Als Patient in Schweden: Bitte warten
Seite 2: Die Psychiatrie: Man fühlt sich an an Stieg Larssons Millennium-Trilogie erinnert
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Das schwedische Psychiatriesystem erweckt den Eindruck, als wolle es die Vorliebe dieses Landes für besonders harte Kriminalliteratur erklären wollen. Ja, es erscheint wie bittere Realsatire auf das Land der Wallanders und Blomquists.
Die Zeitung Aftonbladet schreibt, dass 10% der Männer, die einen Mord an nächsten Angehörigen begingen, in den Wochen zuvor Kontakt mit der Psychiatrie gehabt hatten, und 5% baten sogar unmittelbar vor der Bluttat dort um Hilfe.
Beispiele finden sich reichlich: Eine kommunale Pflegehilfe erkannte, dass ein Klient extreme psychische Störungen entwickelte, jedoch war dafür die Psychiatrie zuständig. Als diese untätig blieb, wurde der Betroffene zum Mörder. Ein Hilfesuchender wurde von einer Stockholmer Psychiatrie mit Medikamenten abgespeist, legte daraufhin Feuer in seiner Wohnung und griff die eintreffende Polizei mit einer Machete an. Und eine Betroffene schreibt in ihrem Blog, die Psychiatrie habe ihr sinngemäß geantwortet: "Ja, es geht dir schlecht, aber nicht schlecht genug, um bei uns Hilfe zu bekommen."
Eine andere suizidgefährdete Person konnte zwar von ihrem Betreuer rechtzeitig in die Psychiatrie gebracht werden, wurde aber abgewiesen, da sie noch keinen Suizidversuch unternommen hätte. Den unternahm sie danach und musste schließlich doch eingeliefert werden.
Das schalenartig gestaffelte Gesundheitssystem ist eines der Gründe. Das Vorgehen ist für Betroffene das gleiche wie für physisch Kranke. Hier überlegt sich die Krankenschwester am Telefon, ob sie den Anrufer abwimmeln oder einen "Kurator" hinzuziehen möchte; dies ist oft ein Sozialarbeiter, kein Arzt. Wenn dieser Kurator glaubt, dass der Fall schwerwiegend genug ist, sendet er einen "Remiss" an die Psychiatrie, wo eine Remissgruppe darüber berät. Eventuell wird mit dem Betroffenen danach ein Termin vereinbart, durchaus auch erst in einem Vierteljahr. Da wird dann bestimmt, ob eine Kontaktperson abgestellt wird oder ob eine Einweisung in die Akutpsychiatrie erfolgt.
Die Akutpsychiatrie ist aber keine Lösung: Hier erfolgt zumeist medikamentöse Einstellung statt Therapie. Bestenfalls wird ausgelotet, ob der Hilfesuchende daheim einen ständigen Betreuer oder Medikamente bekommt. Wer selbst in die psychiatrische Notaufnahme geht, wird auch mal vier Stunden im Wartezimmer hingehalten; dass der Hilfesuchende irgendwann heimgeht und sich umzubringen versucht, ist nicht ungewöhnlich.
Selbst in einem Suizidbrennpunkt ist dieses Vorgehen Alltag. Mit potenziell fatalen Folgen: Kürzlich wurden bei dem Klienten eines Betreuers deutliche Anzeichen für "Leaking" entdeckt. Dies ist die bei Anschlägen wie in Columbine, Erfurt oder Emsdetten dokumentierte Anhäufung von Andeutungen, dass ein Amoklauf geplant wird. Zudem stand ein großes Straßenfest mit einigen tausend Besuchern vor der Tür. Der Sozialarbeiter rief in der Psychiatrie an. Auch er bekam zunächst nur eine Krankenschwester ans Telefon.
Anstatt ihn aber schnellstmöglich an einen Facharzt weiterzuleiten, wollte oder konnte sie nicht verstehen: Der Klient solle doch selber anrufen und einen Termin machen. Erst auf wiederholtes Drängen hin ließ sie sich dazu überreden, die Information weiterzugeben. Was zunächst misslang, da der Facharzt gerade Mittag machte. Als er dann aber zurückrief, gab er sich verwundert, sei es doch um die Organisation eines Krankentransports gegangen — nicht etwa um einen angekündigten Amoklauf. Während die Betreuer des Drohenden bereits in Alarmbereitschaft, aber handlungsunfähig waren, wäre der Facharzt ohne Hartnäckigkeit also nicht einmal über den Fall informiert worden.
Es hätte sich inmitten einer idyllischen Kleinstadt allzu leicht eine Bluttat wie in München wiederholen können. Immerhin werden solche Zustände gelegentlich kritisiert. So spricht der Psychologe Lennart Lundin in Dagens Nyheter von einem eklatanten Systemfehler. Dies schlägt sich in der mangelhaften Kommunikation zwischen Kliniken und kommunalen Betreuungseinrichtungen nieder, was gelegentlich am arrogant oder inkompetent anmutendem kooperativen Desinteresse sei es der vorgeschalteten Krankenschwestern und Pfleger, sei es der psychiatrischen Ärzte liegen mag. Lundin kritisiert, dass psychisch Kranke vom System hin- und hergeschoben würden.
Ob es an Wurstigkeit, Selbstzufriedenheit, Bequemlichkeit oder Naivität liegt, manch einem Betroffenen mag der direkte Weg in einen Eissee allemal als der einfachere erscheinen. Da wird er wenigstens nicht von Telefonisten abgewiesen.
Ruben Philipp Wickenhäuser ist Publizist und lebt mit seiner Familie in Mittelschweden. Neben Fachbüchern über das Phänomen School Shootings, die er gemeinsam mit einem Kriminologen veröffentlichte, hat er kürzlich eine Thrillernovelle veröffentlicht und schreibt Kolumnen über Land und Leute.