Als das Objekt aufschrie

Vor einem Jahr twitterten Frauen massiv Erlebnisse mit Sexismus: #aufschrei. Das beeindruckende Zeichen von Schwarmintelligenz zeigte zwar Wirkung - aber Sexismus in großen Medien ist immer noch gang und gäbe

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Vor einem Jahr begann die vielleicht breiteste Debatte, die in Deutschland jemals ernsthaft über Sexismus geführt wurde. Sexismus könnte eng definiert werden als geschlechtsspezifische Diskriminierung, und über so etwas wird allenthalben diskutiert (Frauenquote in Firmen, Förderung von Mädchen usw.), denn es soll ja kein Potenzial an Humankapital verloren gehen.

Der Begriff hat aber, im Deutschen vielleicht noch mehr als in anderen Sprachen, eine darüber hinausgehende Konnotation: Sex. Es geht bei ihm somit normalerweise um Herabwürdigungen, die über das Sexuelle verlaufen. Menschen werden aufgrund ihres Geschlechts und, was meistens vergessen wird, ihres Aussehens als Sexobjekte behandelt. Und grammatikalisch gesehen ist ein Objekt, das wissen die meisten Menschen vermutlich noch aus dem Deutsch-Unterricht, passiv, während das Subjekt aktiv, die Hauptperson ist.

In den meisten Fällen wird Sexismus von Männern gegenüber Frauen ausgeübt. Das ist auch ohne körperlichen Übergriff der Fall, und zwar wenn Männer meinen, die Sexualität oder sonstige Intimitäten bestimmter, nicht mit ihnen befreundeter Frauen seien öffentlich, Angelegenheit fremder Leute, ob die Frauen wollen oder nicht. Sie treten dann den Frauen verbal oder körperlich (was nicht mit Berührungen einhergehen muss) zu nahe.

So verfuhr auch Rainer Brüderle, damaliger FDP-Bundestagsfraktionsvorsitzender und ehemaliger Wirtschaftsminister, 2012 gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich, die ihn für die Zeitschrift Stern mehrmals begleitete. Zu später Stunde an einer Hotelbar schmiss er sich an sie ran und sagte unter anderem, mit Blick auf ihre Oberweite, Himmelreich könne "ein Dirndl ausfüllen". Der Zusammenhang war, dass sie vorher gesagt hatte, sie komme aus München. Danach kam er ihr so nahe, dass sie zurückwich, und wurde von seiner Sprecherin weggezogen.

Der Vorfall wurde im Januar 2013 als Teil eines mehrseitigen Artikels über Brüderle berichtet, vom Stern aber vorab online skandalisiert . Schon da ist die Rede davon, dass derartiges zwischen Politikern und Journalistinnen keine Seltenheit sei. Später berichteten Journalistinnen konkret von eigenen Erfahrungen mit Brüderle.

Eine "Maike" schrieb daraufhin einen Online-Artikel über eigene Erfahrungen mit Sexismus und die anderer Frauen im Ausland, die darauf publizistisch reagiert hatten. Auf Twitter folgte ihr jemand nach und führte mehrere erlebte Fälle in Kurzform auf. Die Bloggerin Anne Wizorek griff daraufhin die Idee auf, für das Schildern solcher Erlebnisse auf Twitter einen Hashtag zu schaffen und schlug #aufschrei vor. Das war in der Nacht zum 25. Januar 2013.

Ab dem nächsten Tag war Sexismus Trending Topic, wie das bei Twitter heißt - nur diesmal war es ein massenmedialer Großtrend. Schnell wurde Wizorek in große Talkshows eingeladen, im Sommer ging sogar einer der renommierten Grimme Online-Awards an das Hashtag. "Preis- und webhistorisch einzigartig, schafft es damit erstmals ein Diskurs auf das Siegertreppchen", schrieb das Grimme-Institut.