Amerikanische Kunst im Digitalzeitalter

"Bitstreams" und "Data Dynamics" im Whitney Museum of American Art

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Jim CampbellŽs "Portrait of a Portrait of Harry Nyquist" hätte es sicher nie als exemplarisches Motiv auf die Einladungskarte von "bitstreams" geschafft: Die Ästhetik der milchweißen Plexiglasscheibe, hinter der 192 weiße Leuchtdioden immer wieder die unscharfen Konturen eines Gesichts aufbauen, repräsentiert so gar nicht das neue Millenium, oder die Dot-Com-Ära, geschweige denn das ubiquitäre iMac-Design. Wenn man jedoch der kleinformatigen Arbeit inmitten von "bitstreams" begegnet, scheint sie wie ein Kommentar zum ehrgeizigen Unterfangen der Ausstellung. Das "Portrait" zeigt den legendären Ingenieur Nyquist und evoziert das nach ihm benannte "Nyquist Limit": Den Quotienten, welcher die Menge der Information bestimmt, die in einem gegebenen System vom Analogen ins Digitale konvertiert werden kann.

"Portrait of a Portrait of Harry Nyquist", von Jim Campbell

Dazu bedient sich Campells Arbeit eben nur dieser 192 kleinen LEDs, die durch wechselnde Leuchtintensität ein hinter der Milchglasscheibe weichgezeichnetes Antlitz formen. Dieses Gesicht verschwindet im Minutenrythmus in einer Art weißem Rauschen, um sich dann langsam wieder aufzubauen. Die Verteilung der Lämpchen entspricht ungefähr einer Auflösung von 4 dpi (dots per inch / Punkte pro 2,5 cm) - ein Alptraum für Papis Ferienbilder auf der Picture Disc, aber ein gezielter Kommentar zur angenommenen Notwendigkeit von HighTech für die Kunst, zumindest wenn sie in einer Ausstellung wie dieser präsentiert werden will.

Und das hat sich "bitstreams", vom 22. März bis zum 10. Juni im Whitney Museum of American Art, vorgenommen: Als erste Museumsausstellung in New York einen Überblick über die "Kunst im digitalen Zeitalter" zu geben. Die Maßgabe ist so weit gefasst wie nur möglich: alle Kunst, die nur irgendwie mit digitalen Prozessen in Berührung gekommen war, qualifiziert sich für die Auswahl, welche zum Großteil von Lawrence Rinder vorgenommen wurde. Der Grund für diese Bandbreite liegt in dem von Rinder vorausgesetzten breiten Einfluss, den digitale Technologien inzwischen auf alle unsere Lebensbereiche, und damit unausweichlich auch auf unsere Wahrnehmung haben. Diese Effekte werden internalisiert und haben folglich auch Auswirkungen auf unsere Ideen zu Kunst und Ästhetik; natürlich auch in jenen künstlerischen Bereichen, in denen sich das Produkt nicht bereits durch die Art seiner Herstellung als ein digitales outet - beispielsweise Malerei und Skulptur.

Jeff Elrod, Carl Fudge und Jon Haddocck illustrieren diesen Ansatz in unterschiedlicher Weise. Während Elrod eher uninspiriert seine fahrigen Mauslinien in N-Form per Projektor auf einer Leinwand nachmalt, variiert Fudge seine ins Abstrakte verarbeiteten Vorlagen von Dürer bis Sailor Chibi Moon in vier Farben im Siebdruckverfahren. Dies sind nun nicht die Innovationen, die sich der voreingenommene Besucher erhofft hatte, sondern diese Gemälde wirken wie Reproduktionen der Kunstgeschichte, beeinflusst von Benjamins "Kunstwerk...", bzw. Stellas frühen schwarzen Bildern, gemalt vor den Shaped Canvasses. Haddocks Photoshop Imaginationen der "Screen-Shot"-Serie dagegen kommentieren unsere neuen Rezeptionsweisen viel direkter und abstrahieren eine andere Ebene: Auf allen Bildern sieht man Personenkonstellationen während dramatischer Ereignisse, wiedererkennbar aus den Nachrichten, wie Rodney Kings Verprügelung oder Martin Luther Kings Ermordung. Durch Haddocks Bearbeitung scheinen die Bilder aus den bekannten Computerspielen "The Sims" zu stammen. Was zunächst wie eine Illustration des Slogans, "Computerspiele erzeugen Gewalt", daher zu kommen scheint, entwickelt gleichzeitig eine unheimliche, fast folkloristische Ästhetik. Haddocks Bilder vermischen unsere Informationsrealität mit einem vereinfachten Computerabbild in einer Weise, die die Glaubhaftigkeit unserer Informationsvermittlung fraglich erscheinen lassen.

Bei John F. Simon und Jeremy Blake setzt sich das Gemälde in Bewegung: Beide Künstler hängen in der Schau große Flachbildschirme an die Wand, um ihre im Computer und auf Video erzeugten Bilder zu präsentieren. In beiden Fällen handelt es sich um abstrakt-geometrische, sich ständig verändernde Kompositionen. Simons "Bilder" kombinieren große und kleine Farb- und Schwarzweißflächen, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten wachsen und manövern, dass es eine Freude, und nie dasselbe ist. Zugrunde liegen den Werken Simons selbstgeschriebene Computerprogramme - für manchen Connaisseur die einzig anerkannte Computerkunst. Jeremy Blake geht in seinen Bildbearbeitungen für "Station to Station" narrativ vor, als wolle er seinen Begriff der "time-based paintings" auch auf der thematischen Ebene unterstreichen: Jeder der fünf Monitore steht für eine Station auf dem Weg eines Zugs von der Innenstadt in den Vorort. Was sich dabei an unscharfen Farbflächen bewegend kombiniert, wird von den Autoren des Katalog-Heftchens bereits mit Monet verglichen: Digi-Impressionismus? Dass Flachbildschirme erhältlich, und sicherlich bald auch erschwinglich sind, wird diese Art der Bildpräsentation gewiss zu neuen Blüten treiben. Wie jeder Technik ist diesen Objekten aber schon die Kuriosität der alternden Maschine eingeschrieben - mithin vielleicht auch die Renaissance, zwei, drei Dekaden später.

"Skull" von Robert Lazzarini

Die Skulptur in der Ausstellung ist geprägt von den Möglichkeiten des "Rapid Prototype", des dreidimensionalen Printouts, wie er in bestimmte Werkstoffe per Laser direkt vom Computer produziert werden kann. Diese extrem artifiziell wirkende Materialität befördert noch mehr den Gedanken, hier im klassischen Sinne Kabinettstückchen vor sich zu haben. Das gilt für Robert Lazzarini, dessen vier im Computer anamorphotisch verzerrten Totenschädel auch tatsächlich an den vier Wänden eines extra aufgebauten Räumchens hängen; wie auch für die Wirbelsäulen ähnelnden biologistischen Entwürfe Michael ReesŽ. Beide Künstler scheinen jedoch mit der ihren Arbeiten inhärenten Kuriositätenebene zu spielen: Rees, wenn er seine lang gezogenen, "ajna" betitelten Säulen mit Ohren auf braune, mit gedrechselten Beinen versehene Tische stellt. Und Lazzarini durch den Bezug seiner "Skulls" auf Holbein und andere Künstler des 16. Jahrhunderts, zu deren Zeit die Auseinandersetzung mit der Perspektive Spiel und Wissenschaft in einem war: Gerne würde man dies auf die Computer von heute übertragen, deren Wirklichkeitsrepräsentation doch so getragen von der Zentralperspektive ist - und viel zu ernst genommen wird. Jedoch wird man eher das Gefühl nicht los, mit einer in der US-Kunst auch in diesem Jahrhundert nicht so seltenen Barockhaftigkeit konfrontiert zu sein, die in keinster Weise ironisch gemeint ist.

"Heatseeking" von Jordan Crandall

Der Ausstellungsmacher Anspruch, alles, was auch nur peripher mit digitaler Technik in Berührung gekommen ist, zeigen zu dürfen, verhilft "bitstreams" zu zwei beeindruckenden Arbeiten. Was Lutz Bacher und Jordan Crandall verbindet, ist die Technik: beide zeigen Videos, die ganz oder teilweise mit Überwachungstechnologie zustande gekommen sind. Darüber hinaus sind die Werke jedoch so unterschiedlich, wie es ein gemeinsames Medium nur erlaubt. Crandall zeigt mit "Heatseeking" übermannsgroß sechs Videos von insgesamt 24 Minuten Länge in einem dunklen Raum. Die meist in schwarzweiß gehaltene Bilder wurden mit unterschiedlichsten Technologien aufgenommen, beginnend mit 16mm Film bis hin zur Nachtsichtausrüstung der US Grenzpatrouillen. Ursprünglich war die Arbeit von "InSite 2000" in Auftrag gegeben worden, einer Ausstellung, die alle 2 Jahre an der US-Mexikanischen Grenze bei San Diego/Tijuana stattfindet. In Bezug auf diese Umgebung nehmen die Bilder jene gewalttätige Grenze als Anlass, wo jedes Jahr Hunderte von MexikanerInnen beim Versuch, in die USA zu gelangen, festgenommen oder gar bei Unfällen verletzt oder getötet werden. Crandall verzichtet jedoch auf das direkte Abbild dieser Realität, wie auch auf Bilder des gigantischen Zauns, der die beiden Länder trennt. Statt dessen sieht man Szenen von sexuellen Begegnungen und Gewalttätigkeiten, inszeniert vor dem Hintergrund rauher Wüste oder innerhalb von Industriegebäuden und wie von Nachtsicht- und Überwachungskameras registriert. Crandall überträgt hier die Dramatik der Grenze auf das zwischenmenschliche Verhalten und weist mit dieser Generalisierung zwar auf die Allgegenwärtigkeit von Grenzen und Gewalt hin; zumindest in San Diego empfand man dies jedoch als Ambivalenz. Dennoch erzeugten dort die Videos auch durch ihre Präsentationsweise in handtellergrossen, Organizer-ähnlichen Internetempfängern einen gewissen Sog: man hielt die sexualisierten Bilder in der Hand und hatte das Gefühl, tatsächlich einer Überwachungskamera zu folgen. Die Präsentation in New York verliert dagegen ganz eindeutig an Präsenz; wer wenig Zeit hat verlässt achselzuckend den Raum.

Die Dramatik in Lutz Bachers Arbeit speist sich aus ganz anderen Umständen. "Closed Circuit" ist die editierte Version von 1200 Stunden Videomaterial, das innerhalb eines Jahres von einer Überwachungskamera aufgenommen wurde, die sich über dem Schreibtisch der Galeristin Pat Hearn befand. In ihrer 40-minütigen Auswahl gibt Bacher jedem Bild ein anderes Gewicht, wertet sozusagen die im Zeitraffer gefilmten Bilder subjektiv nach Emotionalität des Augenblicks oder auch nach formalen Kriterien aus. Was als konzeptuelles Werk durch die Eintönigkeit und Dramatik des Alltagslebens führt, erfährt eine Steigerung durch den in New Yorks Kunstwelt allgemein bekannten Kampf, den die Galeristin Hearn gegen einen frühen Krebstod führte - und letztes Jahr verlor. Bacher, die bereits in den vergangenen Jahren eine Kamera mit Blick auf das Besucherbuch in der Galerie montiert hatte, wusste natürlich um diese Krankheit Hearns. Und auch wenn die Arbeit ohne diesen Umstand gewertet werden möchte - davon kann man durch Präsentation und Katalogtext, die beide darüber schweigen, ausgehen - kann man vermuten, dass Bacher Pat Hearn hier ein Denkmal, besser, ein Memorial errichtet hat.

"Closed Circuit", von Lutz Bacher

Zwischen den Arbeiten weiterer KünstlerInnen widmet "bitstreams" der Produktion elektronischer Musik ein sehr prominent plaziertes, vom NYer Designteam LO/TEK entworfenes Environment. Dort findet man die CDs unterschiedlichster MusikerInnen, von Elliot Sharp über den notorischen DJ Spooky bis hin zu einer Coproduktion der Künstlerin Ann Hamilton mit Musiker Andrew Deutsch: in diesem pathetischen Machwerk nimmt Deutsch die Geräusche Hamiltons beim Zeichnen auf, um sie ihr nach Bearbeitung als AmbientCD, zu Hören beim Zeichnen, wieder zuzueignen. Daneben fällt durch mehrere Bandnamen auf, dass sich die Verwendung der deutschen Umlautzeichen in Amerika wieder steigender Beliebtheit erfreuen: Nach den Alt-Metallern Motörhead gibts nun Töshöklabs und V. Michael (The Spacewürm).

Die Stärke von "bitstreams" ist gleichzeitig die Schwäche dieser Ausstellung: Der Ansatz der Organisatoren, die Auswirkungen der digitalen Technologien auch auf die traditionellen Disziplinen der Kunst darstellen zu wollen, ist begrüßenswert weil notwendig. Lange Jahre haben viele der im digitalen Bereich arbeitenden KünstlerInnen die Bedingungen vorgeschoben, die ihnen die Technik diktierte, wenn es darum ging, ihre Haltung zu Kunst und Kunstgeschichte zu befragen. Wenn die "digitale Bedingung" nun so allgegenwärtig ist, wie nicht nur hier hervorgehoben wird, ist es an der Zeit, sie als selbstverständlich anzunehmen und der unter ihr produzierten Kunst keine konzeptuellen oder formalen Zugeständnisse mehr zu machen. Das vermeidet allerdings auch "bitstreams" nicht immer.

Vor allem aber fehlen der Ausstellung, und der sie begleitenden Internetabteilung "Data Dynamics", nun gerade die Arbeiten, die sich auch konzeptuell mit den Arbeitsbedingungen in den wie immer gearteten digitalen Feldern beschäftigt haben - dies natürlich in Relation zur Kunst. Zum Teil liegt das am Museum: Das Whitney hat als Museum of American Art den Auftrag, amerikanische, oder doch zumindest in Amerika produzierte Kunst zu zeigen. Viele der wegweisenden Arbeiten, beispielsweise im Internetbereich und auch in der Musik, sind aber in Europa entstanden - gleichzeitig leben nicht viele dieser internationalen KünstlerInnen in NY, da das dortige Kunstklima vom Markt und den Galerien bestimmt wird. Und dieses war bislang recht frostig für die rein digitalen Artisten, da deren Arbeiten oft nicht kunstmarktkonform daher kommen. Die in "bitstreams" praktizierte Vermischung der Disziplinen könnte ein Zeichen sein, dass sich daran nun etwas ändert.