Als die Wörter laufen lernten
Dichten jenseits der Gutenberggalaxis.
Weil die Digitalisierung vor nichts halt macht, hat sie auch die Lyrik erfaßt. Eine amerikanische Anthologie dokumentiert den Stand der Poesie der Neuen Medien - und formuliert erste Ansätze ihrer Poetik.
Literatur ist eine Wanderung an den Grenzen der Sprache - und somit, folgt man Wittgenstein, entlang der Grenzen unserer Welt. Dies gilt in einem besonderen Maße für die Lyrik; ihr Spiel mit dem sprachlichen Material und den Gesetzen seiner Konstruktion ist immer auch ein Experiment mit jenen Konventionen, deren Regeln den Radius der Erfahrungen bestimmt, die wir in und mit Sprache machen. Doch Konventionen können sich ändern: jede historische und kulturelle Verschiebung geht ein ins Regelwerk der Sprache - und provoziert damit zugleich Variationen und Neubestimmungen der Paradigmen lyrischer Experimente. Schon deswegen ist die "Poesie ein Prozeß" (Enzensberger), dessen Ablauf relativ ist zu seinem Ort und seiner Zeit - und dessen Ausgang immer wieder offen bleibt.
Oft gleicht das Anrennen der Dichter gegen die Grenzen der Sprache dem Versuch, ihren Gedichten Flügel zu verleihen, auf daß sie die ebenso rigiden wie kontingenten Beschränkungen der konventionellen Konstitution sprachlichen Sinns übersteigen. Gedichte gelten als diejenigen Sprachgebilde, die der Musik am nächsten kommen; ihre Worte wollen zumeist mehr gehört als gelesen werden - und nicht selten umgibt sie die Aura, als gelänge ihrer ätherischen Entrückung die Vermittlung des Sinns, der jenseits der Worte liegt.
Doch einen solchen Sinn gibt es nicht. Und spätestens die Poesie der Moderne hat den illusionären Anspruch einer lyrischen Erschließung sprachexternen Sinns korrigiert, indem sie im Rückzug ins innere Gehäuse der Gedichte und ihrer Komposition die Erforschung der immanenten Strukturen der Sprache offen zu ihrer Sache gemacht hat. Durch die Destruktion tradierter Formen, mit stilistischen Strategien wie der Montage haben die Dichter seither im Spiel mit der Grenze ihr Medium immer mehr gegen den Strich gebürstet - und sie haben damit die Sensibilität geschärft für die Materialität der Sprache.
Das war die Moderne. Da stand die Sprache noch still.
Es ist eines der Resultate der digitalen Revolution, dies geändert zu haben: Die Veränderungen der Technik des Schreibens durch die Neuen Medien - Stichwort: Hypertext - haben die Sprache in Bewegung gebracht. Und sie haben die Lyrik vor die Herausforderung gestellt, das Terrain ihrer experimentellen Erkundung des sprachlichen Materials unter veränderten Bedingungen neu abzustecken.
In einer Sondernummer der amerikanischen Literaturzeitschrift Visible Language hat der Schriftsteller und Künstler Eduardo Kac Beispiele einer "New Media Poetry" zusammengetragen. Nicht gerade bescheiden kommt er daher, der Band, der sich selber als erste Anthologie der digitalen Dichtkunst versteht: "Die Poesie der Neuen Medien, die hier dokumentiert wird", so der Herausgeber in seinem Vorwort, "treibt die Sprache in Dimensionen verbaler Erfahrung, die es bislang nirgends zu sehen gab."
Das mit der Dokumentation ist allerdings so eine Sache. Der Grund dafür ist der Gegenstand selber: Denn als genuines Werk einer Poesie der Neuen Medien, so Kac, kann ein Gedicht nur gelten, wenn es sowohl hinsichtlich seiner Produktion als auch seiner Rezeption irreduzibel auf die digitale Technologie angewiesen ist - was mithin zugleich bedeutet, daß es sich in das lineare Medium eines Printformats nicht vollständig übersetzen läßt. Für den Band bedeutet dies, daß die in ihm versammelten Beispiele nicht mehr als Screenshots komplexerer elektronischer Arbeiten darstellen (die allerdings, dank der ihm Anhang abgedruckten Webadressen, zumindest zum Teil im Original nachzulesen sind), die Beiträge - die mit einer Ausnahme tatsächlich von Dichtern stammen - insgesamt aber eher die entstehende Poetik denn Poesie der Neuen Medien dokumentieren.
Den Überhang an Theorie, den die Diskussion der digitalen Kunst lange Zeit begleitete, findet man schon deswegen auch in der Anthologie von Kac - und bei manchen der Autoren, die sich und ihre Werke vorstellen, beschleicht den Leser der Eindruck, daß dies noch die Gedichte selber charakterisiert.
Da ist zum Beispiel Jim Rosenberg. Seine Arbeit, so schreibt er, basiert auf der - richtigen - Einsicht, daß die Hervorhebung der einzelnen sprachlichen Zeichen aus den sinnkonstituierenden Kontexten ein Kennzeichen ihres ästhetischen Charakters darstellt. Das Resultat dieser Einsicht allerdings - eine Serie von Diagrammen, in denen Rosenberg die Syntax seiner Texte externalisiert, und sie in einen mathematischen Code übersetzt - erscheint weniger als gelungenes Beispiel digitalisierter Poesie denn als technologische Austreibung der Poesie aus der Lyrik.
Interessanter sind da schon seine "Intergramme": Wörter, ja ganze Texte lagern auf verschiedenen Ebenen übereinander, sich bis zur Unlesbarkeit übereinanderschiebend. Dem Leser allerdings bietet sich die Möglichkeit, die Layer der Textebenen Schritt für Schritt einzeln sichtbar zu machen.
Zentrale Begriffe der digitalen Poetik rücken hier ins Blickfeld: Die Selbstbezüglichkeit ihrer Werke und ihre Interaktivität ebenso wie die intrinsische Dynamik, die Variabilität ihrer Struktur; Begriffe, die selber gleichsam formbildend wurden. Der Bezug des Gedichtes auf sich selbst liegt der Idee des lyrischen Hologramms, des Holopoems, zugrunde: "Holographie - das heißt, einen Text, soweit es geht, derart zu gestalten, daß jeder Zeil das Ganze enthält", definiert Oska Pastior, den im Band John Cayley zitiert. Cayleys eigenes ausgefeiltes Werk "Indra's Net" läßt sich aus dem Netz herunterladen; Vorläufer wie sein Gedicht "Intimacies" verdeutlichen die Grundidee, für deren digitale Ausführung die Hologedichte von Eduardo Kac im Band allerdings das beste Beispiel geben.
Die Interaktivität, diese oft schon fast nichtssagende Zauberformel der digitalen Selbstbeschreibungen, erhält als Prädikat der elektronischen Poesie eine klare Definition. Ein interaktives Gedicht, so Eriv Vos, ist eines, "welches tatsächlich nicht als lesbarer Text existiert ohne die Handlung seines Lesers". Das gilt für die Intergramme von Rosenberg zweifellos ebenso wie für Kacs Gedichte, deren holographische Darstellung einer leser-gesteuerten Choreographie unterliegen. Anders als bei Rosenberg, der die Resultate zumindest zuvor festgelegt hat, ist die Frage, welchen Text der Betrachter eines Hologedichts am Ende gelesen haben wird, grundsätzlich offen.
Ein Extrembeispiel dafür stellt die computeranimierte Poesie der Videotexte etwa von Philippe Bootz dar. Ein Textgenerator erzeugt hier aus einer vom Autor definierten Datenbank immer wieder neu eine immer wieder andere Version eines bestimmten Gedichts. Dank der aleatorischen Generierung existiert auf dem Bildschirm immer nur eine jeweils aktualisierte Möglichkeit - und die wiederholt sich, zumindest bei ausgefeilten Systemen, nie so, daß zwei Leser mit demselben Text konfrontiert wären: "Schreiben heißt nicht länger einen bestimmten Text herzustellen, sondern ein abstraktes Textmodell zu konstruieren", so Jean-Pierre Balpe zu dieser Form der "Unique reading poems".
Für Kac verbindet sich durch solche Lektüren, die den Text selber ändern, eine grundsätzliche Neubestimmung des Autor - Leser - Verhältnisses: Der Leser gilt ihm nicht länger als der ideale - sondern vielmehr als ein prinzipiell fremder Interpret. Zum Kronzeugen avanciert - wie schon in der Hypertexttheorie eines Jay David Bolter - der französische Philosoph Jacques Derrida und seine Feststellung, daß kein Text von seinem Autor jemals vollständig kontrolliert werden könne; der Sinn des Textes vielmehr immer auch eine Frage seiner Interpretation und ihrer Umstände bleibt.
Genau darin allerdings zeigt sich die größte Schwäche - wenn schon nicht der Poesie der Neuen Medien, so doch ihrer theoretischen Beschreibung. Denn die Tatsache, daß die verschiedenen technologischen Formen digitaler Lyrik - vom elektronisch-generierten Video über den Hypertext zum Hologramm - die Kontrolle über den Sinn zu einem nicht unerheblichen Teil an die Leser abgegeben hat, mag zwar als plastisches Beispiel poststrukturalistischer Thesen gelten; es bleibt aber am Ende doch nur das Beispiel der grundsätzlicheren Einsicht, daß die Frage nach dem Sinn nicht ohne seine Interpretation zu entscheiden ist. Diesbezüglich sind die medialen Mittel der Produktion oder Rezeption irrelevant - und der Übergang vom weißen Blatt in den virtuellen Raum weit weniger dramatisch, als seine Protagonisten behaupten: ja, die Betonung der Bedeutung der Neuen Medien zeigt in diesem Kontext am Ende statt neuer poetischer Möglichkeiten lediglich die technizistisch-verengte Perspektive der gegenwärtigen Avantgarde der digitalen Literatur.
Visible Language 30.2 "New Media Poetry: Poetic Innovation and New Technologies" Eduardo Kac, Guest Editor Rhode Island School of Design Providence, Rhode Island 1996