Afrin zwei Jahre nach türkischer Besatzung
- Afrin zwei Jahre nach türkischer Besatzung
- Dschihadisten feiern die Belegung der Häuser mit Freudenschüssen
- Auf einer Seite lesen
Die Lage der Bevölkerung katastrophal. Indessen macht Erdogan erneut klar, dass er weitere Gebiete annektieren wird. Der Siedlungsbau in den jüngst besetzten Gebieten beginnt
Zwei Jahre nach der völkerrechtswidrigen Besatzung der Region Afrin im Nordwesten von Syrien ist die Lage der Bevölkerung katastrophal. Von der einst florierenden, friedlichen Region ist kaum noch etwas übrig. Die Mehrheit der Bevölkerung ist in die benachbarte Scheba-Region geflohen. Dort warten die ca. 300.000 Geflüchteten unter verheerenden Bedingungen in Flüchtlingscamps auf die Befreiung Afrins von den Türken und ihrer dschihadistischen Söldner und auf die Rückkehr in ihre Heimatregion.
Die verbliebene Rest-Bevölkerung wehrt sich nach wie vor gegen die türkische Besatzung. Die Türkei beginnt mit dem Siedlungsbau in den annektierten Gebieten und will dort sunnitisch-muslimische Syrer aus der Türkei ansiedeln. Der Westen schweigt nach wie vor zum Bruch des Völkerrechts und verschließt die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen, die dort seit zwei Jahren täglich begangen werden.
Immerhin kürzt die EU nun als kleines Warnsignal die sogenannten "Vorbeitrittshilfen" für die Türkei. Mit den Vorbeitrittshilfen sollte die Türkei in notwendigen Reformen für den EU-Beitritt unterstützt werden. Im laufenden Jahr 2020 soll die Türkei nur noch ein Viertel der ursprünglich vorgesehenen Mittel erhalten. Insgesamt erhält die Türkei in diesem Jahr aber trotzdem noch 168 Millionen Euro. Begründet wird die Kürzung unter anderem mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Nordsyrien.
Das ist immerhin ein kleines Warnsignal an Erdogan. Angesichts des zunehmend islamistischen Kurses Erdogans darf man die Frage nach dem generellen Sinn der Vortrittsbeihilfen für die Türkei stellen. Das Land ist von einem EU-Beitritt weiter entfernt denn je.
Zwei Jahre türkische Besatzung in Afrin - und kein Ende in Sicht
Am 20. Januar 2018 begann die Invasion des türkischen Staates in Afrin, und schon im März war die gesamte Region besetzt. Die Türkei setzte damals schon deutsche Waffen wie Leopard 2 Panzer gegen die Bevölkerung ein. Da Russland den Luftraum für türkische Kampfflugzeuge freigab, hatten die Selbstverteidigungseinheiten in Afrin kaum eine Chance, den Vormarsch der Türken aufzuhalten.
Es kam zu erbitterten Kämpfen zwischen türkischen Soldaten, ihren Proxytruppen und den Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ. Bilder, wie etwa die Leichenschändung an der YPJ-Kämpferin Barin Kobani durch sogenannte FSA-Kämpfer, die dabei islamistische Parolen riefen, gingen um die Welt und sorgten für Empörung.
Immer wieder tauchten selbst aufgenommene Videos und Fotos der Türken und Dschihadisten auf, in denen sie stolz zeigten, wie Kriegsgefangene und Zivilisten erschossen wurden. Oder wie die nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen wie etwa die Eziden von den islamistischen und dschihadistischen Kämpfern drangsaliert und bedroht werden.
Nach der Eroberung Afrins wurden die Wohnungen der vertriebenen Bevölkerung samt Besitz und Ländereien von den herbeigekarrten Familien der Dschihadisten beschlagnahmt. Kulturgüter wurden geplündert und wertvolle, jahrtausendalte historische Stätten zerstört. Ein eindeutiger Bruch der Haager Konventionen zum Schutz von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten.
Afrin war seit langem bekannt für sein gutes Olivenöl und die sogenannte "Alepposeife", die man auch in deutschen Bio- und Edelläden kaufen konnte. Die Türken plünderten zuerst die Olivenhaine und transportierten die begehrten-Oliven in die Türkei, wo das daraus gewonnene Öl unter dem Label "Afrin-Öl" unter anderem auch in den türkischen Supermarktketten in Deutschland verkauft wurde.
Danach brannten sie die zum Teil Hunderte Jahre alten Olivenhaine nieder. In den Dörfern der Region Afrin werden nach wie vor die Häuser der Vertriebenen, die für "nicht bewohnbar" für die Dschihadisten-Familien befunden werden, niedergebrannt.
Über die aktuelle Lage in Afrin kann nur durch Berichte aus der Bevölkerung, die mit großen Problemen nach außen dringen, berichtet werden. Journalisten und Menschenrechtsorganisationen ist der Zugang zu der Region verboten.
Aus dem Landkreis Şera in der Region Afrin wurde am Mittwoch von türkischem Artilleriebeschuss berichtet. Betroffen waren mehrere Dörfer, über Tote oder Verletzte liegen derzeit noch keine Informationen vor. Mit den täglichen Angriffen will die türkische Regierung die Bevölkerung zermürben und zur Flucht zwingen.
Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien sandte Hunderte Augenzeugenberichte von Geflüchteten aus Afrin an die UN-Menschenrechtskommission, in denen sie über die Umstände ihrer Vertreibung berichteten. Langsam scheinen die Berichte von den internationalen Institutionen wahrgenommen zu werden.
Das Rojava Information Center hat ein umfassendes Dossier über die aktuelle Situation in Afrin veröffentlicht, in dem auch der Bericht der UN Menschenrechtskommission vom 15. August 2019 zu Afrin zitiert wird:
Einzelne Personen, darunter Aktivisten, die den bewaffneten Gruppen offen kritisch gegenüberstanden, und solche, die als Anhänger der früheren Regierung angesehen wurden, wurden regelmäßig verhaftet, inhaftiert gefoltert und erpresst (...)
Im Februar wurde ein Journalist von einer bewaffneten Gruppe in Afrin verhaftet und beschuldigt, Informationen an ausländische Nachrichtenagenturen weiterzugeben. Er wurde während seines Verhörs schwer geschlagen.
Die Opfer von Entführungen durch bewaffnete Gruppen und/oder kriminelle Banden waren häufig kurdischer Herkunft wie auch Zivilisten, die als wohlhabend eingestuft wurden, darunter Ärzte, Geschäftsleute und Händler. Aus den bei der Kommission eingegangenen Berichten ging auch hervor, dass insbesondere in Gebieten, die unter der Kontrolle bewaffneter Gruppierungen stehen, die extremistischen Ideologien folgen, in den letzten Monaten schwere Einschränkungen der Rechte von Frauen verhängt wurden.
Zu den Verstößen gehören die Auferlegung strenger Kleidungsvorschriften für Frauen und Mädchen sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Berichten zufolge wurden Beamte kurdischer Herkunft, die zuvor in Institutionen gearbeitet hatten, häufig durch Personen arabischer Herkunft ersetzt.
Die Kommission ist der Ansicht, dass es berechtigte Gründe für die Annahme gibt, dass Mitglieder der bewaffneten Gruppen in Afrin weiterhin Kriegsverbrechen wie Geiselnahme, grausame Behandlung, Folter (...) und Plünderung begangen haben.
United Nations, Human Rights Council, (15 August 2019), A/HRC/42/51
Die benachbarte Scheba-Region, Hauptzufluchtsort für Geflüchtete aus Afrin, die unter dem Schutz der autonomen Selbstverwaltung steht, kommt wie alle grenznahen Gebiete nicht zur Ruhe. Immer wieder werden die Vertriebenen dort von türkischer Seite und den türkischen Söldnern angegriffen. Zuletzt gab es einen Angriff in Tel Rifat, bei dem mehrere Kinder ums Leben kamen. Der Angriff war ein gezielter Angriff auf spielende Kinder. ANF berichtete am Mittwoch vom Beschuss mehrerer Dörfer in der Scheba-Region.
Täglich türkische Angriffe entlang der türkisch-syrischen Grenze
Im Oktober 2019 startete die Türkei eine erneute Offensive gegen Nordsyrien und marschierte in Ras al- Ayn (Sere Kaniye) und Tell Abyad (Gire Spi) ein. Seitdem wiederholt sich das Drama aus Afrin auch in diesen beiden besetzten Gebieten: Plünderungen, Vertreibung, Folter und Mord. Aus Tell Abyad (Gire Spi) raubt die Türkei derzeit 20.000 Tonnen Getreide, die in Syrien dringend zur Versorgung der Bevölkerung benötigt werden.
Der Transportauftrag von Gire Spi in die Türkei wurde in der Türkei von den Behörden öffentlich ausgeschrieben. Den Zuschlag erhielt die internationale türkische Spedition Öz-Duy. Sie soll das Getreide nun bis zum 30. Juni 2020 in die staatlichen Speicher der Abteilung für Feldfrüchte (TMO) in Urfa/Türkei transportieren.
In Sere Kaniye sind in den letzten Tagen 1.500 Islamistenfamilien der sogenannten "Syrischen Nationalarmee" (SNA) in den Häusern der Vertriebenen angesiedelt worden. Nach Informationen der kurdischen Nachrichtenagentur ANF handelt es sich um Familien von Mitgliedern der Sultan-Murad-Brigade und von Liwa al-Sham.
Sie wurden über den (eigentlich geschlossenen) Grenzübergang des türkischen Teils der Stadt, Ceylanpinar, nach Sere Kaniye (Ras al-Ain) gebracht und in den Vierteln Xerabat und Hawarna angesiedelt.