Alle Wege führen nach Tschetschenien

Deutsche Gerichte schieben gnadenlos ab, in ein Land, in dem es keine Hoffnung gibt

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Er hat sich gewehrt, bis zuletzt, aber genutzt hat es ihm nichts. Am 8. Februar wurde der fünfundzwanzigjährige Tschetschene Ali Sambulatow (Name v. d. Redaktion geändert) nach Russland abgeschoben, an Händen und Füßen gefesselt. Es ist die dritte Abschiebung eines Tschetschenen innerhalb weniger Wochen und es werden wohl weitere folgen. Denn egal, wie desaströs die Lage in der Kaukasus-Republik ist, deutsche Gerichte und auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lassen sich davon nur selten beeindrucken.

Menschenrechtsorganisationen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV beobachten diese Entwicklung schon lange mit Sorge: „Tschetschenen haben in Deutschland eigentlich keinen Schutz mehr“, erklärt Sarah Reinke, bei der GfbV zuständig für Osteuropa. „Gleichgültig, ob ein Asylbewerber Misshandlung nachweisen kann, ob er krank ist oder ob er auf der Seite von Aslan Maschadow stand: Die Gerichte und das Bundesamt finden immer Argumente, mit denen sie Bewerber ablehnen können. In der Regel berufen sie sich auf die inländische Fluchtalternative. D. h. sie gehen davon aus, dass die Tschetschenen, als Bürger der Russischen Föderation, sich ja auch außerhalb der Kaukasus-Republik niederlassen können. Einzig Berlin schiebt nicht ab und manchmal gibt es Gerichte, die anders urteilen, aber das sind Einzelfälle.“

Im Teufelskreis der Behörden

Laut Reinke lesen sich die Ablehnungen von Gerichten und Bundesamt zunehmend so, als fahnde man dort gezielt nach Argumenten, die Leute zurückzuschieben. Nach Gründen, warum sie hier schutzbedürftig sein könnten, sucht man nicht. Sitzen sie erst einmal im Flieger, lässt sich das weitere Schicksal der Abgeschobenen meist kurz zusammenfassen: Sie werden entweder gleich am Flughafen in Gewahrsam genommen und in Lager verfrachtet, oder sie landen in Tschetschenien, ebenfalls in Lagern, wo sie dann, wenn sie Glück haben, von ihren Angehörigen freigekauft werden. Manche verschwinden auf Nimmerwiedersehen.

Durch einen glücklichen Zufall, so muss man wohl sagen, wurde Sambulatow am Moskauer Flughafen nicht sofort von Sicherheitskräften in Empfang genommen. Eine Garantie für eine Zukunftsperspektive ist das freilich nicht. „Auch die russischen Menschenrechtsorganisationen können in solchen Fällen wenig ausrichten“, erklärt Reinke. „Sie sind nicht so vernetzt wie hier und noch stärker unterfinanziert. Man kann also nicht abschieben in der Hoffnung, dass sich dort schon jemand kümmern wird.“

Auch wer nicht direkt nach Tschetschenien weiter geschoben wird, landet zwangsläufig dort. Denn wer sich in der Russischen Föderation niederlassen will, muss sich an seinem Wohnort registrieren lassen, um der sozialen Grundversorgung teilzunehmen, dafür fehlen den meisten Tschetschenen die entsprechenden Dokumente, insbesondere neue Pässe, die sie sich nur in Tschetschenien ausstellen lassen können. Außerdem haben die meisten Flüchtlinge ihre Verwandten in Tschetschenien.

Endstation Polen

Zunehmend beschäftigen die Gesellschaft für bedrohte Völker auch so genannte Dublin 2-Fälle. Das sind die tschetschenischen Flüchtlinge, die über Polen nach Deutschland einreisen, seit Polen dem Schengenabkommen beigetreten ist. Sie werden in der Regel sofort nach Polen zurückgeschoben und dort bleiben sie erst mal. Während sich in Deutschland etwa 7.000 Tschetschenen aufhalten, sind es in Polen bereits 10.000, schätzt Reinke. Ihre Zahl hat sich seit dem EU-Beitritt Polens im vergangenen Mai sprunghaft erhöht.

Sie haben dort zwar die Sicherheit, nicht abgeschoben zu werden, doch eine Zukunftsperspektive gibt es ebenfalls nicht. „Sie werden nicht weiter geschoben, aber sie bekommen auch keinen Status“, so Reinke. „Sie sitzen in Lagern und warten auf ihr Verfahren. Die Gesundheitsversorgung dort ist sehr viel schlechter als bei uns. Außerdem haben sich dort schon die ‚Kadyrowzy’, die gefürchtete ‚Leibgarde’ von Vizepremier Ramsan Kadyrow etabliert und setzen die Leute unter Druck.“

Kein Hoffnungsschimmer in Tschetschenien

Doch so ungewiss, dass Leben für die Tschetschenen in Ländern wie Deutschland und Polen ist, es ist immer noch besser als in der Heimat. Denn in Tschetschenien ist die Lage unverändert: Schwere Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, Folter und Misshandlungen, extralegale Tötungen, willkürliche Festnahmen und Verschwindenlassen sind an der Tagesordnung. Eine zentrale Rolle spielen dabei offenbar Vizepremier Ramsan Kadyrow und seine „Leibgarde“ und das so genannte Ölregiment, eine Sicherheitseinheit, die ehemals Teil des Sicherheitsdienstes des Tschetschenischen Präsidenten angegliedert war, und von Adam Delimchanow, einem Verwandten Kadyrows, angeführt wird (Bericht von Rudolf Bindig für die Parlamentarische Versammlung des Europarates.

Verheerend ist nach wie vor auch der gesundheitliche Zustand der Bevölkerung: Nach offiziellen Angaben des tschetschenischen Gesundheitsministeriums (Quelle: GfbV) kommt jedes zweite Neugeborene krank zur Welt, jedes fünfte Neugeborene leidet unter schweren gesundheitlichen Störungen. Die Zahl der Krebs- und Tuberkuloseerkrankungen steigt.

Nicht ohne Grund: Ein Drittel des Landes ist ökologisches Katastrophengebiet. An mehreren Orten tritt Radioaktivität frei aus. Dazu gehören die ehemalige Chemiefabrik in Grosny, wo sich nach Informationen der dortigen Staatsanwaltschaft eine „katastrophale radioaktive Situation entwickelt hat“, eine offene Mülldeponie außerhalb der Hauptstadt und das Endlager Rodon,15 Kilometer von Grosny entfernt, in dem ungesichert Atommüll aus dem Nordkaukasus und Russland gelagert wird.

Kehraus bei den Menschenrechtsorganisationen

Die Situation scheint ausweglos, nirgendwo ein Hoffnungsschimmer. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen bemühen sich, dem Elend etwas entgegenzusetzen, doch auch für sie wird der Handlungsspielraum immer enger. Ein neues Gesetz, das das russische Parlament Ende Dezember in 2. Lesung gebilligt hat, beschneidet ihre Rechte ganz erheblich.

Einige Opfer gibt es bereits: Darunter der Redakteur der Zeitung „Prawosaschtschita" Stanislaw Dmitrijewskij, der seit Ende November in Nischnij Nowgorod vor Gericht steht. Ihm wird „Volksverhetzung“ vorgeworfen, weil er einen offenen Brief des ehemaligen tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadows und seines Stellvertreters Achmed Sakajew abgedruckt hat. Vier Jahre Haft drohen ihm dafür. Signifikanterweise beruft man sich in diesem Prozess bereits auf das neue Gesetz. Dimitrijewski ist auch Geschäftsführer der Gesellschaft für Russisch-Tschetschenische Freundschaft, die sich, welche eine Zufall, derzeit gegen eine Anklage der Steuerbehörden wehren muss.

Der Internationalen Helsinki-Föderation in Russland wird unterstellt, sie werde vom englischen Geheimdienst unterstützt. Ein bodenloser Vorwurf, wenn man bedenkt, dass jeder Botschaft ein Budget zur Förderung von Projekten für das Land zur Verfügung steht, in dem sie aktiv ist. Ebenso wie jede Organisation Projekte beantragen kann, die in anderen Ländern durchgeführt werden. Mit Geheimdienst hat das nichts zu tun.

Doch so absurd die Vorwürfe auch sind: Mit ihnen kann man Organisationen herrlich unter Druck setzen. Man überzieht sie mit Prozessen, bis sie schließlich nur noch damit beschäftigt sind, Vorwürfe abzuwehren. Das lähmt ihre Aktivitäten, lässt sie finanziell bluten und gleichzeitig hat es noch einen Anstrich von Rechtsstaatlichkeit.