Am Ende einer weiten Reise
Zum Tode von Stanislaw Lem, dem bedeutendsten zeitgenössischen Science-Fiction-Autor Europas
Zwei Dinge fielen mir ein, als ich vom Tod Stanislaw Lems hörte: die Frage "Wieso gestorben?" und der abgeschmackte Begriff "Altmeister". Einerseits ist das eine reichlich absurde, ja peinliche Reaktion, andererseits aber auch gut verständlich: Wir halten uns alle für unsterblich, und in einem Akt der großzügigen Übertragung gönnen wir gerne auch denen illusionäre Unsterblichkeit, auf die wir uns berufen, denen wir viel verdanken. Unsere Gewährsleute sollen Gewissheit verbürgen, wenn sie sterben, gerät ein Stück Selbstgewissheit ins Wanken. Und das kann im Bereich der Literatur eben auch mit Menschen geschehen, die man nie persönlich getroffen hat.
Wann habe ich "Solaris" gelesen, den Text von Stanislaw Lem, mit dem er in Erinnerung bleiben wird, nicht nur, weil er sein bester ist, sondern weil er zwei Verfilmungen erfahren hat, die ihn dem Welt-Mediengedächtnis erhalten werden? Fünfzehn oder sechzehn war ich, ich weiß es nicht mehr genau. Woran ich mich genau erinnere, ist der Zustand, in dem ich dieses Buch zuklappte: nämlich mit einer gewissen Trockenheit in der Kehle, einem Herzklopfen, das jene literarischen Offenbarungen kennzeichnet, die so selten und so kostbar sind in einer Lesebiographie, die vielleicht gar nicht häufiger vorkommen dürfen, weil sie den Leser sonst überfordern würden.
Es war etwas geschehen in mir durch die Lektüre dieses Buchs, etwas hatte mich gestreift, und ich war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Seither ist dieser Zustand noch mehrere Male aufgetreten, im Kontakt mit Lyrik, mit der sogenannten ernsthaften Literatur, auch mit der Musik, aber nur noch selten bei der Science Fiction, jener wunderbaren und erbärmlichen Kunst, die so oft auf Kunst verzichten zu können glaubt, die sich so wenig selbst vertraut wie keine andere, und auch aus diesem Grund zu den Schmuddelkinder der Literatur gehört.
William Gibsons Roman "Neuromancer" hat mich seinerzeit noch so berührt, einige seiner Erzählungen vielleicht, und einiges von Lem selbst, so zum Beispiel "Der Unbesiegbare". Aber was war es genau, was mich hier so elektrisierte?
Heute würde ich sagen: die Kühnheit Lems. Der Mut, mit dem er einer wenig attraktiven, epigonalen und manchmal sterilen Literaturform Vision, Poesie, literarische Genauigkeit beibrachte. Wie er da hin ging und sagte: Euch zeig ich, dass bestimmte Erfahrungen und Konstellationen unseres Zeitalters überhaupt nur im Rahmen der Science Fiction verhandelbar sind, und nirgendwo sonst. Euch zeige ich, wie das absolut Fremde in der Literatur benannt und beschworen werden kann, ohne dass man zu billigen Kostüm- und Theatertricks greifen muss. Ich stelle dar, wie es Menschen in einer Welt geht, die nicht für Menschen gemacht ist, die uns zwar auf höchst unklare und manchmal tief verstörende Weise entgegen kommt, aber von der nicht zu sagen ist, ob sie uns auf Dauer auch nur toleriert.
Freier Geist im extremen Jahrhundert
Dass Lem die Kühnheit besaß, all dies in einem repressiven Gesellschaftssystem zu sagen, das dann doch flexibel und vernünftig genug war, ihn an diesem Punkt gewähren zu lassen, lernte ich erst später zu schätzen. Und das war Lems Lebensprogramm: unter einengenden Umständen für seine Leserschaft die Moderne in all ihren erschreckenden Facetten einzuholen und in Literatur zu übersetzen, ob diese Leserschaft das nun unbedingt zu schätzen wusste oder nicht. Das gilt für jeden seiner Romane, von dem ersten, rein realistischen "Hospital der Verklärung" bis zu "Fiasko", seinem letzten Roman von 1987.
Lem, und das muss als seine historische Leistung betrachtet werden, zeigte, was man im "Jahrhundert der Extreme" (Eric J. Hobsbawm) als freier Geist sagen konnte, wenn man klug genug war, sich beim Klugsein von den Dummen nicht erwischen zu lassen. "Solaris", "Der Unbesiegbare", "Der Schnupfen", "Eden", "Robotermärchen", "Memoiren, gefunden in der Badewanne" (ein Roman, der Staats- und Geheimdienstparanoia auf unnachahmbare Weise darstellt) - so heißen einige Wegmarken dieser langen Wanderung durch das Labyrinth des 20. Jahrhunderts.
Die einzigen, die unter vergleichbaren Umständen mit Lem auf dem Gebiet der Science Fiction mithalten konnten, waren die Gebrüder Arkadij und Boris Strugatzki. Freilich, man tut dem Andenken Lems keinen Gefallen, wenn man verschweigt, dass er sein Pulver verschossen hatte, als er 1987 Fiasko veröffentlichte. Der Roman ist ein schwer lesbares philosophisches Traktat, das von einem gewissen Hang zur Pedanterie gekennzeichnet ist. Erst recht nicht schließen die späteren medien- und technologiekritischen Essays zur gedanklichen und literarischen Höhe auf, die Lem mit seinen früheren Texten so spielend erreicht hatte. Zu sehr trat jetzt ein Kampf um den eigenen Rang in den Vordergrund, der paradoxerweise längst gesichert war.
Es stimmt, auch die ständigen Hinweise Lems, er habe diese oder jene technologische Entwicklung, diese oder jene Problemlage zuerst erkannt, vorausgesagt, benannt, sind nicht völlig ohne Halt: "Der Unbesiegbare" mag gut und gern eine der ersten literarischen Darstellungen von Schwarmintelligenzen enthalten haben, wie sie heute in verschiedenen Wissenschaftsbereichen, von der Biologie bis zur "Künstlichen Intelligenz" Furore machen. Aber der Nachdruck, mit der sich Lem im Alter immer wieder als Meisterdenker in Szene setzte, brachte ihm von verschiedener Seite den Vorwurf der Penetranz ein. "Selbstdemontage" war einer der herberen Wertungen, denen das Alterswerk Lems begegnete.
Dennoch: Es gibt keinen Zweifel an der überragenden Bedeutung Stanislaw Lems für die Science Fiction. Als er es aufgab Science Fiction zu schreiben, hat er das Genre als einen "hoffnungslosen Fall" bezeichnet (vgl. "Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir graut"), eine starke Behauptung, für die es gute Gründe gibt. Allerdings ist sein Werk weiterhin einer der besten Gründe dafür, die Science Fiction für den interessantesten unter den hoffnungslosen Fällen zu halten.
Die Kolumnen von Stanislaw Lem in Telepolis