Algerien: "Lottogewinn in einer finsteren Umgebung"
Die Massenproteste gegen das System haben politische Erfolge. Manchen ist aber auch bange. Nordafrika hat viele Pulverfässer
Der nächste Rücktritt in Algerien: Gestern war es der Präsident des Verfassungsrates, Belaiz, der von seinem Posten zurücktrat. Damit ist das erste der drei "Bs" weg, die auf den Bannern der Demonstranten stehen, die anderen zwei Bs stehen für den Interimspräsidenten Abdelkader Bensalah und den Ministerpräsidenten Noureddine Bedoui. Die drei Namen stehen für ein System, das zu entfernen, plakatiertes Ziel der Proteste ist. Sie sind mit dem alten Präsidenten Bouteflika verbunden, der am Abend des 2. April seinen Rücktritt erklärte.
Der "zivile Ungehorsam" zieht Kreise
Die Demonstranten feierten auf den Straßen. Gestern waren es Studenten, "die Lokomotive der Bewegung". Heute mobilisieren Gewerkschaften und Anwälte. Wie so oft seit dem 22. Februar dieses Jahres, seitdem die Proteste in Algerien eine Dimension erreicht haben, dass man sie als "historisch" bezeichnet (lesenswerter Hintergrund hier), berichtet TSA-Algérie mit einem Live-Blog von den Geschehnissen, die weiterhin von einem pazifistischen Charakter geprägt sind.
Das war nach den ersten deutlich repressiven Maßnahmen der Ordnungsmächte in der letzten Woche und bei Massenprotesten am vergangenen Freitag nicht unbedingt zu erwarten. Mittlerweile zeigen sich auch andere Zeichen des "zivilen Ungehorsams": Bürgermeister weigern sich, Vorbereitungen für die anstehende Wahl am 4. Juli zu treffen, Parteien und Oppositionspolitiker erklären, dass sie die Wahl boykottieren.
Die Macht in Algerien ist in einem eigenartigen Aggregatszustand, flüssig, wie es die Rücktritte und Seitenwechsel der Elitemitglieder der letzten Wochen zeigten, zum Teil gasförmig - manche Forderungen wie etwa nach einer neuen Republik scheinen derzeit noch als ziemlich "luftig" - und vereist: Die Macht der alten Entscheider im Hintergrund bleibt ein bestimmender Faktor, zumal auch die internationale Gemeinschaft daran interessiert ist, dass Algerien nicht in die Instabilität kippt und ganz Nordafrika zu einer noch größeren Risikozone macht.
Man muss nur auf das Nachbarland Libyen schauen und auf die Präsenz der al-Qaida, des IS und anderer extremistischer Gruppen in Nordafrika, auf die Kämpfe, Anschläge und volatilen Verhältnisse in der Sahelzone, um sich auszumalen, welche Pulverfässer hier bereit stehen.
Drei Machtzentren
Die Macht im Hintergrund Algeriens wird in drei Machtzentren unterteilt: Das Lager um den Präsidenten Bouteflika - trotz Rücktritt gibt es da noch zwei Brüder, Said und Nacer, die mitmischen sowie die Seilschaften bzw. Vertrauten. Dass sie noch politisches Gewicht haben, zeigt sich zum Beispiel daran, dass der Übergangspräsident Abdelkader Bensalah aus ihren Reihen stammt. Die anderen beiden Machtzentren bilden die Armee und die Geheimdienste (Droht in Algerien die Machtübernahme der "Dienste"?).
Die Schlüsselfigur, die sich hier prominent hervortut, ist der Chef des Generalstabs und Vizeverteidigungsminister Ahmed Gaïd-Salah, der zuletzt auch versuchte, die Geheimdienste unter seine Fittiche zu nehmen. Inwieweit ihm das tatsächlich gelungen ist, wie groß seine reale Macht über die Direction des services de sécurité (DSS) ist, ist von außen nicht zu beurteilen. Überraschungen sind immer möglich.
Der Armeechef
Gaïd-Salahs Position gegenüber den Massenprotesten ist "volatil", opportunistisch, so der Eindruck. Anfangs sprach er sich deutlich gegen die Demonstrationen aus und warnte, dann nahm er dies wieder zurück, um später erneut vor Instabilität und einer möglichen Unterwanderung zu warnen, schließlich stellte er sich wieder hinter die Proteste, deren Ausmaß unübersehbar nicht auf eine Teilmenge der algerischen Bevölkerung reduziert werden kann und die gleichfalls unübersehbar, sehr diszipliniert auf ein friedliches, ziviles, demokratisches Auftreten setzen.
Gestern äußerte er sich erneut. Seine Aussagen werden als Rückendeckung der Proteste verstanden, sie sind allerdings so formuliert, dass sie sehr viel Spielraum lassen. Zitiert wird zum einen sein Ausspruch, wonach "alle Perspektiven offen sind", zum anderen, dass die Armee darauf aufpasse, "dass kein Blut der Algerier vergossen wird". Er sprach auch davon, dass die Situation nicht länger fortdauern könne, dass "die Zeit gezählt ist".
Das sind, wie nicht weiter erklärt werden muss, Aussagen, die in jede Richtung interpretiert werden können. In Berichten, die viel Sympathie für die Proteste haben - und wer sollte sich dem verschließen, wenn Millionen in einer derartigen Form ein gerechteres politisches System fordern, nach zwanzig Jahren unter einer undurchdringlichen, abgesonderten Macht -, wird daraus geschlossen, dass sich der Armeechef auch einem anderen Übergangsprozedere offen gegenüber steht als dem bisher gültigen. Genau das wollen die Proteste.
Sie wollen eine andere Übergangsregierung, wo auch Vertreter aus ihren Reihen beteiligt werden, und sie wollen eine grundlegende Reform des Systems, mit neuer Verfassung und einer neuen Republik. Bislang wehrt sich das alte System natürlich dagegen. Ob der bald 80-jährige Generalstabschef, der auch zur alten Riege gehört und ein enger Vertrauter Bouteflikas war (der sich allerdings rechtzeitig gegen ihn stellte), Partei für eine tiefgreifende Transformation Algeriens nehmen wird, ist noch nicht absehbar. Er entscheidet, wie erwähnt, nach Opportunitäten.
Die können auch gegen die Demonstrationen und die Forderung nach einer neuen Republik kippen. Es gibt eine Menge Faktoren, die dann für eine Konsolidierung der Macht sprechen; Algerien ist zu wichtig, als dass auswärtige Mächte dem ruhig zuschauen würden.
Welche Rolle spielen Islamisten?
Anhand der Proteste in arabischen Ländern im Jahr 2011 gibt es auch Bedenken, dass die Entfernung der alten Macht Islamisten begünstigen könnte, gerade angesichts des Bürgerkriegs in Algerien in den 1990er Jahren, bei dem Islamisten eine wesentliche Rolle spielten, ist die Sorge dort besonders wach.
Die Einschätzung von Experten, wie zum Beispiel Isabelle Werenfels von der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin, sind durchaus ambivalent. So sagt Werenfels gegenüber der Schweizer NZZ:
Eine islamistische Machtübernahme erscheint mir kurzfristig unwahrscheinlich. Zudem habe ich das Gefühl, dass die Gesellschaft durch den Bürgerkrieg gegen alles geimpft ist, was zu radikal auftritt. Die dominante Armee dürfte versuchen, bei solchen Tendenzen gegenzusteuern. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass freie Parlamentswahlen eine starke islamistische Kraft hervorbringen.
Isabelle Werenfels
Zwar hätten die islamistischen Parteien seit dem Bürgerkrieg alles dafür getan, um sehr moderat zu erscheinen und sich "besonders seit den Ereignissen in Ägypten im Jahr 2013, als die Armee dort den Muslimbruder Mursi stürzte", "sehr unauffällig verhalten und versucht, keine Ängste zu schüren", darüber hinaus sei keine der islamistischen Parteien in Algerien "auch nur ansatzweise" so stark wie in Marokko, Tunesien oder Ägypten, und die Protestbewegung sei derzeit überhaupt nicht islamistisch geprägt, aber ganz eindeutig ist die Lage anscheinend auch nicht:
Islamisten markieren Präsenz in Jugendorganisationen oder Studentenbewegungen. Und es scheint seit einigen Jahren einen erstarkenden Konservatismus in Algerien zu geben. Man merkt das etwa im Erscheinungsbild: Männer mit langen Bärten, die ganz offen salafistisch sind, oder Frauen mit Nikab - das sah man nach dem Bürgerkrieg kaum. Ich höre von Bekannten auch, dass es einen gewissen sozialen Druck gibt, in die Moschee zu gehen. Gleichzeitig gibt es, gerade in Teilen der jungen Generation, auch eine Ablehnung des Konservatismus.
Isabelle Werenfels
Angst vor Vereinnahmungen
Am Freitag wird es zu den nächsten großen Mobilisierungen kommen. So viel gilt als sicher. Manchen ist aber auch etwas bange. So hat der algerische Schriftsteller Kamel Daoud ein Bild gefunden, das seine Freude über das Aufwachen der Algerier beschreibt, aber auch die Sorge, aus der Erfahrungen der letzten Jahre sprechen.
Er vergleicht die Situation mit einem Lottogewinn in einer finsteren Nachbarschaft. "Ich erlebe den Moment als etwas, das außergewöhnlich ist, aber mit extremer Angst. So wie wenn man einen Lottogewinn gemacht hat, aber im falschen Wohnviertel lebt. Du bist glücklich, fürchtest aber, dass dich jemand ausrauben wird."