Am Tag danach
Konsequenzen aus dem Terroranschlag in den USA
Wenn man immer und immer wieder dieselben Bilder von den brennenden Bürotürmen im Süden Manhattans sehen muss, um glauben zu können, was passiert ist, dann muss man wohl unter Schock stehen. Wenn die Medien sich immer und immer wieder der traumatischen Wiederholung widmen, ist dies der Versuch, die Realität zu begreifen.
Angekommen sind wir in dieser Realität jedoch noch nicht. Gefährlich ist es daher, jetzt schon über Konsequenzen zu mutmaßen. Doch kein Zweifel: Der konzertierte Anschlag auf New York und Washington kam nicht völlig überraschend. Warnende Stimmen wie den ägyptischen Präsidenten Mubarak oder auch Nelson Mandela auf der UNO-Rassismuskonferenz in Durban hatte es gegeben. Auch wurden in den letzten zehn Jahren, nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, vielfach Szenarien entwickelt, die den Terrorismus als neue Bedrohung definierten.
Begründet wurden und werden mit diesen Szenarien tief in die Bürgerrechte einschneidende Pläne und Maßnahmen (Der Bankier des Terrors im Dickicht des Netzes). Schon 1998, als die USA versuchten Europa, von ihrer restriktiven Kryptopolitik zu überzeugen, argumentierte der damalige Kryptobotschafter David Aaron mit etwaigen Terrorattentaten Ussama Bin Ladens. Aber auch in jüngster Zeit gab es wieder eine Menge Beispiele dafür, dass bereits aus der bloßen Angst vor Terrorismus oder auch Computerterrorismus hart erkämpfte Freiheiten bereitwillig aufgegeben werden: das Europäische Rechtshilfeabkommen mit der Lizenz zum grenzüberschreitenden Abhören, das Europäische Cybercrime-Abkommen, der Umgang mit Polizeidaten im Zusammenhang mit dem Genueser G-8-Treffen.
Die wirkliche Bedrohung der Zivilisation
"Es reicht!", möchte man rufen. Doch angesichts dieses klandestin geplanten, heimtückischen Attentats auf die US-amerikanische Zivilbevölkerung, durchgeführt mit Hilfe von Zivilflugzeugen, sind jetzt noch mehr Einschnitte zu befürchten. Zivilisationen werden nach abendländischem Verständnis von mit bestimmten Grundrechten ausgestatteten Bürgern getragen, den civis. Fast könnte man meinen, die unbekannten Attentäter wollten mit ihrer Vorgehensweise die Zivilisiertheit selbst erproben.
Ein Bekennerschreiben gibt es nicht. Doch der Anschlag selbst, der auf Bürger mit nicht-militärischen Mitteln durchgeführt wurde, ist bereits eine klare Botschaft, ebenso die Auswahl der Ziele: das Wahrzeichen für die ökonomische Stärke der USA, das Welthandelszentrum, das Wahrzeichen der Militärmacht USA, das Pentagon, das Wahrzeichen für die politische (Verhandlungs-Ohn-)Macht, Camp David. Dieses zivile Pearl Harbor trägt vor allem aufgrund des Ziels "Camp David" die Signatur des unbarmherzigen Nahost-Konfliktes, in dem täglich zivile Opfer zu beklagen sind. Bevor man diesen Schluss jedoch wirklich ziehen kann, müssen mehr Informationen über die vierte Maschine, die aus bislang ungeklärten Gründen in Pennsylvania zu Boden ging, vorliegen: War Camp David tatsächlich das Ziel? Warum stürzte die Maschine vorher ab?
Allein aufgrund des zeichenhaft orchestrierten Anschlags ist es allerdings unwahrscheinlich, dass noch ein Bekennerschreiben auftauchen wird. Viele Detailfragen bleiben wohl für längere Zeit ungeklärt. So zum Beispiel, wie die Planungen im Geheimen erfolgen konnten, warum die US-Geheimdienste blind waren. Wurde die Kommunikation verschlüsselt? Wurde bewusst nur harmloser Kommunikationstraffic generiert? Handelt es sich um eine eingeschworene, sektenhafte Tätergruppe? Wie steht es um das technologische Know-How der Täter? Wie konnte der Funkkontakt der entführten Flugzeuge zum Bodenpersonal wirksam unterdrückt werden? Wie konnte ein Linienflugzeug gezielt zum Absturz gebracht werden? Übernahmen erfahrene Kidnapper-Piloten das Kommando? Dass nicht etwa ein Autopilot auf bestimmte GPS-Koordinaten programmiert wurde, zeigen übrigens die Flugmanöver selbst.
Sicherheitspolitische Reflexe
Nichts liegt jetzt für die Politik näher, als ihre sicherheitspolitischen Prioritäten neu zu überdenken. Dass man dabei in alte Formationen schnell zurückfindet, zeigt die erste Reaktion von Bundeskanzler Gerhard Schröder, der wie alle anderen NATO-Mitglieder die uneingeschränkte Solidarität mit den USA bekundete. Doch welche Maßnahmen bieten wirklichen Schutz vor Terrorakten? Die Frage ist immer die einer "angemessenen Sicherheit".
Die NATO-Staaten werden sich nur schwer zu dem Bekenntnis durchringen können, dass es gibt einfach keine angemessenen Sicherheitsmassnahmen für ein solches Szenario geben kann. Darin liegt das Perfide des Anschlags. Als Reaktion auf die Attacke von Zivilmaschinen auf die Zivilbevölkerung als präventive Sicherheitsmaßnahme die Militarisierung der gesamten Zivilbevölkerung ähnlich wie in Israel zu fordern, würde an die Grundfesten der angegriffenen Zivilgesellschaft rütteln. Diese liegen eben gerade nicht in der Militarisierung, in der Vereinheitlichung, in der Beschneidung von Bürgerrechten.
Doch was macht die "wehrhafte Demokratie" aus? Darüber muss die Politik in den nächsten Wochen und Monaten trefflich streiten können. Ist es wie im Nahen Osten das Prinzip der Vergeltung der Vergeltung? Zwar ist die Zeit kostbar, doch überhastete Maßnahmen könnten der demokratisch verfassten Zivilbevölkerung nachhaltig schaden.
Folgen für die IT-Politik
Allein schon die Tatsache, dass die Überwachungs-Supermacht USA in diesem Fall versagt hat, könnte die internationale Abhörpolitik, die in den vergangenen Jahren unter dem Vorzeichen des Terrorismus eh schon verschärft wurde, weiter konsolidieren. Zu befürchten ist beispielsweise, dass die Bundesregierung unter dem Eindruck des Ereignisses in einer Art sicherheitspolitischem Reflex von ihrer liberalen Kryptopolitik abzurücken beginnt - und sei es nur, um ein Zeichen staatlicher Regulierungsstärke zu geben. Im Herbst soll der Zwischenbericht vorgelegt werden, dies sahen die 1999 verabschiedeten Kryptoeckwerte vor. Eigentlich ist er schon abgestimmt, doch solch ein Anschlag hat die Wucht, auch solche Papiere zu verändern. Dasselbe gilt natürlich auch für die Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV), von der erst am Wochenende ein dritter Entwurf bekannt wurde (Wirtschaftsministerium gibt Gas bei der Lauschverordnung).
Der forschungspolitische Sprecher der SPD, Jörg Tauss, setzt deshalb auf einen entgegengesetzten Kurs: Er will "präventiv" die sicherheitspolitische Debatte "auf die Frage ausrichten, wo terroristische Aktionen in einer technisierten Gesellschaft ihre fürchterlichen Wirkungen entfalten können" und damit die im letzten Jahr eingeschlafene Debatte um die kritischen Infrastrukturen wiederbeleben. Das will er auch gleich in die gestern abgebrochenen Haushaltsdebatte einbringen: Die Sicherheit des IT- und Softwarebereichs muss aus seiner Sicht ein "Forschungsschwerpunkt" werden. Man darf gespannt sein, mit welchen Vorschlägen seine sicherheitspolitischen Kollegen jetzt in der Haushaltsdebatte aufwarten. Einige Betreiber von anonymen Remailern, denen Beihilfe unterstellt werden könnte, üben jedenfalls schon jetzt Selbstzensur und stellten gestern vorsichtshalber ihre Dienste ein.