Alternativen zum Betreuungsgeld

Wenn die Bundesregierung sinnvoll in frühkindliche Betreuung investieren will, braucht es keine "Herdprämie"

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Am Freitag beriet der Bundestag über die Einführung des umstrittenen Betreuungsgeldes, nachdem der erste Versuch Mitte Juni an der mangelnden Beschlussfähigkeit des Parlaments gescheitert war. Ob die regierungstragenden Parteien nun endlich eine gemeinsame und mehrheitsfähige Linie finden, ist weiter ungewiss. Die CSU droht weiter prophylaktisch mit dem Ende der Zusammenarbeit. "Scheitert das Betreuungsgeld, dann scheitert die Koalition", meinte CSU-Chef Horst Seehofer am vergangenen Wochenende.

Alberner könnte das neuerliche Säbelrasseln aus der bayerischen Staatskanzlei nicht sein. Denn wenn die Koalition platzt, landen die Pläne für das Betreuungsgeld vermutlich schneller im Altpapier, als der Ministerpräsident seine persönliche Familienplanung abschließen kann.

700 € Betreuungsbudget

Die CSU hat die Einführung des Betreuungsgeldes zu einer Grundsatzfrage stilisiert und mit ihrer rückwärtsgewandten Familienpolitik die absurdesten Begehrlichkeiten geweckt. Klaus Zeh, einst Familienminister in Thüringen und Initiator des kaum innovativeren Erziehungsgeldes, fordert als Präsident des Deutschen Familienverbands nun ein Betreuungsbudget in Höhe von 700 €. Die Finanzminister wären sogar dankbar für diesen Vorschlag, glaubt Zeh.

Schließlich wende die öffentliche Hand für einen Krippenplatz bis zu 1.000 Euro auf, während das Betreuungsgeld gerade einmal 150 Euro koste. Die Autoren des gerade erschienenen Bildungsberichts 2012 beurteilen die Lage ganz anders - vor allem mit Blick auf den ab August 2013 geltenden Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung für 1- und 2-Jährige.

Da die Finanzierung des noch ausstehenden U3-Ausbaus - zuzüglich der notwendigen qualitativen Verbesserungen - alle Beteiligten vor erhebliche Herausforderungen stellt, besteht die Gefahr, durch zusätzliche Leistungen wie dem Betreuungsgeld keines der intendierten Ziele zufriedenstellend realisieren zu können.

Bildungsbericht 2012

Das Betreuungsgeld würde den Staat nach dem vergleichsweise günstigen Einführungszeitraum 2013 (400.000 Euro) Jahr für Jahr mehr als eine Milliarde Euro kosten. Auch der Ausfall von Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen für nicht mehr erwerbstätige Elternteile dürfte sich negativ auf die Lage der öffentlichen Kassen auswirken.

12.000 bis 20.000 Fachkräfte fehlen

Wenn Summen in dieser Größenordnung zusätzlich in die frühkindliche Entwicklung fließen sollen, ist dagegen wenig zu sagen. Aber es gibt dringendere und effizientere Investitionsmöglichkeiten. Eine Reihe von Baustellen zeigt ein gerade erschienenes Bulletin des Deutschen Jugendinstituts (DJI), das dem Ausbau, der Qualität und den Herausforderungen der Früherziehung gewidmet ist.

Thomas Rauschenbach und Matthias Schilling vom Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut der Technischen Universität Dortmund gehen beispielsweise der Frage nach, ob die Betreuungseinrichtungen der Bundesrepublik dem politisch gewollten Ausbau der frühkindlichen Betreuung auch personell gewachsen sind. Das Fazit fällt düster aus.

Zwar arbeiten derzeit rund 300.000 Erzieherinnen und Erzieher in der Kindertagesbetreuung, und die jährliche Abschlussquote der Fachschulen liegt bei etwa 20.000. Trotzdem werden nach derzeitigen Berechnungen im August 2013, wenn der Rechtsanspruch auf Betreuung für 1- und 2-Jährige greift, 12.000 bis 20.000 Fachkräfte fehlen. Zwischen den Bundesländern und Regionen gibt es erhebliche Unterschiede, doch Einzelbetrachtungen führen nur zu kleineren, aber nicht zu weniger beunruhigenden Ergebnissen.

Rauschenbach und Schilling spielen allerhand Szenarien durch, die von Rückhol-Aktionen für bereits ausgeschiedene Erzieher über die Arbeitszeitverlängerung für Teilzeitbeschäftigte bis zur Erhöhung der Übergangsquote von Absolventen reicht. Und es gäbe immer noch mehr zu tun:

Ebenso wären die Rahmenbedingungen für die neue Generation der Hochschulausgebildeten zu verbessern, damit auch für diese das Arbeitsfeld Kindertageseinrichtung attraktiv wird. Und nicht zuletzt könnte es auch erfolgversprechend sein, den Erziehungsberuf endlich durch eine bessere Bezahlung attraktiver zu machen.

Rauschenbach/Schilling: Zu wenig Fachkräfte für unter Dreijährige

Qualitätsfragen - "unkreative Interaktionsräume"

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) will prüfen lassen, ob "5000 Personen aus dem Rechtskreis SGB II und SGB III" zu Erziehern umgeschult werden könnten. Die jüngste Forschungsliteratur zeigt allerdings, dass die multifunktionale Erziehungsexpertin der Bundesregierung - abgesehen davon, dass vergleichbare Pläne schon früher nicht funktionierten - damit ein bereits bestehendes Problem weiter verschärfen würde.

Um die Aus- und vor allem um die Fortbildung der Fachkräfte steht es im Zeitalter permanent steigender Anforderungen nicht zum Besten. Erzieher sollen "die gesamte Bandbreite an unterschiedlichen Signalen, die Kinder senden, wahrnehmen und nachvollziehen können" und außerdem eine Bindung aufbauen, die nicht nur "sicherheits- und zuwendungsorientiert" ist, sondern auch eine "explorativ-kognitive Dimension" umfasst, fordert Regine Schelle von der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte des DJI. Aber damit seien viele Erzieher überfordert, sodass der Kindergarten zum "unkreativen Interaktionsraum" werde. Keine große Chance also, frühkindliche Bildungsprozesse phantasievoll zu begleiten und nachhaltig zu unterstützen.

"Flankierende Qualifizierungsmaßnahmen" hält Schelle für unerlässlich. Und das sind sie wohl auch, damit erfolgversprechende Initiativen langfristig Früchte tragen und nicht von der Alltagsroutine eingefangen werden.

Fachkräfte benötigen mehr Wissen darüber, wie Lernprozesse angeregt und unterstützt werden können. Nur dann kann langfristig eine konstruktivistische Lernumwelt im Kindergarten etabliert werden. Um dies zu erreichen, müssen sich auch die Bildungserfahrungen der Fachkräfte selbst verändern

Schelle: Bildung als Zusammenspiel

In diesem Sinne forcierte der Pädagoge Mathias Urban übrigens schon vor sieben Jahren die Debatte um die Akademisierung der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern und forderte bei der Gelegenheit, "das gesamte System der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung neu zu denken".

Zum System der Betreuung, Bildung und Erziehung gehören neben den Einrichtungen für Kinder auch Aus- und Weiterbildungsstätten, Verwaltungen, Trägerorganisationen, Kommunal-, Landes- und Bundespolitik, Forschungsinstitute und zunehmend auch Fachhochschulen und Universitäten. Als Akteure sind Väter und Mütter, Betreuungspersonen, Fachkräfte, Leitungs- und Führungskräfte, BeraterInnen, politische Entscheidungsträger, ForscherInnen und Lehrende beteiligt.

Mathias Urban: Professionalisierung und Qualitätsentwicklung im System

Im aktuellen DJI-Bulletin weist auch das Autorentrio Martina Heitkötter, Stefan Heeg und Heike Wiemert darauf hin, dass Qualitätsinitiativen nicht auf die Aus- und Weiterbildung des Personals beschränkt bleiben dürfen. Alle Akteure, aber auch Strukturen und Prozesse böten vielfältige Ansatzpunkte für eine Professionalisierung. Heitkötter, Heeg und Wiemert erläutern ihre These am Beispiel der Kindertagespflege, die von vielen Kommunen nicht als gleichrangig betrachtet werde. Eine zügige Professionalisierung dieses Bereichs sei damit praktisch unmöglich. Um den Reformstau aufzulösen, müssten Entscheidungsträger auf kommunaler Ebene …

… die Kindertagespflege als gleichwertiges Angebot der Kinder- und Jugendhilfe in das kommunale Gesamtbetreuungskonzept integrieren, die Organisation der Zuständigkeit transparent gestalten, die Kindertagespflege systematisch und sozialräumlich orientiert in die kommunale Bedarfsplanung des Betreuungsangebots einbeziehen, eine Kostengleichheit bei den Beiträgen herstellen und es letztlich den Eltern überlassen, den Betreuungsumfang selbst zu bestimmen.

Heitkötter/Heeg/Wiemert: Mehr als Qualifizierung. Was bedeutet Professionalisierung in der Kindertagespflege? Eine empirische Konkretisierung

(Vertane) Chancen

Dass sich die außerfamiliäre Betreuung von ein- bis zweijährigen und älteren Kindern im Idealfall positiv auf das Alltagsverhalten, das Sprachvermögen oder das Kommunikations- und Sozialverhalten auswirkt, kann kaum mehr ernsthaft bestritten werden. Insofern zielt schon die Idee des Betreuungsgeldes weit an den Erfordernissen einer modernen Familienpolitik vorbei.

Fest steht freilich auch, dass von einem Idealfall in vielen Einrichtungen der Kinderbetreuung keine Rede sein kann. Pädagogen der Otto-Friedrich-Universität Bamberg verweisen in ihrem Beitrag auf Ergebnisse der Nationalen Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Demnach erreichen mehr als 80 Prozent von 188 Krippengruppen ein mittleres Qualitätsniveau - und weniger als zehn Prozent gute Qualitätswerte. Auch bei einer Untersuchung von Kindergärten wurden vor allem Defizite festgestellt. Entsprechend bewegen sich die Fähigkeiten der betreuten Kinder auf einem "unzureichenden Niveau".

Dies gilt insbesondere für die Bereiche "globale kognitive Förderung", "Förderung von Literacy", also der frühen schriftsprachlichen Kompetenzen, und "Förderung von Numeracy", also der frühen mathematischen Kompetenzen. Als deutlich besser wird hingegen die "Förderung sozialer Fähigkeiten" beurteilt.

Katharina Kluczniok/Jutta Sechtig/Hans-Günther Roßbach: Qualität im Kindergarten

Trotzdem muss der Weg nicht zwangsläufig in die nächste Pisa-Katastrophe führen. Doch auch in diesem Bereich wären Investitionen in einer Größenordnung nötig, die das jährliche Volumen des Betreuungsgeldes leicht übersteigen könnten.

Um zukünftig die Qualität der Kindertagesbetreuung zu steigern, sind Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen bedeutsam. Dazu gehören Steuerungsmaßnahmen (wie zum Beispiel die Umsetzung der Bildungspläne und deren Überprüfung sowie systematische Qualitätsentwicklungs- und -sicherungsprozesse etwa in Form eines allgemeinen pädagogischen Gütesiegels), Maßnahmen zur Weiterentwicklung professioneller Handlungskompetenzen frühpädagogischer Fachkräfte (…) sowie verstärkte Forschungsbemühungen. Eine weitgehende Qualitätsverbesserung ist vermutlich nur zu erwarten, wenn diese Maßnahmen auf mehreren Ebenen ansetzen.

Katharina Kluczniok/Jutta Sechtig/Hans-Günther Roßbach: Qualität im Kindergarten

Es gibt also mehr als genug Möglichkeiten, zusätzliche Milliardenbeträge für den Bereich der frühkindlichen Bildung auszugeben. Man kann sie natürlich auch einfach versenken. Wenn daran eine Regierung scheitert, wäre das ein Novum. Aber durchaus verkraftbar.