Alles für das Kindeswohl?

Die Aufarbeitung und die Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Kinder kommen nicht voran. Ein Rück- und Ausblick auf ein ungelöstes Gesellschaftsdrama

Ende März hat der Bundestag beschlossen, sexualisierte Gewalt gegen Kinder schärfer zu verfolgen und härter zu bestrafen. Denn: Die Zahl der Fälle nimmt zu, wobei die Täter – und auch Täterinnen – meist aus dem nahen Umfeld der Betroffenen stammen und, so die jüngste Bilanz in Telepolis, die Vertuschung und Verdrängung dieser Taten auf ein "gesamtgesellschaftliches Versagen" hinweisen.

Wenn es ums Versagen geht, gibt es seit Ende 2020, zehn Jahre nach dem Paukenschlag von 2010, wieder ein eindeutiges Datum, nämlich die Weigerung des Kölner Kardinals Woelki, das von ihm in Auftrag gegebene Missbrauchsgutachten zu veröffentlichen. Seitdem ist das Thema sexuelle Gewalt unterm Deckmantel frommer Vereine medial wieder in den Vordergrund gerückt.

Die Kommentare überschlugen sich mit Vorwürfen der Verharmlosung und Verniedlichung; die katholische Basis war fassungslos; und selbst die Presse, die dem katholischen Rheinland seit den Zeiten des Adenauer-Staates treuen Beistand leistet, fragte sich, "ob man nicht einmal intensiv über die staatsrechtliche Verankerung dieser Kirche diskutieren" sollte (General-Anzeiger, 19.3.21). Denn "sie wird offenkundig weder ihren eigenen Ansprüchen noch gesetzlichen Regelungen gerecht."

Neu entdeckt: Gewalt gegen Kinder

Eine seltsame Aufregung! Man fragt sich, ob nicht schon längst reiner Tisch gemacht ist. Schließlich unternahm vor elf Jahren der Direktor des Berliner Elitegymnasiums Canisius-Kolleg einen Vorstoß zur pädagogischen Vergangenheitsbewältigung, worauf eine Serie von Missbrauchsskandalen aufflog und nicht nur die katholische Kirche in Deutschland, sondern auch andere Einrichtungen (Reformpädagogik inklusive) und gängige Vorstellungen vom fortschrittlichen, dem Kindeswohl verpflichteten Charakter der Republik erschütterte.

Bundespräsident Steinmeier hat dem Ex-Schulleiter jetzt das Bundesverdienstkreuz verliehen und dazu aufgerufen, "sexuellen Missbrauch in Institutionen und Familien konsequenter zur Sprache zu bringen und aufzuarbeiten" (FAZ, 9.4.21). Trotz der vielen Initiativen, die sich um die Aufarbeitung bemühen, sei "es bisher nicht gelungen, die Ausmaße sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend nachhaltig zu reduzieren".

Damit erhielt natürlich die katholische Kirche einen Schuss vor den Bug, speziell das Erzbistum Köln, wo die mittlerweile veröffentlichten Gutachten zeigten, wie Vorgesetzte entsprechende Taten "jahrelang vertuscht" hätten. Man lernt, so Steinmeier, "wie unendlich mühselig es war und ist, diese Taten ans Licht zu bringen".

Als die Sache vor gut einem Jahrzehnt aufflog, war dasselbe Erschrecken schon da, das jetzt wieder quer durch Medien und politische Landschaft wortreich (und teilweise wortgleich) vorgetragen wird. Eigenartig, dass das Geschäft der Aufdeckung und Aufarbeitung, wie vom Staatsoberhaupt mitgeteilt, immer noch am Anfang steht.

So als hätte man gerade erst Einblick in solche Vorfälle erhalten, in die "Geschichte eines Eisbergs, dessen Spitze jetzt in Köln wieder", wie die FAZ schrieb (19.3.21), "sichtbar wurde", in dessen Untergrund also noch Unmassen einschlägiger Fälle der Aufklärung harren. Wobei die katholischen Laiengremien – dieser Seitenhieb fehlte im FAZ-Kommentar nicht – den Bischöfen lange die Stange hielten: Der Präsident des Zentralkomitees "wollte sogar jüngst von Aufklärungskommissionen ebenso wenig etwas wissen wie die Bischöfe immer schon" (FAZ).

Dabei ist das Thema der sexualisierten Gewalt gegenüber Kindern bereits Ende des 20. Jahrhunderts, seit der Verbreitung des Internets, zum medialen Renner geworden. Die angeblich neu entdeckte Monstrosität Kinderpornografie gab Anlass für weltweite Großrazzien fast im Stil der Terrorfahndung und für diverse Kampagnen zur öffentlichen Entrüstung, G8-Gipfel beschäftigten sich mehrfach damit; und während in früheren Jahrzehnten Misshandlung und Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen Aufregerthemen waren, kehrte an dieser Front, von spektakulären Einzelfällen abgesehen, Ruhe ein.

Nur die sexuelle Gefährdung der Jungen durch die Alten galt noch als ernsthaftes Problem. "Sex mit Kindern" wurde zum Inbegriff öffentlicher Sorge, und wenn spektakuläre Fälle medial auszuschlachten waren, konnte es schon einmal vorkommen (siehe den Fall Dutroux in Belgien), dass ganze Nationen aufgewühlt wurden, ja an den Rand der Staatskrise gerieten und Politologen etwa allen Ernstes im belgischen "weißen Marsch" das Modell einer neuen Bürgerbewegung entdecken wollten.

In der Folge wurden zunehmend kirchliche Fälle bekannt gemacht, was in den USA oder Irland zu einschneidenden juristischen Maßnahmen führte. Derartige Enthüllungen zu den Praktiken "seriöser" Erziehungsinstitutionen gab es auch immer wieder in Deutschland, sie zeigten aber keine größere Wirkung, bis sich das Blatt 2010 wendete. Und als die Sache ins Rollen kam, war auch – siehe z.B. den Fall des Bischofs Mixa – das stinknormale Gewaltthema wieder auf der Tagesordnung. Dass es um Gewaltverhältnisse geht, denen Kinder und Jugendliche in der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt sind, wurde gerade vom SZ-Redakteur Heribert Prantl betont (SZ, 10./11.4.10). In dem Blatt, das maßgeblich an den Mixa-Enthüllungen beteiligt war, erläuterte er die Brisanz der Gewaltfrage:

Darf der Vater sein achtjähriges Kind mit einem Hartgummischlauch verprügeln? Wer heute eine solche Frage stellt, gilt zu Recht als verdächtig. Der Vater darf natürlich nicht prügeln. Auch dann nicht, wenn das Kind die Brille des Vaters zertreten und sein Fernglas kaputtgemacht hat. Das ist heute allgemeine Meinung, und kaum jemand wird sich unterstehen, solche väterliche Raserei zu rechtfertigen. Der Bundesgerichtshof freilich hat noch 1988 "eine gelegentliche Tracht Prügel’ für zulässig erklärt. Die Züchtigung mit einem "stockähnlichen Gegenstand" sei, so sagten die fünf hohen Richter im genannten Fall, "nicht pauschal zu verdammen". Es müssten, so urteilten sie allen Ernstes, alle "objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens geprüft werden". Die Untaten des Kindes mussten also zur Dicke des Schlauches und der Zahl der Schläge ins Verhältnis gesetzt werden. So war es Recht - nein, nicht bis 1800, nicht bis 1900, sondern bis zur großen Rechtsänderung von 2000.

Prantl bilanzierte in seinem Artikel den mühsamen Fortschritt der westdeutschen Pädagogik weg vom Rohrstock und hin zum Gebot der Gewaltfreiheit – wie gesagt, nicht als Bewältigung einer längst vergangenen "schwarze Pädagogik", sondern mit Blick auf die aktuelle Lage. Er erinnerte etwa daran, dass es gerade einmal zwölf Jahre her sei, dass "körperliche und seelische Misshandlungen" in der Familie vom BGB für unzulässig erklärt wurden. Da war es nur konsequent, wenn der SZ-Artikel zu dem Resümee kam: "Die Eiszeit der Erziehung ist soeben erst zu Ende gegangen. Sie war eine Art Scharia im Westen."