Ally McBeal: Fernsehen für eine bessere Welt

Nachdem Serien etwas von der Realität gelernt haben wird es für die Realität Zeit, etwas von den Serien zu lernen.

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"In England," berichtet Marshall McLuhan, "wurde das Kino ursprünglich 'Bioscope' genannt, weil es die wirkliche Bewegung der Formen des Lebens visuell darstellte." Auf weniges, was man derzeit im Fernsehen oder auf der Leinwand sehen kann, scheint das mehr zuzutreffen als auf die amerikanische Anwaltsserie "Ally McBeal", die vor ein paar Wochen auch in Deutschland angelaufen ist.

Hauptfigur ist Ally Mc Beal, eine junge, hübsche Harvard-Anwältin in zu kurzem Rock, gespielt von Calista Flockhart, die zwischen Anwaltskanzlei, Gericht und der Suche nach einem Mann hin und her strauchelt. Ally übertreibt ständig, wird von ebenso übertriebenen, comicartigen Visionen begleitet, ist konstant unsicher, narzistisch und trotzdem mit sich unzufrieden und wird zu Beginn der Serie erstmal wegen sexueller Belästigung gezwungen, den Job zu verlassen. Dass diese durchgeknallte Serie, die noch dazu konstant einen eigenartigen, feministischen Blickwinkel verfolgt, ein absoluter Top-Hit in den States wird, konnte keiner ahnen, vielleicht. Wie immer jedoch in Amerika kündigte sich der Siegeszug, der die Serie noch heute zu einer der erfolgreichsten macht, im Internet an. Erste Fan-Pages tauchten auf, feministische Seminare an amerikanischen Universitäten folgten, um Serie und Fanpages zu untersuchen, John Katz, der schnellste aller Internetnasen, lieferte bereits ein halbes Jahr nach Start der Serie bei Hotwired eine ausführliche Analyse: "Deconstructing Ally".

Und in den schwerfälligeren Printmedien folgten Artikel in Zeitschriften, Tagespressedebatten und schließlich Coverstories auf mindestens der Hälfte aller relevanten US-Magazine. Ally McBeal begann die Welt zu erobern und mittlerweile verzeichnen die Suchmaschinen über 6 260 Matches. Was war geschehen? Und mit einer Frauenserie?

Offizielle Ally McBeal-Site

Die neue Realität des Fernsehens

Es ist zunächst (wie könnte es anders sein) ein Mann, und zwar der von Michelle Pfeiffer, zu dem man die Eigenartigkeiten dieser Serie zurückverfolgen kann: David E. Kelley, Amerikaner, Drehbuchautor und Produzent, der bislang so erfolgreiche Serien wie "Chicago Hope", aber auch so erfrischende wie "Picked Fences" auf das Publikum losgelassen hat. Ähnlich wie "Picket Fences" vertritt auch Ally McBeal einen neuen Anspruch an das Fernsehen und steht für einen neuen Typ von Soap. Die neuen Serien wollen nicht mehr Geschichten vom Leben der Reichen, der Linden-Straßen oder Tierkliniken erzählen, und Zuschauer mit eskapistischen Parallelwelten versorgen. Fernsehen bekommt eine neue Funktion.

Jetzt endlich - einige Jahre verspätet - versucht das Fernsehen, unsere tagtägliche Realität, in der die Rollen von "gut" oder "böse", "richtig" oder "falsch" nicht mehr klar verteilt sind, in Serien zu thematisieren. Dabei erweist sich diese neue Art von TV als ebenso unsicher, wie auch wir selbst es manchmal sind. Bei Love Boat und Traumschiff ist der Ausgang der Geschichten vorgezeichnet: das Rechte im Leben muß wieder hergestellt werden, der Böse wird bestraft, die Wahrheit kommt ans Licht, die Hochzeit wird vollzogen - alles wird gut. Bei Ally McBeal, ebenso wie bei Picket Fences, ist es oftmals besser, wenn die Hochzeit doch nicht vollzogen wird oder die Wahrheit lieber nicht ans Licht kommt. Und der Böse steht mit einem Male auf und beschwert sich, dass man endlich auch mal seine Sicht der Dinge sehen müsste. Die neuen Soaps erzählen Geschichten, in denen nichts sicher, vieles dafür aber um so humorvoller, härter und überraschender ist.

Ebenso wie ihre Geschichten weigern sie sich zu entscheiden, ob sie Unterhaltungssendung oder didaktischer Beitrag sein wollen, ob sie sich einer realen Filmebene verpflichetet fühlen oder eine übertriebene Comicdarstellung pflegen. Ally McBeal beispielsweise tut beides. Sie ist Unterhaltungssendung und didaktischer Beitrag, und sie ergänzt die Realität mit comichaften Wunschvorstellungen und Wahngebilden, von denen eines, das "Dancing Baby" im Internet zu eigener Berühmtheit gelangte und neben Calista Flockhart ein zweiter Star wurde (siehe Anhang).

Warum Männer Ally McBeal gegenüber Football bevorzugen

Ally McBeal ist jedoch nicht nur irgendeine weitere Serie, die schick geschnitten und ansehnlich aufgebaut ist, sondern ein Politikum. Und das vor allem deshalb, weil sie mit ihrem post-feministischen Ansatz nicht nur bei Frauen ankommt. Die Entscheidung von Drehbuchschreiber Kelley, alle wichtigen Vorkommnisse, alle Fälle und sozialen Probleme der Kanzlei in einem Unisex-Klo diskutieren zu lassen, ist da mehr als nur ein nebensächlicher Gag. In der Tat widmet sich die Serie den Identitätsproblemen beiderlei Geschlechter, diese Thematik zieht sich durch die zwei wichtigsten Handlungsstränge der Serie, durch die juristischen Fälle ebenso wie durch das soziale Beziehungskuddelmuddel. Dass Frauen mit jeder Menge niedriger weiblicher Klischees zu boxen haben, die oft genug im Fernsehen verschwiegen werden, dazu kommen wir noch. Dass es jedoch auch Klischees gibt, Rollenerfüllungen, mit denen Männer sich auseinandersetzen müssen - und sich dabei unsicher verhalten dürfen und nicht als Sonnyboys glänzen -, das ist ein Novum. So erlaubt die Serie nicht nur, dass der kindlich-geniale Boss McBeals, John "Biscuit" Cage, sich symphathisch unsicher bei seinem Kompagnon Richard Fish erkundigt, wie man denn nun am besten Frauen (Ally, in diesem Fall) anspricht, wenn man mit ihnen ausgehen will. Auch Diskussionen um die beste Grösse der Schniedelwutze geht die Serie mit einer grossen Portion Humor und Ironie nicht aus dem Weg. Und niemand soll mir erzählen, dass er nicht zumindest im Sportraum unter der Schul-Dusche darüber nachgedacht hat, wie wichtig die Grösse des Geschlechtsteiles für ein erfülltes sexuelles Leben wirklich ist.

Es ist eine bevorzugte Prozedur der Serie, brenzlige Klischees, die eigentlich rational schon lange vom Tisch gewischt sind, aber unterirdisch weiterrumoren, noch einmal humorvoll auf die Mattscheibe zu werfen. Da diese absurden "Probleme" immer noch relevant sind und insgeheim alle beschäftigen, kann man sich erklären, dass Ally McBeal es geschafft hat, höhere Einschaltquoten als die Football-Games an ihrem traditionellen Montagabend zu bekommen. "Kann es sein? Männer bevorzugen Ally McBeal gegenüber Fußball?", fragte die Nachrichtenagentur Reuters ungläubig. Ja, so ist es. Und sich zwischen Ally und Football entscheiden zu müssen, ist für amerikanische Männer dabei nicht wenig problematisch, weshalb man diese Zwickmühle bereits auf einer eigenen Website ausführlich im Netz behandelt.

Zwischen traditioneller Kernfamilie und Zukunft

In marketingtechnischer Hinsicht sind es jedoch vor allem die Frauen, und unter ihnen die finanzkräftige, finanziell unabhängige Gruppe zwischen 18 und 49, die für die Serie von zentraler Bedeutung sind. Das erscheint logisch, denn die diffusen Ansprüche, in denen man sich zwischen Weiblichkeit und Erfolg befindet, sind das eigentliche Thema von Ally McBeal. Nachdem Dana Scully aus "Akte X" den Frauen das Rollenmodell erschlossen hat, ihre kopflastige Arbeit neben einem Mann (Mulder) verrichten zu können, ohne sofort in entflammter Verliebtheit aufzugehen, wendet Ally McBeal sich nun den Problemen zu, die Scully immer verschwiegen hat. Gerade von strengen Feministen ist die Serie Ally McBeal deshalb immer angegriffen worden, denn McBeal ist zwar erfolgreiche Harvard-Anwältin am Anfang ihrer Karriere, anders als bei Scully ist neben ihrem Beruf das wichtigste Thema aber das Finden von einem passendem - Mann. Ein Rückschritt?

Würde man die Serie danach beurteilen, dass hier Ally McBeal als ideales Rollenmodell präsentiert wird, vielleicht. In der Tat funktioniert die Figur McBeal jedoch nicht als ein positives Vorbild, dazu ist sie zu neurotisch, sondern als ein Abbild der Gesellschaft, und da sieht es mit der Rolle der Frau dann doch, seien wir ehrlich, noch einigermassen duster aus - und neurotisch natžrlich auch. Genau deshalb macht Ally McBeal jedoch mehr als feministischen Sinn. Was ist z.B. von einer Emanzipation zu halten, die seit ein paar Jahrzehnten erst erlaubt, dass auch Frauen die Nachrichten im Fernsehen verlesen, aber dann, wenn die Sprecherinnen älter werden, sie entlässt, weil allgemein geglaubt wird, daß eine Frau ab 40 ihre Attraktivität verliert. Also hat eine Dagmar Berghoff mit ihrem Alter mehr Probleme als ein Ulrich Wickert, nur deshalb weil sie eine Frau ist. Es sind gesellschaftliche Beurteilungen von Frauen und Männern und ihren Identitätsproblemen, die vor Gericht bei McBeal verhandelt werden (wie in diesem Fall die Kündigung einer MBC-Journalistin). Sie stehen für heutige Probleme, die auftreten, weil das alte gesellschaftliche Ideal einer Kernfamilie, in welcher der Mann schuftet und die Frau das Haus putzt, durch ein Modell ersetzt wird, das noch nicht wirklich definiert ist.

Es ist nicht so, dass das feministische Weltbild kommt und das alte traditionelle Rollenklischee einfach vom Tisch fegt. Tagtäglich finden im Alltag Verhandlungen statt, finden sich Millionen, vielleicht auch Milliarden von Frauen wie Ally McBeal auf einer vielbefahrenen Kreuzung von Ansprüchen, denen sie gerecht werden wollen. Und genau deshalb muss Ally mit ihrer Freundin und Staatsanwältin Renee Radick höchstwahrscheinlich noch länger an einem Tisch sitzen und darüber sinnieren, dass man als Frau heutzutage Karriere machen soll, man soll einen Mann finden und eine gute Mutter sein. Aber wenn man schwanger die Arbeit nicht aufgibt und brav an den heimischen Herd zurückkehrt, befindet die Gesellschaft einen als egoistische Rabenmutter, deren Kind, unter Garantie, drogensüchtig wird.

"Bei all dem, was man von uns verlangt, was bleibt uns da noch?", fragt Rene: "Nicht viel." "Das kann nicht sein," meint Ally kämpferisch: "Wir Frauen bilden die Hälfte der Weltbevölkerung, wir haben die Macht dazu, wir werden die Welt verändern." Sie schaut zur Seite: "Aber vorher will ich noch einen Mann."

Es gehört zu den grossartigen Momenten dieser Serie, die Ansprüche nicht zugunsten eines idealen Wie-es-sein-soll aufzulösen, sondern in all ihrer Wiedersprüchlichkeit auf den Tisch zu legen und mit einem wahnsinnigen, tanzenden Baby zu versehen. Und in diesem Sinne bildet Ally McBeal in der Tat die von McLuhan geäußerte, wirkliche Bewegung der Formen des Lebens (aufio)visuell ab. Comicartig und real.

Von Serien lernen

Definitiv ist also Ally McBeal eine feministische Serie. Um so erstaunlicher ist die Reaktion der amerikanischen Öffentlichkeit darauf. Denn während in Ally McBeal dagegen gekämpft wird, Frauen nur auf ihre Äußerlichkeit zu reduzieren, waren die amerikanischen Talkshows und Printmedien monatelang von zwei Ally-Debatten beherrscht, die reaktionärer nicht sein konnten: Ist der Rock, den Calista Flockhart als Ally McBeal trägt, zu kurz?", lautet die eine und: "Ist Calista Flockhart magersüchtig", die andere. Die Diagnose darauf ist eindeutig: Nachdem Serien etwas von der Realität gelernt haben, wird es für die Realität Zeit, etwas von den Serien zu lernen.

Ally McBeal, jeden Dienstag Abend ab 22 Uhr auf Vox.
Mercedes Bunz ist Mitherausgeberin der Zeitschrift De:bug.