Alternativen zum Raketenabwehrschild
Wegen der kaum zu lösenden Probleme bei der bislang verfolgten Technologie denkt das Pentagon nun über Atomwaffen zur Zerstörung von Langstreckenraketen nach
Das gigantische und milliardenschwere Lieblingsprojekt der Bushregierung, der nationale Raketenabwehrschild mit den "kill vehicles" (Die nationale Sicherheit verlagert sich in den Weltraum), scheint nun doch allmählich selbst das Pentagon nicht mehr ganz zu überzeugen. Kritiker haben dem Ansatz schon längst Untauglichkeit vorgeworfen. Nun scheint Verteidigungsminister Rumsfeld zu überlegen, auf eine Alternative zurückzugreifen, die in den 70er Jahren aus politischen und technischen Gründen verworfen wurde: Atombomben.
Trotz des beschworenen Kriegs gegen den Terrorismus hält die Bush-Regierung an Konzepten der Verteidigungspolitik aus dem Kalten Krieg fest (Die nationale Sicherheit verlagert sich in den Weltraum). Das betrifft sowohl die Verteidigung als auch die Nuklearwaffenstrategie. Da die von Präsident Bush markierte "Achse des Bösen" (Irak, Iran, Nordkorea) ebenso wie China die USA mit Langstreckenwaffen bedroht, stand die Regierung von Beginn an hinter dem weiteren Ausbau des nationalen Raketenabwehrschilds (NMD), was zum Bruch mit dem ABM-Abkommen nötigte.
Diplomatisch hatte ein Bericht der US-Geheimdienste unlängst zwar betont, dass ein Raketenabwehrschild gerade gegen Angriffe von Terroristen keine Nutzen haben werde, aber dass innerhalb der kommenden 15 Jahre die Bedrohung durch technisch weiter entwickelte Fernstreckenraketen aus Ländern wie "Schurkenstaaten" wie Iran, Nordkorea oder dem Irak, aber auch aus Russland und China zunehmen werde (Ist der von der US-Regierung geplante Raketenabwehrschild Unsinn?). Allerdings fügte der Bericht hinzu, dass der Schild zwar gegen wenige Langstreckenraketen einen Schutz bieten könne, aber auch kaum bei sogenannten MIRVs (multiple-independent re-entry vehicles), bei dem eine Rakete mehrere Sprengköpfe mit sich führt, die auf unterschiedliche Ziele gerichtet sind. Kombiniert mit gleichzeitig abgefeuerten Attrappen ließe sich mit solchen Systemen ein Abwehrschild austricksen, bei dem nur einzelne "kill vehicles" abgefeuert werden, deren Zielsysteme überdies durch Attrappen gestört werden kann. Neben dem Ziel des Ground-based Midcourse Defense (GMD) Systems (früher NMD), Raketen im Flug durch Raketen zu zerstören, die vom Boden abgeschossen werden, sollen auch weitere Systeme entwickelt werden, bei denen Raketen von Schiffen abgefeuert werden oder Flugzeuge bzw. Satelliten mit Laserkanonen startende Raketen vernichten sollen.
Auch wenn die letzten GMD-Tests angeblich erfolgreich gewesen sein sollen, wie die Ballistic Missile Defense Organization meldete - der letzte Test wurde am 15. März durchgeführt -, so sind diese Tests weitgehend unrealistisch, da dabei jeweils nur ein Täuschungsballon eingesetzt wird. Bei einer Vielzahl von Sprengköpfen und vor allem Attrappen steht zu vermuten, dass der Infrarotsensor und der Sensor für sichtbares Licht des Zielsystems im "exoatmosphärischen Abschusskörper" (EKV = exoatmospheric kill vehicle) kaum verlässlich genau genug funktionieren wird - und bei mehreren Raketen sowieso unzureichend ist.
Im Kalten Krieg hat das Pentagon bis in die Mitte der 70er Jahre mit Raketen experimentiert, die mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet waren, um Langstreckenraketen im Flug zu vernichten (beispielsweise Nike-Zeus, Nike-X , Sentinel und Safeguard, siehe auch: Nuclear ABMs). Die Versuche wurden nicht nur aus politischen Gründen eingestellt, sondern auch, weil durch die Atomexplosion und die damit entstehenden elektromagnetischen Schockwellen auch in der Nähe befindliche eigene Satelliten zerstört sowie Radarsysteme am Boden und elektronische Systeme lahmgelegt werden können. Wie die Washington Post berichtet, hatte sich Verteidigungsminister nun an William Schneider, den Vorsitzenden des Defense Science Board gewandt, dass Atomwaffen in eine Studie über Alternativen zur Abwehr von Langstreckenraketen aufgenommen werden sollten. Rumsfeld habe sich an dieser Möglichkeit interessiert gezeigt.
Tatsächlich wären Raketen mit Nuklearsprengköpfen eine Möglichkeit, die kaum zu überwindenden Probleme der bislang verfolgten Technologie, die darauf ausgerichtet ist, angreifende Raketen durch den Aufprall auf ein Geschoss zu zerstören, zu umgehen. Bei einer Atomwaffenexplosion müssen die wirklichen Angriffsziele nicht automatisch von den Attrappen unterschieden werden, da die Wucht der Explosion in einem bestimmten Umkreis die Raketen zerstört. Überdies hätte eine Strahlung, wenn sie stark genug ist, den "Vorteil", auch biologische oder chemische Waffen zu zerstören.
Angeblich hatte man den Einsatz von Atomwaffen bereits zu Beginn der Bush-Regierung bei einer Überprüfung von Alternativen zum geplanten Raketenabwehrschild erwogen, aber diese Idee dann wieder fallen gelassen. Nachdem jetzt mit dem bekannt gewordenen Nuclear Posture Review Report jedoch auch der strategische Einsatz von Mini-Nukes etwa zur Zerstörung von tief unter der Erde befindlichen feindlichen Anlagen oder von Atomwaffen als Reaktion auf die Verwendung von Massenvernichtungswaffen oder auch nur auf den Besitz derselben durch "Schurkenstaaten" überlegt und der ABM-Vertrag aufgekündigt wird (Mini-Nukes gegen Schurkenstaaten), darf offenbar die militärische Fantasie, was Atomwaffen angeht, wieder wie zur Zeit des Kalten Kriegs ausschweifen. Die ehemalige Sowjetunion und jetzt Russland hatten allerdings schon immer auf Atomraketen zur Abwehr von Langstreckenraketen gesetzt.
Schneider, der selbst aus der Zeit des Kalten Krieges stammt und bereits als Sicherheitsberater für die Reagan-Regierung gearbeitet hatte, sagte, dass man diese Möglichkeit schon seit 30 Jahren nicht mehr ernsthaft geprüft habe. Der letzte Test sei 1971 durchgeführt worden. Zeit also anscheinend, um wieder die unterbrochene Geschichte fortzusetzen.