Alternation des Bewusstseins

Das Gehirn dirigiert die Wahrnehmung - und umgekehrt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In der heutigen Ausgabe von Nature wird eine neue Studie über aufschlussreiche Anpassungen des Gehirns an die Anforderungen seiner Umwelt veröffentlicht: Sie belegt, dass Dirigenten mit der Zeit spezielle Fähigkeiten erworben haben, Geräuschquellen präziser lokalisieren zu können. Thomas Münte von der Universität von Magdeburg erstellte mit seinem Team eine Vergleichsstudie mit professionellen Dirigenten, klassischen Pianisten und Nicht-Musikern.

Während sie auf den Klang des gesamten Orchesters achten müssen, können Dirigenten ihre Aufmerksamkeit auch gleichzeitig auf die einzelnen Musiker richten und deren Spiel heraushören. Eine Leistung, die ein "normal" funktionierendes Gehirn nicht ohne weiteres erbringen könnte.

Sieben Dirigenten klassischer Musik, sieben Pianisten und sieben Nicht-Musiker wurden in einer Versuchsanordnung getestet, die ursprünglich zum Nachweis der weiterentwickelten Fähigkeiten von Blinden, Geräusche zu lokalisieren, entwickelt worden war.

Die Teilnehmer wurden vor eine Reihe von Lautsprechern gesetzt und hörten sich elektronische Klangteppiche mit gelegentlichen Geräuschabweichungen an. Dabei wurden die Lautsprecher in verschiedenen Entfernungen arrangiert und die Probanden angewiesen, sich in diversen Testdurchläufen jeweils auf andere Richtungen oder Entfernungen zu konzentrieren.

Die Gehirnaktivitäten der Dirigenten zeigten eine höhere Präzision darin, sich auch auf die schwächeren Geräusche im Klangteppich konzentrieren zu können, als das die Gehirnstrom-Aufzeichnungen der Kontrollgruppen belegten. Außerdem konnten sie auch besser lokalisieren, woher das abweichende Geräusch gekommen war.

Während die Testdurchläufe bei den zentralen Geräuschquellen bei allen Testgruppen einen Anstieg der aufgezeichneten "event-related brain potentials" (ERPs) ergaben, war das bei den größeren Distanzen nur in der Gruppe der Dirigenten der Fall.

Die Studie belegt, dass künstlerische Fähigkeiten vom Nervensystem beeinflusst werden - und, wie sehr das menschliche Gehirn fähig ist, sich den ihm gestellten Anforderungen anzupassen.

Was passieren kann, wenn im Gehirn die Wahrnehmung von anderen notwendigen Informationen isoliert werden, belegt eine Studie von Psychologen und Neurowissenschaftlern der University of Princeton Wenn etwa die Gehirnregion des parietalen Cortex auf Grund einer Verletzung Schaden genommen hat, kann es vorkommen, dass Gliedmaßen nicht als die eigenen empfunden werden. Dann könnte es sein, dass man morgens aufwacht und sich fragt, wer einem denn das fremde Bein ins Bett gelegt hat. Zwar hat das Gehirn noch die Information, kann das Bein noch wahrnehmen; auch Logik und Wahrscheinlichkeit sprächen dafür, dass es das eigene ist - dennoch will das Bein trotz einwandfrei funktionierender Muskeln nicht ohne weiteres gehorchen. Nur dann, wenn es dem Gehirn gelingt, sich der Situation anzupassen.

Laut der Studie wurde die Gehirnregion lokalisiert, die dafür sorgt, dass der Körper und seine Extremitäten richtig positioniert werden. Besonders der Sehsinn und die Eigenwahrnehmung des Körpers müssen dafür im Gehirn koordiniert werden. Dazu testeten Michael Graziano und seine Kollegen Affen auf deren Neuronen-Reaktionen mithilfe künstlicher Arme. War die Aufmerksamkeit der Affen dank der optisch verdeckten echten Arme nur noch auf die künstlichen gerichtet, reagierte noch fast ein Drittel der Neuronen genau wie zuvor. Nur wenn diese auch nicht mehr zu sehen waren blieb jede Reaktion aus. Daraus schlossen die Wissenschaftler, dass diese speziellen Neuronen für die Koordination zwischen Wahrnehmung und Eigenmotorik zuständig sind.