Als das Objekt aufschrie

Seite 2: Die Schwarmintelligenz kann das Einzelbewusstsein verändern

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Der Diskurs zeigt, was die viel zitierte Schwarmintelligenz sein kann. Viele kleine triviale Beiträge ergeben ein aussagekräftiges Ganzes, das nicht nur große Ausmaße eines Phänomens anzeigt, sondern auch auf die Beteiligten zurückwirkt. Denn die hatten in diesem Fall zum Teil das Geschilderte, beziehungsweise die dahinter liegende Kontinuität verdrängt, da all das Alltag ist. Nun denken sie aber eventuell anders darüber und haben eine veränderte Wahrnehmung.

"Es war mir bloß nicht mehr aufgefallen, weil es bereits so normal geworden war", schrieb Maike in besagtem Artikel, der die Twitter-Beiträge auslöste. Anne Wizorek berichtete später von den Zuschriften, die sie nach der Schaffung des Hashtags erhalten hatte und sprach von "Frauen, die merken, dass sie mit ihrer Scham und Wut nicht allein sind, keine Schuld tragen und daraus neue Kraft schöpfen".

Doch andererseits ergriffen arrivierte Journalistinnen öffentlich gegen Himmelreich und Wizorek Position. Sie fanden alles aufgebauscht, sahen Frauen durch diese Skandalisierungen in die Opfer-Rolle gedrängt. Und die Kritik hört nicht auf. Eines der beiden großen Berliner Stadtmagazine, die Kuturprogramm mit großen politischen Geschichten mischen, ist Tip. Es veröffentlicht immer zum Jahreswechsel eine Liste der "100 nervigsten Berliner". Für 2013 steht da auf Platz 80 unter der Überschrift "#Schreihals" Anne Wizorek. Die Begründung:

Der Feminismus in allen Ehren. Aber man kann es auch übertreiben (#aufschrei). Als Rainer Brüderle (siehe Platz 81) der Journalistin Laura Himmelreich angeblich ins Dekolleté linste und diese darüber im "Stern" schrieb, initiierte die bis dahin unbekannte Netzfeministin Anne Wizorek eine Plattform, auf der alle Frauen all ihre vermutlich sexistischen Erlebnisse in die Welt hinausschreien können (#aufschrei). Manchmal mutet das alles leider eher prüde als sexistisch an (#aufschrei).

Wizorek also noch vor Brüderle in der Nervigsten-Liste! Diese und andere Ablehnungen des antisexistischen Engagements beruhen vermutlich darauf, dass sich gewisse Leute nicht für gesellschaftliche Verhältnisse, für analytischen Tiefgang interessieren und leichtfertig eine Grenze zwischen tätlichen und nur verbalen Übergriffen ziehen. Brüderles Anmache und einige der mit #aufschrei geschilderten Situationen (etwa, dass eine Frau von einem Arbeitskollegen gefragt wurde, ob sie "unten" rasiert sei) waren keine tätlichen Übergriffe, sondern bloßer Sexismus (offensichtlich war besagter Arbeitskollege nicht ausreichend gut für diese Frage befreundet und es fragt sich, warum ihn im Prozess des besseren Kennenlernens die Schambehaarung vor anderen Dingen interessierte).

Für viele Leute, die der Meinung sind, dass du dich sowieso durchkämpfen musst, vor allem in bestimmten Berufen oder auf bestimmten Ebenen, sind derartige Sprüche vielleicht nicht schlimmer als anderes Gemobbe, Gedisse und Intrigen, die im beruflichen Alltag vorkommen können. Warum sich also aufregen? Ellenbogen und dickes Fell brauchst du sowieso, und du kannst es auch als Frau trotz solcher Sprüche nach oben schaffen, Beispiele gibt es ja. Sich über spezifisch gegen Frauen gerichteten Sexismus zu beschweren, erscheint da als unlauteres Streben nach einem Wettbewerbsvorteil.

Doch diese elitäre Wahrnehmung übersieht, dass diese an der Oberfläche harmlose, da sich nur in Sprüchen (die ja auch schlimme Effekte haben können, vor allem wenn sie sich häufen) und Anmache äußernde Degradierung von Frauen zu Sexobjekten zum einen den Betroffenen als Degradierung bewusst ist und zum anderen die kulturelle Grundlage auch für tätliche Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen ist.

An die Allgemeinheit gerichtete Sexobjekte

Wie groß diese kulturelle Grundlage ist, zeigt sich daran, wie sehr Frauen in Massenmedien, die sich an die Allgemeinheit richten, als Sexobjekte präsentiert werden können. Wir müssen da gar nicht über die "Bild" und ähnliche Zeitungen reden. Es reichen zwei aktuelle Fälle, bei denen eigentlich ein höherer Anspruch als bei "Bild" vermutet werden konnte.

So ist Apple seit Jahren dafür bekannt, dass seine Produkte bei Nacktbildern zu Zensur neigen. Selbst E-Mails bei iCloud werden zensiert. Ein Kampf gegen Sexismus? Nein, denn andererseits veröffentlichte das Unternehmen kürzlich eine App (die es nach einem Shitstorm wieder zurückzog), wo eine "unglückliche" dicke Barbie, "der nicht mehr anders geholfen werden kann", mit Schönheits-Operationen wieder glücklich gemacht werden sollte - eine App für Kinder ab 9 Jahren!

Vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk sollte eigentlich ebenfalls ein gewisses Reflexionsniveau erwartet werden können. Beim Radiosender HR1 ist das aber nicht vorhanden. So war zuletzt tagelang auf seiner Startseite ein typisches Sexobjekt in mehr als der vollen Bildschirmhöhe zu sehen. Gegen den Slogan "Ich hab nur mein Radio an" ist ja nichts einzuwenden. Aber es will wohl niemand behaupten, dass es Zufall ist, dass die Illustration mit dem nackten Menschen dazu eine vollschlanke Blondine mit langen Ohrringen und hochhackigen Schuhen zeigt.

Die Frau als normiertes Objekt, in beiden Fällen. Dass Frauen auch da, wo es eigentlich nur um Persönlichkeit gehen sollte, nicht zu meinen brauchen, dass der kulturelle Sexismus wenigstens durch ein entsprechendes Schweigen nicht noch weiter reproduziert wird, zeigte kürzlich der ZDF-Moderator Markus Lanz. Er stellte in seiner Sendung vom 16. Januar, die ihm gerade so schwer auf die Füße fällt, die Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht mit den Worten vor: "Es gibt nichts, was sie sich noch nicht anhören musste: Neo-Stalinistin, Hummer-Kommunistin und auch schönste Linke aller Zeiten." Letzteres war vermutlich eine der wenigen Aussagen, die Lanz in dieser Sendung Wagenknecht gegenüber in unkritischer Absicht machte. Lanz ist nicht Schuld daran, dass auch in der Politik Äußerlichkeiten einen hohen Wert haben. Aber diese unterschwellige Mahnung an alle Politikerinnen hätte er sich sparen müssen. Denn in der Sendung ging es um Politik, nicht um Schönheitstipps.

Auch das ist übrigens kein Einzelfall. 2013 schrieb das Magazin Focus, dass Wagenknecht "daherkommt wie die ewige Zweite: Sie ist Vize-Parteichefin und stellvertretende Fraktionschefin und wurde vom Fachmagazin 'Playboy' zur zweitschönsten deutschen Politikerin gewählt".