"All das geschieht mitten unter uns"
16.000 Fälle sexualisierter Gewalt an Kindern wurden 2019 von der Polizei registriert - doch eine öffentliche Debatte bleibt bislang aus
Letzte Woche sorgte ein Fall im westfälischen Münster für Schlagzeilen: Zwei Männer hatten dort in einer Laube in einem Schrebergarten über Stunden zwei Jungen vergewaltigt und davon Videoaufnahmen gemacht. Das ist nur die Spitze des Eisbergs, sowohl was den Fall in Münster im Speziellen angeht als auch das Thema sexualisierte Folter an Kindern generell. Sebastian Fiedler, Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, fordert eine öffentliche Debatte, "die schmerzt", und die Umsetzung verschiedener Forderungen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen.
Die Fakten bezüglich des Falles in Münster sind schnell erzählt, das dahinterstehende Martyrium zu artikulieren, dem die Jungen ausgesetzt waren und unter dem sie vermutlich lebenslang leiden werden, dafür fehlt es schlicht an Worten. Der Fall Münster ist einerseits außergewöhnlich, weil er einer von wenigen Fällen ist, auf den die Beamten nicht durch Ermittlungen in den USA oder Kanada aufmerksam wurden, sondern aufgrund der eigenen kriminalistischen Arbeit.
Andererseits ist er symptomatisch für dieses Kriminalitätsfeld: Die männlichen Täter kommen aus dem nächsten Umfeld der ebenfalls männlichen Opfer, sie werden vermutlich von weiblichen Angehörigen gedeckt, die Taten werden gefilmt, das Videomaterial wird im Darknet gehandelt. Mindestens einer der Täter ist einschlägig bekannt und vorbestraft, er befindet sich aufgrund seiner "Neigung" in therapeutischer Behandlung.
Nachdem der Fall bekannt wurde, kommt heraus, dass weitere Vorfälle am Ort des Geschehens bereits der Polizei gemeldet wurden. Die Ermittler befürchten, dass noch weitere Kinder betroffen sein könnten. Die Opfer sind zwischen fünf und zwölf Jahre alt, gebrochene Kinderseelen, verraten und verkauft, zumindest in einem Fall von der eigenen Mutter.
Sexualisierte Folter gegen Kinder: Ein zeitgenössisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit
16.000 registrierte Fälle sexualisierte Gewalt gegen Kinder weise die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2019 auf, erläuterte Sebastian Fiedler am vergangenen Dienstag in der ZDF-Sendung "Markus Lanz". Das seien 43 pro Tag, allerdings ohne das Dunkelfeld, so dass von weit über 100 Fällen pro Tag ausgegangen werden müsse.
Betroffene sind Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder und Jugendliche, mittlerweile werden Sebastian Fiedler zufolge sogar schon Kinder gezeugt, in der Absicht, ihnen sexualisierte Gewalt anzutun. Die Kinder und Jugendlichen werden häufig sediert, penetriert, ihnen werden Gegenstände in verfügbare Körperöffnungen geschoben, von nahen Verwandten, den eigenen Vätern, häufig den Stiefvätern, sie werden an Außenstehende quasi zur freien Verfügung vermittelt. Nicht selten mit Wissen der Mütter.
Die Opfer sind laut des Experten und pensionierten Kriminalkommissars Manfred Paulus gleichermaßen Jungen wie Mädchen, die Täterinnen und Täter kommen aus dem nächsten Umfeld der Kinder. Zwar werden die aktiven Handlungen fast ausschließlich von Männern vollzogen, Frauen stellen dafür z. T. die eigenen Kinder zur Verfügung, beispielsweise um den neuen Partner an sich zu binden, und sind im internationalen Netzwerk in Sachen Marketing, sprich Vermarktung der eigenen Kinder an Folterknechte, und der Logistik aktiv.
Im den Münsteraner Fall soll die Mutter des Hauptverdächtigen, der die Gartenlaube gehört, gewusst haben, was sich darin abspielt. Einer der betroffenen Jungen ist der Sohn der Lebensgefährtin des Hauptverdächtigen, die seit 2018 gewusst haben soll, was ihrem Sohn angetan wird.
Der 27-jährige Hauptverdächtige wurde bereits zweimal von einem Jugendschöffengericht zu jeweils zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt und soll sich laut Sebastian Fiedler in therapeutischer Behandlung befinden. Mit anderen Worten: Von frühester Jugend an ist er eine Gefahr für diese Gesellschaft und, statt Kinder als potentielle Opfer vor ihm zu schützen, indem er aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, kann er sozusagen betreut seine Verbrechen fortsetzen.
Sebastian Fiedler und auch der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) fordern Strafverschärfung. "Es kann doch nicht sein, dass so etwas behandelt wird wie Ladendiebstahl," wird Herbert Reul von rp-online zitiert.
Fiedler fordert zudem eine zentrale Stelle für Kinderschutz in jedem Bundesland, "eine Telefonnummer, eine Emailadresse", hinter der jeweils ein Team von Expertinnen und Experten aus allen relevanten Teilen stehe und an die sich beispielweise Erzieherinnen oder Lehrer im Verdachtsfalle wenden könnten.
Der BKA-Experte sieht eine enge Verknüpfung der sexualisierten Gewalt gegen Kinder mit Gewalt gegen diese ganz allgemein. Es müssten Maßnahmen getroffen werden, um diese Fälle nachvollziehbarer zu machen. Dazu gehöre, dass Kinderärztinnen und -ärzte die Möglichkeit bekommen, sich im Verdachtsfalle mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen, betonte er bei Lanz.
Viele gewalttätige Eltern betrieben sogenanntes Doktor-Hopping: Um zu verschleiern, dass das Kind Opfer häuslicher und/odersexualisierter Gewalt sei, würde immer eine andere Praxis aufgesucht. Sexualisierte Gewalt und Kindesmisshandlung seien ärztliche Diagnoseschlüssel. Um aber eine sichere Diagnose stellen zu können, müsste der gesamte Krankheitsverlauf des Kindes bekannt sein. Das sei indes unmöglich, wenn immer eine andere Praxis aufgesucht würde und die behandelnden Fachärztinnen und -ärzte nicht voneinander und der vorhergehenden Behandlung wissen.
In Zeiten der weltweiten Vernetzung durch das Internet und dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten hat sexualisierte Folter an Kindern inzwischen pandemische Ausmaße angenommen. Mehr als 100 vermutete Fälle pro Tag allein in Deutschland lassen darauf schließen, dass wir es mit einem zeitgenössischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tun haben. Die Folgen dieser Verbrechen werden wir erst in vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten zu spüren bekommen.
Die Delikte reichen vom Anschauen von Bildern von Kindern und Jugendlichen, häufig unbekleidet, sogenannter Posings, bis hin zu brutaler Gewalt, die den Kindern angetan und die verfilmt wird. Zum Teil sind sie Opfer interaktiver Gewalttaten per Webcam. Das heißt, an einem Bildschirm sitzt eine erwachsene Person, meistens ein Mann, der einer anderen erwachsenen Person per Internet Anweisungen erteilt, wie das jeweilige Opfer zu quälen ist. Die andere Person führt die Handlungen aus und die erste Person ergötzt sich per Webcam daran.
Dieser Form der sexualisierten Folter sind somit keine Grenzen gesetzt. Es ist dabei egal, ob die beiden Täter unmittelbare Nachbarn sind oder einer von beiden in Münster vor seiner Webcam sitzt und ein anderer beispielsweise in Asien die Taten vor laufender Kamera ausführt - oder umgekehrt.
Der Fall Edathy
Sebastian Fiedler wies in der Sendung von Markus Lanz daraufhin, dass die Ermittlungen häufig von den USA oder Kanada ausgingen. Ein solcher Fall ist der des ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy. 2014 geriet er ins Visier der Fahnder im Rahmen von Ermittlungen gegen einen kanadischen Kinderporno-Händlerring.
2015 wurde das Verfahren gegen Edathy vom Landgericht Verden gegen eine Zahlung von 5.000 Euro eingestellt. Die Fotos, die sich auf seinem Rechner befanden - was er durch seinen Anwalt während des Verfahrens einräumte -, gelten nicht als strafrelevant. Dabei handelt es sich um besagte "Posings", nackte männliche Jugendliche, an denen keine sexuellen Handlungen vorgenommen wurden (ausführlich zum Fall Edathy: Alles andere als "harmlos"; SOKO Braunlicht).
Deshalb gilt ihr Besitz als Kavaliersdelikt und in einem Gentlemen's Agreement einigte man sich auf Straffreiheit - unabhängig von Edathy. Aber im Fall genau dieser Fotos lässt sich nachweisen, dass auch diese als "harmlos" geltenden Aufnahmen drastische Konsequenzen für die betroffenen Jugendlichen haben. Der Kinderschutzbund fordert schon lange, auch den Besitz solcher Fotos unter Strafe zu stellen.
Doch die Geschichte hinter diesen als harmlos geltenden Fotos zeigt, dass sie für die Betroffenen alles andere als harmlos sind. Der Fall Edathy weist zudem darauf hin, wo die Kunden der Pornoringe und die Freier von prostituierten Kindern und Jugendlichen auch zu finden sind: in den obersten Etagen von Politik, Justiz, Polizei und Wirtschaft.
Birgit Gärtner, SOKO Braunlicht