Als Russland rot wurde: 105 Jahre Oktoberrevolution

Seite 2: Das Proletariat: Werkzeug der Vorsehung?

Zur Erinnerung: Georg Lucács (1885 bis 1971) war es, der betonte (1924), "dass der Marxismus die einzige ökonomische Theorie ist, die die Genesis des Kapitalismus mit Notwendigkeit aus der Auflösung der vorkapitalistischen Welt aufzeigt."

Die Entstehung des Proletariats als entscheidender Machtfaktor: Geht das zusammen mit einem langsamen Hineinwachsen in seine "geschichtliche Rolle"? Lucács macht beim Blick auf die russischen Verhältnisse deutlich, dass Kapitalismus hier nicht ein "organisch" gewachsener, sondern ein "auf Russland aufgepfropft(er) Kapitalismus" sei, der "schon in seinen Anfängen einen stark monopolistischen Charakter zeigt". Und ergänzt mit Blick auf das Riesenland:

Es ist die Sache der Bourgeoisie, Trusts zu entfalten, Kinder und Frauen in die Fabriken zu jagen, sie dort zu ruinieren und zu schinden und sie zur äußersten Not zu verurteilen. Wir ‚fordern‘ eine solche Entwicklung nicht, wir ‚unterstützen‘ sie nicht, sondern wir kämpfen dagegen. Aber wie kämpfen wir? Wir wissen, dass Trusts und Fabriksarbeit der Frauen ein Fortschritt ist. Wir wollen nicht rückwärts schreiten zum Handwerk, zum Kapitalismus ohne Monopolstellung, zur Heimarbeit der Frauen zurück. Vorwärts durch die Trusts und anderes und über sie hinaus zum Sozialismus!

Wladimir Iljitsch Lenin, zit. bei Lucács, a.a.O., Kap. 2

Lenins Rezept lautet in der wohlbekannten Kurzform: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“.

Auf dem Weg zum Maßnahmenstaat

Eine straffe, kompromisslose Organisation und Lenkung, das wird der Motor der Leninschen Formel. Lenin hält die allmähliche Heranreifung des revolutionären Bewusstseins über undefinierbar lange Zeiträume nicht für den Weg. Er misstraut jeglicher Annahme eines irgendwie organischen Wachstums in diese Sache. Er ist entschlossen, mitten in dieser fluktuierenden revolutionären Stimmung Anführer zu sein, den Gang zu bestimmen. Er wird zum Macher der Revolution.

Mit allen Konsequenzen. Lenin etabliert faktisch das Fundament des sowjetischen Parteiapparats - letztlich das Tragwerk für Stalins totalitäre Despotie.

Die Industrialisierung des Riesenreiches forciert die Partei mit erbarmungsloser Härte und mittels des von Trotzki propagierten Arbeitsheeres. Der Arbeiter hat, sobald er die Wohnung verlässt, sein Arbeitsbuch mit sich zu tragen! Individualität ist konterrevolutionär und wird unter Generalverdacht gestellt. Der Bourgeois dient als Folie für Verachtung und Staatsterror. Es herrscht Sinnzwang.

Die Justiz wird unterdessen zum Herrschaftsinstrument der Parteidiktatur, die "Tscheka" zum verlängerten Arm der Durchsetzung und Vollstreckung. De facto gibt es im Staat keine Kontrolle mehr durch Staatsanwälte oder Richter. "Tscheka" im Wortlaut: "Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, Spekulation und Sabotage". Der Alleinanspruch auf Wahrheit nimmt stählerne Züge an. Und äußerst blutige noch dazu.

Glorienschein und Kehrichthaufen

Die "Große Sozialistische Oktoberrevolution": Eher nur ein gewöhnlicher, polit-ideologisch aufgebretztelter Putsch, oder glorioser Wendepunkt der Menschheitsgeschichte? Darüber kursieren bis heute unterschiedliche Ansichten. Auch in der wissenschaftlichen Welt wurde und wird gestritten. Unbestritten dürfte sein, dass das Staatsbildungsprojekt der Bolschewiki nicht nur dem ehemaligen Zarenreich, sondern ganz Europa und letztlich der gesamten Welt seinen Stempel aufdrückte.

Rückschau 1917: Als am 25. Oktober – hier war unser Ausgangspunkt - in Petrograd der „Allrussische Volkskongress“ der Arbeiter- und Soldatenräte zusammentrat, verließen aus Protest gegen das radikale Vorgehen der Bolschewiki die Menschewiki zusammen mit den rechten Sozialrevolutionären die Veranstaltung. Trotzki rief ihnen nach:

Eure Rolle ist ausgespielt, schert euch hin, wo ihr von nun an hingehört – auf den Kehrichthaufen der Geschichte!

Leo Trotzki am 25. Oktober 1917 in Petrograd, Marx-Engels-Werke Bd. 19, Ost-Berlin 1966, S 335ff.

In der Nacht auf den 8. November 1917 (Julianischer Kalender: 24. auf den 25. Oktober) feuerte die Aurora, ein Kreuzer der ehemals kaiserlichen Marine, einen Platzpatronenschuss ab. Das Signal für den Angriff auf den Petrograder Winterpalast, wo Angehörige der provisorischen Regierung ausharrten. Zuvor waren Bahnstationen, Post- und Telegrafenämter, Ministerien und die Staatsbank von Milizen der Roten Garden und Soldaten besetzt worden.

Der Winterpalast war nicht nur Hauptquartier der Übergangsregierung, sondern diente zu der Zeit auch als Krankenhaus für im Krieg verwundete Truppen. So wollte es die Zarengattin Alexandra, die 1918 mit der Zarenfamilie in Jekaterinburg ermordet wurde.

Die Revolutionäre, schrieb der Sowjethistoriker Witali Strelzow 1988, hätten sich in den 1.100 Räumen des Winterpalasts verlaufen. Zu Dutzenden seien sie von Offiziersschülern entwaffnet worden (so die Frankfurter Rundschau in einem Artikel über den "Mythos vom Sturm auf den Winterpalast". Von einem "Sturm" kann kaum die Rede sein, zur Mythenbildung später noch ein Wort.