Algerien: Der Ausverkauf hat begonnen
Teilprivatisierung der Bodenschätze beschlossen, Trinkwasser steht als nächstes auf der Liste, EU und WTO stehen im Hintergrund
Vor kurzem hat das algerische Parlament nach über drei Jahrzehnten die Nationalisierung des Erdöl- und Erdgassektors aufgehoben. Kurz zuvor hatte es das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union ratifiziert, das eine weitgehende "Öffnung" der algerischen Ökonomie für europäisches Kapitel und eine Liberalisierung seiner Märkte vorsieht. Als nächstes wird nunmehr auch über die Privatisierung des Trinkwassers debattiert.
Das "Loi sur les hydrocarbures", das neue Gesetz bezüglich der Erdöl- und Erdgasförderung, sieht vor, dass ausländische Unternehmen in Zukunft nicht mehr nur Minderheitsbeteiligungen an Förderstätten und -anlagen erwerben dürfen. Es wurde am 20. März vom algerischen Parlament verabschiedet. Künftig dürfen "westliche" und andere Investoren grundsätzlich 70 Prozent der Anteile übernehmen. Unter bestimmten Bedingungen können ausländische Firmen auch hundertprozentige Eigentümer einer Lagerstätte werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die staatliche algerische Erdölfirma Sonatrach auf die Ausbeutung einer neu entdeckten Lagerstätte fossiler Brennstoffe verzichtet.
Als Motivation für diesen tiefen Einschnitt in der jüngeren algerischen Geschichte werden mehrere Gründe von der Regierung benannt. Einerseits wird angegeben, dass man befürchtet habe, angesichts der in rapiden Schritten erfolgenden Öffnung des Nachbarlands Libyen für westliches Kapital ins Hintertreffen zu geraten. Andererseits erhoffe man sich von den erwarteten Investitionen eine dringend nötige technologische Modernisierung des Erdöl- und Erdgassektors.
Ob die Hoffnung auf einen Technologietransfer, der auch Algerien nutzen würde, aufgehen wird, muss jedoch als äußerst fraglich gelten. Bereits heute sind europäische, nordamerikanische und australische Erdölkonzerne in der algerischen Wüste aktiv, wo sie regelrechte Enklaven errichtet haben, die gegenüber dem Rest des umgebenden Landes weitgehend abgeschottet sind: Von den Nahrungsmitteln für die dort tätigen westlichen Techniker und Ingenieure bis zu den Wachhunden wird ausnahmslos alles Notwendige eingeflogen. Von der Bezirkshauptstadt Ouargla in der algerischen Sahara bis zum einige Dutzend Kilometer entfernten Hassi Messaoud, wo die größten bisher entdeckten Erdgasvorkommen des Landes lagern, dürfen die Einwohner nicht ohne speziellen Passierschein fahren - "ein Visum", wie die Bevölkerung es ironisch nennt. L'Algérie utile, "das nützliche Algerien", wie die Leute im ganzen Land sarkastisch sagen - unter Hinweis auf die eigene Rolle als "überflüssige Esser" - ist bereits heute eine eigene Welt.
Historischer Rückblick: Es war einmal... die "volkseigene" Erdölindustrie
Die Nationalisierung der Öl- und Gasindustrie durch das damalige staatssozialistische Regime des Front de libération nationale (FLN, Nationale Befreiungsfront) im Februar 1971 hatte ursprünglich einmal das Herzstück eines autozentrierten Entwicklungsmodells gebildet: Die vom Staat abgeschöpfte "Ölrente" sollte in den Aufbau einer diversifizierten Industrie investiert werden. So sollte die strukturelle Unterentwicklung der ehemaligen Kolonie, deren Wirtschaft früher auf die Bedürfnisse der "Metropole" Frankreich zugeschnitten worden war, überwunden werden.
Dieses Vorhaben war aber bereits in den achtziger Jahren gescheitert. Dazu trug das Technikdiktat westlicher Konzerne bei, die dem nordafrikanischen Land veraltete, überdimensionierte oder den örtlichen Bedingungen nicht angepasste Anlagen verkauften oder die Algerier in Abhängigkeit von Ersatzteilen und Wartungsarbeiten durch eigene westliche "Experten" hielten. Aber auch die Korruption der einheimischen Eliten, die sich mitunter Schrott andrehen ließen, sofern sie nur selber saftige Kommissionen kassieren und aus ihren Beziehungen ins reichere Ausland Nutzen ziehen konnten, bildete eine wichtige Ursache.
Die westalgerische Metropole Oran und ihr Umland wiesen beispielsweise in den 70er Jahren eines der modernsten Telefonnetze auf, das aber höchstens jede zweite Woche funktionierte: Reparatur und Wartung hingen vom schwedischen Telefonunternehmen Ericsson ab, das mit der allfälligen Behebung von Störungen auf sich warten ließ. Daraufhin versuchte der schwedische Konzern eine Zeit lang sogar, ein eigenes algerisches Personal auszubilden, das sich mit den geläufigsten technischen Problemen auskennen sollte. Doch die Funktionäre, die nach Schweden geschickt wurden, hatten vor allem im Sinne, während der paar Woche Aufenthalts von dem gigantischen Unterschied der Lebensverhältnisse zu profitieren - und verpassten ihr Geld in vollen Zügen, bevor sie, genau so klug wie zuvor, nach Hause fuhren.
In den 70er Jahren hatte sich Algerien im Vertrauen auf die Erfolge seiner Industrialisierungs- und Entwicklungspolitik verschuldet. Doch als in den Jahren 1985/86 der Rohölpreis auf den Weltmärkten in den Keller sank, wurde es mit der Rückzahlung zunehmend schwer. Und da zugleich die in Fremdwährung vereinbarten Schuld- und Zinsbeträge - namentlich wegen des damaligen hohen Dollarkurses - gegenüber dem sinkenden Wert des algerischen Dinar ins Unermessliche kletterten, saß Algerien nun vollends in der "Schuldenfalle". Nunmehr konnten westliche Gläubigerstaaten und internationale Finanzinstitutionen dem Land seine Wirtschaftspolitik weitgehend diktieren, was sie vor allem seit den frühen neunziger Jahren auch ausgiebig taten. Zu den "Vorschriften" gehörte vor allen Dingen, die bisherigen Versuche einer eigenständigen, staatlich eingeleiteten Industrialisierungs- und Entwicklungspolitik ein für allemal aufzugeben.
Heute ist Algerien auf den meisten Gebieten extrem importabhängig. Finanzieren kann es seine Bedürfnisse überhaupt nur dank des mächtigen "Motors" seiner Ökonomie, der Öl- und Gasförderung, die über 97 Prozent der Deviseneinnahmen des Landes einbringt. Doch selbstverständlich wuchsen die europäischen und nordamerikanischen Begehrlichkeiten, einen Fuß auch in diesen Sektor zu bekommen.
Widerstände gegen die "Preisgabe des Herzstücks" der algerischen Ökonomie
Ein Teil der ehemals staatssozialistischen Eliten Algeriens leistete noch bis vor kurzem heftige Widerstände dagegen, dieses "Herzstück" der algerischen Ökonomie für ausländische Wirtschaftsinteressen zu öffnen. Im März 2001 und im Februar 2003 legten überdies Generalstreiks gegen die Öffnung der Ölindustrie die allermeisten Wirtschaftszweige des Landes lahm.
Doch der Druck der westlichen Gläubigerstaaten und "Wirtschaftspartner" war letztendlich stärker. Algerien will in den kommenden Monaten der Welthandelsorganisation (WTO) beitreten, wofür es die Unterstützung westlicher Wirtschaftsmächte benötigt und insbesondere der USA, die in dem Ausschuss von 40 WTO-Mitgliedsländern, der mit Algerien verhandelt, Ton angebend sind.
Viele Abgeordnete der heutigen Nationalen Befreiungsfront (FLN), die nicht mehr (wie vor 1988) die Staats- und Einheitspartei bildet, aber der jetzigen Regierungskoalition angehört, blieben im März der Abstimmung fern. Aus ihrer Sicht stellt der Beschluss einen gravierenden Bruch in der Geschichte der Befreiungsfront dar, die einstmals den antikolonialen Befreiungskrieg gegen Frankreich organisierte, bevor sie nach der Unabhängigkeit von 1962 die politische Führung übernahm. Zwar hat die FLN den ehemaligen staatssozialistischen Zielen längst abgeschworen, doch gibt es in den Reihen der Partei noch erhebliche Vorbehalte gegen eine vollständige Demontage des früheren Gesellschaftsmodells. Doch nachdem zahlreiche FLN-Parlamentarier die Parlamentsdebatte "geschwänzt" hatten, wurden sie kurz vor der entscheidenden Abstimmung durch die Parteiführung ermahnt: Wer nicht mit abstimme, brauche sich keine Hoffnung zu machen, für die nächsten Wahlen wieder aufgestellt zu werden. Die Drohung wirkte, auch wenn mehrere Dutzend Abgeordnete sich vor dem Votum krank meldeten.
Die algerische Tageszeitung La Tribune zitiert Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika mit den Worten, die politische Führung habe das Gesetz nicht frohen Herzens angenommen, "es ist uns aufgezwungen worden". Nach Informationen der linkspopulistischen "Arbeiterpartei" PT, deren 20 Abgeordnete im Parlament als einzige gegen das neue Erdölgesetz stimmten, ist der Entwurf "von A bis Z durch eine Kanzlei in New York" formuliert worden. Deswegen, so fährt die Partei der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Louisa Hanoune fort, sei auch erklärlich, dass die Abgeordneten keinen einzigen Buchstaben an der Vorlage verändern durften. Sogar der PT-Antrag, in dem Gesetz festzuschreiben, dass künftig zumindest die staatliche Erdölgesellschaft Sonatrach die nunmehr private Konkurrenz auf ihrem Tätigkeitsfeld bekommen wird nicht privatisiert werden dürfe, wurde abgeschmettert. Dabei hatten Präsident Bouteflika und Energieminister Chakib Khelil in mündlichen Äußerungen stets hoch und heilig versichert, eine Privatisierung der Sonatrach komme nicht in Betracht.
Minister Khelil dementierte, dass der Gesetzentwurf aus einer New Yorker Kanzlei stamme, und behauptete, er sei durch algerische Experten formuliert worden. Khelil arbeitete von 1980 bis 1999 bei der Weltbank in Washington, zuletzt als Abteilungsleiter für den Energiesektor in Lateinamerika. Nach seiner ersten Wahl im April 1999 wurde er durch Präsident Bouteflika als Berater nach Algier geholt und kurz darauf zum Minister ernannt. Man braucht keine böswilligen Unterstellungen zu betreiben, um Khelil große Nähe zu US-amerikanischen und internationalen Firmen zu unterstellen.
Konsequenzen für die Bürger
Nach Angaben der Tageszeitung Liberté, die ansonsten Privatisierungen im allgemeinen eher befürwortet, wird die erste Konsequenz des neuen Gesetzes für die algerische Bevölkerung aus einer Erhöhung der Energiepreise bestehen. Die Zeitung zitierte die Artikel 9 und 10 des Loi sur les hydrocarbures (Gesetz über die Kohlenwasserstoffe). Diesen Bestimmungen zufolge sollen die Preise für Haushaltsgas, Strom und Benzin sowie Diesel künftig nicht mehr durch die Regierung die immerhin noch für politischen Druck anfällig ist festgelegt werden, sondern durch eine speziell eingerichtete "Regulierungsbehörde". Die neue Behörde soll sowohl die Interessen der staatlichen Sonatrach als auch der künftigen privaten Investoren vertreten und gegeneinander abwägen. Die beiden Gesetzesparagraphen schreiben ihr vor, die Energie- und Treibstoffpreise künftig in einer Weise festzulegen, die eine Rentabilisierung der durch private Unternehmen getätigten Investitionen erlaubt. Liberté setzt hinzu: "Die Regierung scheint keine Garantien für die Kaufkraft der Bürger abgegeben zu haben."
Assoziierungsabkommen mit der EU
Kurz zuvor, am 14. März, wurde auch das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vom Parlament in Algier ratifiziert, das ebenfalls eine weitgehende "Liberalisierung" der algerischen Ökonomie und Marktöffnung vorschreibt. In seinem Artikel 61 sieht der Assoziierungsvertrag auch eine Liberalisierung des Energiesektors vor, was in offenkundigem Zusammenhang mit dem jetzt verabschiedeten Gesetz steht.
Natürlich ist bei so etwas immer viel die Rede von Völkerverständigung, Dialog der Kulturen und gegenseitigem Nutzen. Und natürlich darf auch die Beschwörung der Menschenrechte nicht zu kurz kommen. Aber die Fakten sprechen eine andere Sprache, in der nur solche Vokabeln wie "Absatzmärkte", "Marktbeherrschung" und "Durchsetzung des wirtschaftlich Stärkeren" vorkommen.
Der Assoziierungsvertrag war im April 2002 im spanischen Valencia unterzeichnet worden. Inzwischen ist er durch Algerien und 14 von 15 damaligen EU-Mitgliedern auf parlamentarischem Wege ratifiziert worden; die erst nach 2002 neu beigetretenen Mitgliedsländern brauchen dies nicht zu tun, da der Vertrag für sie zum acquis communautaire (erworbenen Gemeinschaftsrecht) zählt. Nur die Niederlande müssen das Assoziierungsabkommen jetzt noch ratifizieren, damit es in Kraft tritt.
Das Abkommen gehorcht der Logik bilateraler Verträge zwischen der EU als Block und jeweils einem nordafrikanischen oder nahöstlichen Staat, von denen mehrere im Rahmen des so genannten "Barcelona-Prozesses" geschlossen wurden. Im November 1995 fand in der spanischen Stadt eine "Konferenz für eine neue Partnerschaft zwischen Europa und den Mittelmeerländern" statt.
Im darauf folgenden Jahr wurden die ersten Einzelverträge mit Marokko und Tunesien abgeschlossen, in denen das Ziel der Errichtung einer Freihandelszone zwischen der EU und diesen Ländern bis im Jahr 2010 festgeschrieben wird. Dazu sollen Handels- und Konkurrenzhindernisse beseitigt und die Märkte geöffnet werden. Da damit jedoch keinerlei "Süd-Süd-Integration" im Sinne einer gegenseitigen Durchdringung der Ökonomien im Maghreb, sondern eine einseitige Orientierung auf die Märkte im Norden einher geht, wird jedoch von vielen Beobachtern auf die Dauer eine verstärkte Abhängigkeit dieser Länder befürchtet. Tunesien wickelt derzeit 70 Prozent seines Außenhandels mit der EU ab und, nach offiziellen Zahlen, nur 2 Prozent mit seinem größten unmittelbaren Nachbarn: Algerien.
Auf vielen Sektoren wird sich die vorhandene Industrie dieser Länder als nicht konkurrenzfähig erweisen und von der Bildfläche verschwinden - während eine Konzentration der verbleibenden Wirtschaftskraft dieser Länder auf einige "Nischen" stattfinden wird. Also auf Produkte oder Dienstleistungen, für die, mitunter nur vorübergehend, ein Bedarf auf den europäischen Märkten besteht. So konzentrierte sich Tunesien in den letzten Jahren, neben dem Tourismus, stark auf die Textil- sowie die Automobil-Zuliefererindustrie.
Die Textilherstellung des Landes ist jedoch akut bedroht, seitdem zum Jahreswechsel 2004/05 das internationale Multifaserabkommen auslief und nunmehr die gigantische Textilindustrie der VR China die internationalen Märkte mit preisgünstigen Erzeugnissen zu überschwemmen droht. Und auch die Herstellung von Elektronikbauteilen droht durch eine billigere asiatische Konkurrenz in den Schatten gestellt zu werden. Derzeit sagt selbst die Weltbank, die üblicherweise sehr vom Freihandel und dem Abbau von Konkurrenzhindernissen begeistert ist, Tunesien den Verlust von mindestens 100.000 Arbeitsplätzen in den kommenden Jahren bevor. Aber die Öffnung des tunesischen Binnenmarkts hat derzeit erst begonnen, und soll jetzt bis 2010 verwirklicht werden.
Ähnlich sieht auch der bilaterale Vertrag zwischen der EU und Algerien die vollständige Liberalisierung des algerischen Marktes bei Ein- und Ausfuhren, sowie eine beschränkte Öffnung der EU für algerische Exporte vor. Der Abbau von Handels- und Konkurrenzhemmnissen sowie Zollschranken soll in zwei Jahren beginnen. Bis in zwölf Jahren, also bis 2017, soll der Zugang zum algerischen Markt vollkommen frei sein.
Die Tageszeitung La Tribune zitiert den EU-Botschafter in Algier, Lucio Guerrato, mit den Worten: "Die algerischen Wirtschaftsakteure werden damit (neben den europäischen) auf eine Autobahn gesetzt, von der es keine Ausfahrt gibt."
Der algerische Außenminister Abdelaziz Belkhadem äußerte sich anlässlich der Ratifizierung des Abkommens mit der EU beruhigt, oder jedenfalls beruhigend gegenüber seinen Landsleuten: Die Auswirkungen auf die algerischen Ökonomie würden sich "erst ab 2017" bemerkbar machen - und bis dahin habe die Wirtschaft des Landes reichlich Zeit, sich zu modernisieren und konkurrenzfähig zu machen. Aber dem Text des Abkommens zufolge beginnt der Abbau von Schutzvorrichtungen für die einheimische Produktion bereits zwei Jahre nach Inkrafttreten des Assoziierungsvertrags. Belkhadem hatte in den Reihen der mit regierenden Nationalen Befreiungsfront (FLN) früher selbst gegen das Abkommen opponiert.
Und jetzt auch das Trinkwasser...
Im algerischen Parlament hat zudem noch die Debatte über die Privatisierung des Trinkwassers begonnen: Das neue Wassergesetz sieht in seinen Paragraphen 100 und 103 die Möglichkeit vor, private Konzerne mit der Wasserversorgung der Bevölkerung zu betrauen. Der französische Vivendi-Konzern sitzt bereits auf den Rängen, um sich in den Sektor einzukaufen.
Das allgemeine Fazit lässt sich kurz halten: Was von der Souveränität des Landes letztendlich übrig bleiben wird, ist derzeit eine offene Frage.