"Amerika braucht eine 'Tote Hand'" zur nuklearen Abschreckung
Mit der US-Luftwaffe verbundene Wissenschaftler schlagen ein autonomes KI-System vor, da neue Waffen wie Hyperschallraketen kein Zeitfenster mehr für menschliche Entscheidungen lassen
Curtis McGiffin, Vizedekan des Air Force Institute of Technology, und Adam Lowther vom Louisiana Tech Research Institute, das auch mit der US-Luftwaffe verbunden ist, haben in einem Artikel einen eigenwilligen Vorschlag gemacht. Sie schreiben unter dem Titel "Amerika braucht eine 'Tote Hand'", dass die USA im neuen Wettrüsten ein "auf Künstlicher Intelligenz basiertes automatisches strategisches Reaktionssystem" entwickeln müsse. Das amerikanische NC3-System (nuclear command, control, and communications) stamme weitgehend noch aus dem Kalten Krieg, als es noch genügend Vorwarnzeit gegeben habe, auch wenn diese zuletzt mit den von U-Booten abgefeuerten Raketen schon auf 15 Minuten geschrumpft ist.
Hyperschallraketen, Stealth-Marschflugkörper und KI würden die Zeitspanne so schrumpfen lassen, dass der US-Präsident nicht mehr vernünftig entscheiden könne oder jeder "human in the loop" die erforderliche Reaktionsgeschwindigkeit nur behindern würde. Konkret benannt werden neue, in der Entwicklung befindliche russische Waffen wie die Marschflugkörper Kaliber-M and Kh-102, das nuklear betriebene Poseidon-U-Boot oder der manövrierbare Hyperschallraketengleiter Avangard Objekt 4202, die das amerikanische NC3-System unwirksam machen könnten (Gefährliches Wettrüsten mit Hyperschallraketen).
Die sowjetische "Tote Hand" für das Gleichgewicht des Schreckens
Es geht also darum, das sowjetische Konzept der "Toten Hand" aus dem Kalten Krieg auf der Grundlage autonomer Systeme zu übernehmen. Auch die USA hatten im Kalten Krieg NC3-Systeme entwickelt, die auf KI basierten, die aber angeblich keinen Angriff automatisch auslösen konnten. Mit dem Konzept wollte die Sowjetunion mit einem System sicherstellen, dass dann, wenn die sowjetische Führung durch einen Erstschlag gezielt ausgeschaltet werden sollte, automatisch ein nuklearer Gegenangriff gestartet wird, um so die gegenseitig zugesicherte Zerstörung (MAD) aufrechtzuerhalten.
Mit der "Toten Hand" oder "Perimetr" reagierte die sowjetische Führung auf die Entwicklung von Präzisionsraketen, die einen Enthauptungsangriff auf die politische und militärische Führung ermöglichen oder deren Kommunikation mit den strategischen Einsatzkräften unterbrechen könnten, um das Gleichgewicht des Schreckens wiederherstellen. Der Gegner - die USA - könnte zwar davon ausgehen, die Führung ausschalten zu können, würde damit aber einen Gegenangriff auslösen. 1985 soll das System einsatzbereit gewesen sein. Wie weit die Sowjetunion das System vollständig realisiert und ob es Russland weitergeführt hat, ist nicht bekannt.
Es dient jedenfalls auch dem Gleichgewicht des Schreckens, an dem seit der Installation des amerikanischen Raketenabwehrschilds und der darauf folgenden russischen Aufrüstung bis hin zur Entwicklung von Ultraschallraketen gerüttelt wird, wenn der Oberbefehlshaber der russischen Strategischen Raketentruppen, Sergej Karakaev, 2011 versicherte, dass das System weiter aktiv sei. Viktor Yesin, der ehemalige Befehlshaber der strategischen Raketentruppen Russlands in den neunziger Jahren, hatte letztes Jahr in einem Interview mit dem Wochenmagazin Zvezda noch einmal bestätigt, dass das System funktioniert und "modernisiert" worden sei. Überdies warnte er davor, dass Russland seine Doktrin des nuklearen Rückschlags aufgeben könne, wenn die USA Raketen in Europa stationiert, um zu einer Doktrin des Präventivschlags überzugehen.
Kern des russischen Systems Perimetr, das in Friedenszeiten ausgeschaltet ist, sind mit Funksendern ausgestattete, an vielen Stellen in gepanzerten und getarnten Silos startbereite Kommandoraketen. Sie werden nach Auslösung des Alarms automatisch gestartet und schicken Aktivierungscodes direkt an alle Atomraketen, wenn es nicht innerhalb einer bestimmten Zeit einen Befehl gibt, den Vergeltungsschlag zu stoppen. Perimetr, dessen Anlagen in einem Kommandobunker vermutet werden, verarbeitet zahlreiche Informationen aus den Frühwarnsystemen, der militärischen Kommunikation, der seismischen Aktivität, der radioaktiven Werte etc.
Sobald eine Atomexplosion durch plötzliche Änderungen bestimmer Parameter festgestellt wird, prüft das System fortwährend vier Bedingungen. So wird als erster Schritt getestet, ob noch eine Verbindung zum Generalstab besteht. Wenn diese vorhanden ist, wird das System automatisch gestoppt. Wenn die Verbindung zum Generalstab ausgefallen ist, werden Verbindungen zu anderen Kommandoebenen überprüft. Auch hier würde der Alarm abgebrochen, wenn es eine Verbindung gibt. Wenn nicht, schaltet das System in den Angriffsmodus um, stellt den Kontakt mit allen nuklearen Angriffskapazitäten her und sieht angeblich noch eine Frist von 45 Minuten vor, in der der Angriff, also als erstes der Start der Kommandoraketen, noch abgeblasen werden könnte. Dann werden die Kommandoraketen gestartet, es kann nicht mehr eingegriffen werden. Der gesamte Vorgang soll in einer Stunde ablaufen.
"Die prophetischen Bilder der SF-Filme werden schnell zur Wirklichkeit"
Das Konzept der "Kalten Hand" zeigt, wenn es denn wirklich automatisch ablaufen kann, noch eine Zurückhaltung. Es würde vom Militär zwar aktiviert werden, wenn es zu einer Krisensituation kommt, aber nur dann den Plan abarbeiten, wenn es tatsächlich zu einem nuklearen Angriff gekommen wäre. Lowther und McGiffin sind der Meinung, dass die USA, um den Abschreckungseffekt aufrechtzuerhalten, ein automatisches, auf KI basiertes System entwickeln müssten, das aufgrund einer Ausgangslage blitzschnell und ohne Einbeziehung eines Menschen autonom entscheidet, welche Reaktion angemessen ist. Es könnte womöglich dann auch präventiv reagieren.
Die Autoren räumen ein, dass dies Vergleiche mit der Weltuntergansmaschine von Dr. Strangelove, dem NORAD-Computer WOPR (War Operation Plan Response) aus dem Film "War Games" oder Skynet aus dem Film "Terminator" nahelegen würde, "aber die prophetischen Bilder dieser SF-Filme werden schnell zur Wirklichkeit". Die Autoren stellen sich vor, dass der Präsident im Vornehinein eine Reaktion auf bestimmte Situationen bestimmt und dass dann das KI-System alleine "einen Angriff ausmacht, entscheidet, welche Reaktion angemessen ist (basierend auf zuvor beschlossenen Optionen) und dann eine amerikanische Reaktion steuert".
Betont wird, das sei dann sehr viel mehr als nur ein automatisiertes System wie das der "Toten Hand", weil "das System selbst die Reaktion aufgrund der eigenen Beurteilung der kommenden Bedrohung bestimmen wird". Dass solche autonomen KI-Systeme letztlich aufgrund der nuklearen Aufrüstung zwingend werden, hatten wir auch schon beschrieben: Hyperschallwaffen erzwingen Wettrüsten der autonomen Systeme.
Die Autoren gehen drei mögliche Optionen durch, um die Abschreckung aufrechtzuerhalten: erst nach einem Angriff mit einer verstärkten und veränderten Rückschlagskapazität zu antworten, Verbesserungen des Warnsystems vor dem Abschuss einer Atomwaffe, was zu einem präventiven Angriff führen könnte (der angeblich den "amerikanischen Werten" widerspricht), oder eine Modernisierung der Atomwaffen, um die Reaktionszeit für den Gegner zu verkürzen und ihn an den Verhandlungstisch zu Abrüstungsgesprächen zu bringen. Aber alle drei Optionen hätten ihre Nachteile, zudem würden vor allem China und Russland ihre Modernisierungsprogramme fortsetzen, beide Staaten seien auch nicht mit den "moralischen Dilemmata" beschäftigt, "die Amerikaner nicht schlafen lassen".
Das KI-basierte System könnte zumindest das Problem des schrumpfenden Zeitfensters lösen. Immerhin räumen die Autoren ein, dass KI viele Probleme verursachen kann, man müsse auch berücksichtigen, dass die KI-Entwickler womöglich ihr Produkt nicht mehr kontrollieren können. Jede Option berge Risiken, aber die USA dürften nicht mehr nur alte Waffensysteme durch neuere ersetzen, sondern die nukleare Abschreckung müsse heute grundsätzlich neu überdacht und beantwortet werden.
Möglicherweise geht es aber auch nur darum, die Existenz eines autonomen KI-Systems vorzugeben, um Gegner abzuschrecken. Wer weiß auch schon, ob Perimetr wirklich funktioniert. Schließlich gäbe es auch für ein KI-NC3-System nur simulierte Daten, mit denen es lernen und Szenarien durchspielen könnte. Es wäre also von vorneherein abgekapselt in einer Möglichkeitsblase ohne jede empirische Erfahrung. Kein guter Ausgangspunkt für eine "doomsday machine", mit der die Welt für den Menschen unbewohnbar gemacht werden könnte.
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