für ihre tolerante Haltung gegenüber anderen Religionen bekannt. Frauen genossen viele Rechte. Diese Kultur der Toleranz in Afrin ist nun in Gefahr. Denn das türkische Militär und die syrischen Islamisten versuchen Intoleranz und einen radikalen Islam in Afrin zu verbreiten.
Morde, Entführungen, Verhaftungen und Verschwindenlassen
Nach 300 Tagen Besatzungszeit sind kurdische Zivilisten ständig Unterdrückung und Gewalt durch die Besatzer ausgesetzt. Entführungen haben sich zu einem lukrativen Geschäft entwickelt, um an Lösegeld zu bekommen. Die freigelassenen Kurden berichten von schwerer Folter und Misshandlungen durch das türkische Militär und syrische Islamisten.
Wiederholt müssen Angehörige hohe Geldsummen zahlen, um Entführte überhaupt freizubekommen. Oft kommt es in den kurdischen Dörfern zu Razzien und öffentlichen Durchsuchungen sowie zur Belagerung, um Schmuck oder die wenigen Ersparnisse der Kurden zu rauben. Kurdische Bauern werden auf offener Straße geschlagen und misshandelt.
Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in Großbritannien beziffert die Zahl der kurdischen Gefangenen in Gewahrsam des türkischen Militärs auf 2.450. Ihre Zahl dürfte jedoch viel höher sein. Aus Angst vor neuen Strafmaßnahmen wollen viele Betroffene von ihrer Verhaftung erst gar nicht berichten . Immer wieder werden Kurden ermordet oder verschwinden spurlos.
Plünderungen und Ernteraub
Verschiedenen Quellen zufolge soll die türkische Regierung im Herbst 2018 mehr als 50.000 Tonnen Oliven aus Afrin abtransportiert haben. Am 8. November eröffneten die türkischen Militärs eigens dafür einen Grenzübergang bei Cindires im Westen von Afrin. Türkische Abgeordnete sprachen dieses Thema im Parlament an.
Das türkische Landwirtschaftsministerium soll auch bestätigt haben, dass Oliven von der türkischen Armee und ihren verbündeten Milizen aus Afrin in die Türkei gebracht worden seien. "80 Millionen Dollar Gewinn will die Türkei mit den Oliven erzielen."
Der Landwirtschaftsrat von Afrin errechnete, dass die 18 Millionen Olivenbäumen in Afrin Millionen hochqualitative Früchte liefern. Die diesjährige Olivenernte hätte dem Kanton eine Olivenernte von 200.000 bis 210.000 Tonnen grünen Oliven und eine Produktion von 40.000 Tonnen Olivenöl gebracht.
Afrin: Exzessive Gewalt durch türkische Besatzung
Ferner wurden auch viele Olivenhaine zerstört, indem die Bäume abgesägt und als Brennholz auf den Märkten verkauft wurden. Immer wieder werden Olivenhaine auch einfach in Brand gesetzt. Etwa 50.000 Olivenbäume sollen vernichtet worden sein. So versucht man, die Lebensgrundlage der Bevölkerung zu zerstören.
Seit der völkerrechtswidrigen Besetzung Afrins durch türkische Truppen und verbündete syrische Jihadisten im März 2018 wurde ein Landstreifen in einer Breite von 200 bis 500 Metern und einer Länge von rund 150 Kilometern entlang der syrisch-türkischen Grenze entvölkert. Dort wurden auch alle landwirtschaftlichen Flächen zerstört. Zehn Hektar der 32 Hektar umfassenden Jahrzehnte alten Kiefernwälder Afrins wurden von den neuen Machthabern in der Region gezielt niedergebrannt.
Die Kurden in Afrin bezeichnen die Raubzüge der syrischen Islamisten und des türkischen Militärs als die schlimmste Heuschreckenplage, die Afrin jemals erlebt hat. Am schlimmsten waren die ersten Tage nach der Eroberung des Kantons.2 Wie Heuschrecken drangen bewaffnete Männer mit langen Bärten in die Läden, Fabriken, Schulen, staatliche Gebäude, Arztpraxen, Apotheken, Lagerhäuser und Privathaushalte ein und nahmen alles mit, was sie tragen konnten.
Täglich wurden Möbel, Elektrogeräte, landwirtschaftliche Fahrzeuge und Autos auf den Markt gebracht. Einige Journalisten konnten diese Raubzüge auf Bild- und Videomaterial dokumentieren. Die Menschen aus Afrin berichteten mir, dass auch wertvolle Teppiche aus Moscheen geraubt wurden.
Zerstörung der Infrastruktur
Mit dem Beginn des türkischen Angriffskrieges gegen Afrin begann auch die systematische Zerstörung der Infrastruktur in der durch verschiedene Regierungen in Damaskus seit Jahrzehnten benachteiligten Region.
Unter schwierigsten Bedingungen war es den Menschen nach dem Abzug des syrischen Regimes aus Afrin gelungen, eine funktionierende Verwaltung mit Schulen, Krankenhäusern, lokaler Polizei, einer Universität, einem funktionierenden Internet-Telefonnetz sowie mit einer funktionierenden Wasser-und Stromversorgung aufzubauen. All das wurde vom türkischen Militär und syrischen Islamisten zerstört.
Die türkische Regierung hatte die Region Afrin bereits seit der syrischen Revolte im März 2011 von der Außenwelt abgeriegelt. Wiederholte Appelle, einen Grenzübergang von der Türkei nach Afrin für humanitäre Hilfe zu öffnen, stießen in der Türkei auf taube Ohren.
Ganz im Gegenteil: Die türkische Regierung hetzte verschiedenste syrische islamistische bewaffnete Gruppen gegen die Kurden in Afrin. Diese begannen bereits 2012 die Bevölkerung vom Osten und Süden anzugreifen. Immer wieder wurden Kurden massenweise auf der Hauptstraße zwischen Afrin und Aleppo entführt.
Zerstörung von kulturellem Erbe in Afrin
Beim Angriff auf Afrin zerstörten das türkische Militär und die syrischen Islamisten gezielt den antiken Tempel in Ain Dara, südlich von Afrin. Ebenso wurde die Hori-Zitadelle mit ihrem antiken Theater im Norden von Afrin dem Erdboden gleichgemacht. Auch viele Friedhöfe der Kurden wurden vollständig vernichtet.
Vertreibung von Yeziden, Christen und Aleviten aus Afrin
Außer sunnitischen Kurden beherbergte Afrin auch kurdische Yeziden (häufig auch: Jesiden oder Esiden), Aleviten/Alawiten sowie Christen. Im Februar 2015, als ein GfbV-Mitarbeiter Afrin besuchte, lebte dort nur noch ein Armenier mit seinem Sohn. Da die Region im Norden und Westen nahezu vollständig von der Türkei und im Süden und Osten von syrischen islamistischen Rebellen abgeriegelt war, durften sich diese Armenier nur noch innerhalb von Afrin bewegen.
Die anderen Christen in Afrin waren in den vergangenen Jahren vom Islam zum Christentum konvertiert. Laut der Evangelical Christian Union Church gab es vor dem Einmarsch der türkischen Armee ungefähr 200 bis 250 christliche Familien in Afrin (etwa 1.200 Personen). Alle diese Christen mussten aus Afrin fliehen. Dort leben jetzt keine Christen mehr.
Die türkische Besatzung stellt eine große Bedrohung für viele Minderheiten dar. Besonders weil die meisten Kämpfer, die von der Türkei unterstützt werden, radikale Islamisten sind, die Hass gegen Anders-Gläubige verspüren. So sind zum Beispiel Yeziden besonders gefährdet: Am Rand der Region Afrin im Süden und Osten wurden entlang des Berges Lelun (Mount Simon) kurdisch-yezidische Dörfer oder Dörfer mit yezidischer Bevökerung wie Basufan, Baadi, Barad, Kimar, Iska, Shadere, Ghazzawiya, Burj Abdalo und Ain Dara von türkischen Kampfflugzeugen angegriffen.
Die Bewohner mussten in die nahegelegenen Berghöhlen von Mount Simon fliehen. Dabei sind die Yeziden fester Bestandteil von Afrin: ihre Jahrtausende zurückreichende Präsenz ist dort durch Funde yezidischer Zeichen an Wänden von Tempeln und Denkmälern belegt worden.
Wie viele Yeziden noch in Afrin leben, wissen wir nicht. Bis zum türkischen Einmarsch gab es dort etwa 20.000 bis 30.000 von ihnen. Zu Recht fürchten sie sich vor radikalen Islamisten, die an der Seite der Türkei kämpfen, da sie glauben, dass sich unter ihnen auch ehemalige IS-Kämpfer befinden.3
Am 14. März 2018 gaben die von der Türkei unterstützten Islamisten bekannt, dass sie das yezidische Dorf Feqira (Qizilbas), welches eines der wenigen rein yezidischen Dörfer in der Region Afrin ist, "befreit" hätten. In einem von ihnen auf Facebook veröffentlichten Video rufen sie: "Allahu Akbar!" Das war seit dem Ende der osmanischen Herrschaft 1918 wohl das erste Mal, dass dieser Ruf in dem Dorf ertönte.
Das gleiche Schicksal erlitt die etwa 5.000-köpfige alevitische Gemeinschaft. Aleviten leben vor allem im Distrik Mabata. Wie die Yeziden sind auch sie in tödlicher Gefahr, denn für die Radikalislamisten gelten die Aleviten als Abtrünnige, die beseitigt werden müssen.
Nun droht der türkische Präsident Erdogan Kurden und anderen Volksgruppen auch im Nordosten Syriens, östlich des Flusses Euphrat, mit einem neuen Krieg. Wann und ob Erdogan seine Drohungen wahrmacht, ist vor allem von der Haltung der beiden Großmächte USA und Russland abhängig. Nur Putin oder Trump sind in der Lage Erdogans Kriegen in Syrien ein Ende zu setzen.
Der Autor Kamal Sido ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).