Am Rio de la Plata (vorerst) keine Rebellion
Unterschiedliche Tendenzen in Südamerika
Während im andinen Teil Südamerikas, am Pazifik, der Oktober als der Monat der Rebellion in die Geschichte eingehen wird, heißt es am Rio de la Plata: business as usual, die traditionelle Politik hört nicht auf die Stimme der Straße nach einem anderen Wirtschaftsmodell und mehr Demokratie.
In Argentinien wurde am Sonntag gewählt und der peronistische Herausforderer Alberto Fernández gewann, wie Telepolis vorausgesagt hatte (Der einstige Hoffnungsträger hat alle Erwartungen in den Sand gesetzt), mit 48,10 Prozent (Montagmorgen, Ortszeit). Damit erspart er sich die Stichwahl. Der wirtschaftsliberale Präsident Mauricio Macri (40,38 %) muss am 10. Dezember seinen Hut nehmen. Der frühere Wirtschaftsminister Roberto Lavagna bekam magere 6,17 Prozent und das (trotzkistisch orientierte) linke Wahlbündnis FIT schlappe 2,16 %.
Die bis 2015 regierende Cristina Kirchner de Fernández trat, nach langer Sendepause, bei der Siegesfeier ihrer Partei wieder öffentlich auf. Sie hatte sich aus dem Wahlkampf weitgehend herausgehalten, vermutlich, um keine Wähler zu verschrecken. Gegen sie sind 13 Verfahren wegen Korruption anhängig, bisher hat sie ihre Immunität als Senatorin gerettet, und ab Dezember wird sie Vize-Präsidentin der Nation.
In der bevölkerungsreichen Provinz Buenos Aires erhielten die Peronisten 52,18 Prozent. Der einzige Trost für die Rechte war ihr Sieg in der Stadt Buenos Aires mit satten 55,83 %.
In Argentinien wird es vorerst ruhig bleiben
Während viele ein Finanzchaos und die Schließung der Banken befürchtet hatten, öffneten am Montagmorgen die Wechselstuben und Geldhäuser wie gewohnt. Allerdings dürfen die Bürger jetzt nur noch 200 Dollar pro Monat legal kaufen, nachdem der Greenback in den letzten Tagen auf offiziell 65 Pesos gestiegen war. Die Woche vor dem Urnengang hatte Macri vier Milliarden Dollar Reserven für Stützkäufe ausgegeben. Ob am 10. Dezember in der Zentralbank noch Devisenreserven verfügbar sind, ist mehr als fraglich.
Während die Wall Street eine Rückkehr des Linkspopulismus fürchtet und Jair Bolsonaro aus Brasilia pöbelt, Argentinien habe "falsch gewählt", zeigen sich die heimischen Unternehmer entspannt; sie hatten nicht nur mit dem Ergebnis gerechnet, sondern sogar zur Wahl des gemäßigten Peronisten aufgerufen. In ihren Augen ist Macri ein Verräter. Wie konnte er zulassen, dass reihenweise Bauunternehmer wegen Korruption verfolgt wurden, darunter Paolo Rocca, CEO des Bau- und Stahlkonzerns Techint, mit besten Beziehungen nach Italien. Auch gegen ihn wurde ein Verfahren wegen Krimineller Vereinigung und Schmiergeldzahlungen eröffnet und er musste "Klavier spielen" (tocar el piano), wurde erkennungsdienstlich behandelt - welch Schmach für den capo di tutti i capi.
In Buenos Aires hielten sich die Jubelfeiern in Grenzen. Die Leute warten ab, ob sich die Wirtschaft und damit der eigene Geldbeutel wieder erholen. Im Gegensatz zu den andinen Ländern wird es dank des Regierungswechsels in den kommenden Wochen in Argentinien ruhig bleiben. Die Apparate der Parteien funktionieren, die Linke stellt das politische System und das Wirtschaftsmodell nicht in Frage. Sie hat kein Projekt.
In Uruguay verlor die Linke ihre Mehrheit
Auch auf der anderen Seite des Rio de la Plata Uruguay wurde am Montag gewählt. Hier erlitt das links-liberale Bündnis Frente Amplio mit 39,2 % einen herben Stimmenverlust und verlor seine parlamentarische Mehrheit in beiden Kammern. Es wird sich im November einer Stichwahl gegen den konservativen Kandidaten Luis Lacalle Pou stellen müssen. Das wird für die FA eng. Zwar kann sie auf Erfolge ihrer 15 Jahre Regierungszeit verweisen: Die Armut ist gesenkt worden, Abtreibung und Marihuana wurden legalisiert. Aber es wurden die eigenen Leute mit Posten versorgt und Hinterzimmerpolitik betrieben.
Das kleine Land zwischen Brasilien und Argentinien gilt heute bei IWF und den Finanzmärkten sowie bei der Zellstoffindustrie als Musterschüler. Das Vorhaben, für die Verbrechensbekämpfung künftig Militärs einzusetzen, lehnten die Uruguayer am Sonntag mit 46,7 % ab.
Die Linke im östlichen Teil Südamerikas, also die Atlantik-Anrainer Brasilien, Uruguay und Argentinien, hat sich in den Parlamentarismus geflüchtet und überhört die Forderungen aus dem andinen Teil. In Brasilien sieht sie sich in der Opferrolle und setzt alle Kräfte für eine Rückkehr der PT in die Regierung ein, in Uruguay und Argentinien bewegt sich die Linke nicht aus der traditionellen Politik heraus und schielt auf Wahlergebnisse.
Rebellion im Osten Lateinamerikas
Im westlichen Teil des Subkontinents hat die Rebellion im Oktober Erfolge gezeitigt - die Linke spielte dabei kaum bzw. gar keine Rolle. In Ecuador wurden die Proteste von der CONAIE koordiniert, dem indigenen Dachverband. Die Demonstrationen sind vorerst ausgesetzt, denn im Moment verhandelt die CONAIE mit der Regierung und Vertretern der katholischen Kirche und der Vereinten Nationen.
Ein Ergebnis oder ein Kompromiss ist unwahrscheinlich, denn bei den Oktober-Protesten ging es nicht nur um die Erhöhung der Treibstoffpreise, sondern um das Wirtschaftsmodell. Dazu kommt, dass die Regierung in Quito kaum einen Spielraum hat, denn ihre nationale Währung ist der US-Dollar. Wie also soll sie den Konsum ankurbeln - außer mit neuen Krediten? Weitere Proteste werden sich kaum vermeiden lassen, warum auch? Schließlich haben die Oktober-Demonstrationen bewiesen, dass sich eine Massenbewegung durchsetzen kann.
In Chile haben die Demonstrationen der letzte Woche nicht nur die Rücknahme der Preis-Erhöhung für die U-Bahn gebracht. Angesichts von Millionen Chilenen auf der Straße trat das gesamte Kabinett zurück, Präsident Sebastián Piñera heuchelte Selbstkritik und legte einen Reformkatalog vor.
Vor einem Monat hätte er damit vielleicht die Proteste verhindert, doch inzwischen gehen die Forderungen viel weiter, und es rebellieren nicht nur die Ärmsten, sondern auch die Mittelschicht. Sie wollen ein neues Renten- und Gesundheitssystem aber auch eine neue Verfassung und eine Kürzung der Diäten für Berufspolitiker und Spitzenbeamte, und damit sind auch die Abgeordneten der Linken und Sozialdemokraten gemeint. In gelben Westen wird auf den Autobahnen das Ende des räuberischen Mautsystems gefordert.
In Peru hat Anfang Oktober Präsident Martín Vizcarra das Parlament aufgelöst, weil sich die Abgeordneten seiner Anti-Korruptionskampagne in den Weg stellten. Neuwahlen wurden ausgeschrieben, und die traditionellen Parteien fürchten um ihre Pfründe.
Auch in Bolivien ist die Hölle los - und es sind nicht nur die Anhänger des konservativen Herausforderers Carlos Mesa, sondern auch viele, die von Evo Morales enttäuscht sind. Sie machen ihn für das Abfackeln des Regenwaldes im Osten des Landes verantwortlich und werfen ihm Arroganz und Wahlbetrug vor.
Die bolivianische Verfassung erlaubt nur eine einzige Wiederwahl, und die Volksabstimmung 2016 sprach sich gegen seine erneute Kandidatur aus. Doch das Verfassungsgericht setzte sich darüber hinweg und gab Morales grünes Licht. Und dann wurde am Wahlsonntag (vor einer Woche) ganz mysteriös die Auszählung der Stimmen ausgesetzt. Hatte am Abend die Tendenz noch sieben Prozent Vorsprung für Morales ergeben, kletterte diese Zahl auf über zehn %, nachdem, Stunden später, das Auszählen kommentarlos wieder aufgenommen wurde. Mehr als 10 Prozent Vorsprung machen die Stichwahl überflüssig, Morales erklärte sich bereits zum Wahlsieger.
Neue Proteste sind angekündigt. Ungewiss ist, inwieweit Polizei und Militär gegen die Bevölkerung vorgehen wird. Morales drohte, ab Montag die Städte von Bauernorganisationen umzingeln zu lassen, um die Versorgung mit Lebensmitteln zu unterbinden. Einige Zufahrtsstraßen wurden am Wochenende bereits von Gewerkschaften und Kokabauern aus dem Chapare blockiert, um den "Staatsstreich der Rechten und der Opposition" niederzuschlagen.
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