Amerikas oberster Pfadfinder

Bush kündigt an, nach der Sommerpause als moralischer Pfadfinder der Nation den rechten Weg zu weisen

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Bush gilt seinen Kritikern als politisch ideenlos. Wer die politische Ideengeschichte zwischen revolutionärer Tugendherrschaft, tausendjährigen Reichen und sozialistischen Urparadiesen Revue passieren lässt, könnte darin einen Vorteil sehen. Bush aber wurmen diese Dauerangriffe auf seine Würde als Staatsmann und Weltenlenker. Weiland galt bereits sein Vater als ewiger Ja-Sager und Langweiler, der dann erst im Golfkrieg mit Saddams Hilfe zur wahren staatsmännischen Würde heranreifte. Auch daran arbeitet Bush.

Da Politik die Kunst ist, das Unmögliche möglich zu machen, muss das auch für ihre Fähigkeit zur Selbstprogrammierung gelten. Was hilft noch weiter in einer Zeit des Sittenverfalls, der Auflösung der guten Werte und Häresie, wenn Familien zu kürzesten Lebensabschnittsenttäuschungen werden und sich Sündenböcke nicht mehr auf ihre Rolle als Schuleckensteher bescheiden, sondern lieber blutige Schulmassaker verüben? Allein Moral, Charakter, Familientugenden und Hausvaters Weisheiten können die schlingernde Gesellschaft aus dem Schlamassel helfen. Bush will jetzt das moralische Klima seiner Gesellschaft verbessern, um das ökologische Gleichgewicht Amerikas wenigstens auf diesem nationalen Wege zu retten.

"Communities of Character" heißt die neueste Parole aus dem Weißen Haus. Die pluralistische Gesellschaft soll zur Charaktergemeinschaft verschweißt werden. Der Präsident bescheidet sich auf diesem Königsweg zum Heil nicht länger nur auf die Funktion eines politisches Exekutivorgans, sondern avanciert jetzt zum obersten moralischen Führer. Dafür bringt er die besten persönlichen Voraussetzungen mit: Kommt er doch nicht nur aus einer reichen Traditionsfamilie, sondern hat sich vom schwarzen Schaf, das mit Alkoholproblemen kämpfte, zum Wappentier des mächtigen Bush-Clans gemausert. Zwar mag sein Bruder und Floridas Gouverneur Jeb intelligenter sein. Fraglos wird auch "Dubya" mehr von der Sprache beherrscht, als dass er sie beherrscht. Die Bushisms sind inzwischen so berüchtigt wie Kohls Black-outs. Aber das ist nur die wohlfeile Schmäh von Demokraten oder negativistischen Intellektuellen der amerikanischen Westküste.

Bush kommt dagegen aus Texas - ein Name wie ein Programm! - und nimmt die Sommerpause zum Anlass, nach Klonverbot, Klimaschutz, Weltraumgolf nebst antiirakischen Routineschlägen dorthin zurückzukehren. Bush begründet die längste Urlaubsabwesenheit, die sich je ein Präsident genehmigte, damit, dass es wichtig sei, einige Zeit Washington zu meiden. Abstand vom glatten Parkett der Weltpolitik, ihren undurchsichtigen Interessenverflechtungen, um im "Heartland" echter Kerle und Rindviecher die uralte Kraft einer erdigen Gemeinschaft zu spüren. Hier käme der Geist über ihn, der ihn an starke Familien, echte Gemeinschaften und aufrechte Charaktere erinnere – eben jene Werte, die Amerika so einzigartig machten. Amerikanischer Antaios.

Das moralisch dekadente Europa kann von solchen bodenständigen Führern nur träumen. George W. gräbt die Werte der "Boy Scouts" aus dem urvertrauten Boden, der Amerika so groß gemacht hat. Das Gute eines Menschen oder einer Gesellschaft liege in diesen sehr einfachen Dingen. Jede Gesellschaft hänge von Vertrauen und Loyalität, Höflichkeit und Freundlichkeit, Mut und Ergebenheit ab. Das sind die Pfadfindergesetze und folglich werden daraus auch die Werte Amerikas geklont. It's all so simple, pure and natural.

Diese Moral soll indes nicht nur wie der Geist über den Wassern wabern, sondern tief in die exekutiven und legislativen Initiativen der näheren Zukunft einsickern, um Gemeinschaftsgeist und Familienwerte wieder zu validisieren, die schon verloren schienen. Praktische Moral mit Augenmaß: Bei der Wiedererstarkung der guten alten Familie etwa helfen selbstlos die neuesten technologischen Errungenschaften. Email-Anbieter sollen Großeltern und Enkel im Internet verbinden – vermutlich, weil im realen Leben zwischen Altenheim und Disco so wenig Begegnungschancen liegen. Auch die Schwangerschaftsverhütung für Teenager ist dem Family-man Herzens- und Schmerzensangelegenheit. In der Tat: Emailverkehr ist besser als alle Kontrazeptiva dieser Welt und schützt hundertprozentig vor Aids.

Aber am allerbesten ist die voreheliche Abstinenz. Klar, eine jungfräuliche Braut bleibt auf ewig treu. Und da behauptete vor einigen Jahren noch Norman Birnbaum kühn, der öffentliche Widerwille gegen Starrs fleckentriefende Untersuchung über Clintons Oral office habe gezeigt, dass die Tage des Puritanismus in Amerika vorbei seien. Selbstverständlich muss jetzt auch die Schmutz-, Schund-, Glamour- und Sensationspresse eingedämmt werden. Im Pfadfinder-Traum von der guten neuen Welt, die sich von der alten allein durch ihre technologische Unterfütterung unterscheidet, sollen jene charakterfesten Journalisten gefördert werden, die der Welt "gute Nachrichten" mitzuteilen haben. Landwirt Prendergast aus Iowa hat reiche Ernte eingefahren? Allein Krittlern ist schwer zu vermitteln, was die Pressestellen der Regierung je anderes gemacht hätten, als das Füllhorn von Froh- und Heilsbotschaften über dem ungläubigen Volk auszuschütten. Bush erweist sich als ein Nahverwandter des Altkanzlers Kohl, der mit der geistig-moralische Wende ja auch mächtige Impulse auslöste, die Gesellschaft und Politik nicht in den Sümpfen von Korruption und Werteverfall versinken zu lassen.

Bush will auch den nationalen Dialog wieder pflegen und Eltern die Instrumente an die Hand geben, ihre Kinder verantwortlich aufzuziehen. Welche Instrumente hier gemeint sind, könnte sich im Blick auf die kanadischen Fundamentalisten klären, die vor einigen Tagen in Amerika um politisches Asyl nachgesucht haben. Diese pädagogisch Erleuchteten wollen ihre Kinder wieder im christlichen Glauben schlagen dürfen, weil das erziehungsnotwendig sei und man Kinder auch liebevoll prügeln könne, wie der Sprecher der Gruppe weiß.

Die Sprecherin des demokratischen Nationalkomitees Jennifer Palmieri wirft Bush vor, zu substanziell notwendigen Veränderungen der Gesellschaft nicht bereit zu sein. Der Präsident würde den ewigen Konservativismus des rechten Flügels in einer neuen Packung kredenzen. Letztlich wisse er gar nicht, warum er Präsident sei und würde die realen Probleme des Landes links liegen lassen. Außer dem Zuckerstückchen der Steuererleichterungen habe er rein gar nichts im politischen Gepäck.

Die politischen Moralisten dagegen wissen, dass die Öffentlichkeit wieder eine starke Regierung will und verantwortliche Politiker, die dem Werteverfall Einhalt gebieten. Nun verfallen die öffentlichen Werte seit der Apologie des Sokrates kontinuierlich und die Menschheit hat es unerklärlicherweise überlebt. Und dass das Glück nur leere Seiten in der Menschheitsgeschichte schreibt, könnte andere Ursachen haben als die Klage über den Dauerverfall der Moral behauptet. Aber einer Statistik zufolge, die die öffentliche Meinung seit mehr als 30 Jahren beobachtet, seien die Amerikaner erheblich stärker als je zuvor über den Einbruch der Moral beunruhigt. Washington wiegelt zugleich ab: Der Kreuzzug für die Moral sei nicht religiös fundiert. Bushs Moralangriff auf die Gesellschaft stütze sich auf den Kommunitarismus, der die Fundamente der Zivilgesellschaft und ihre Agenturen wie Familien, Schulen und Nachbarschaften stärken will.

Nun gedieht Bushs neue alte Werteordnung zuvor in Gesellschaften prächtig, die mit dem Glück der einen das Unglück der anderen verbandelten. Gesellschaftliche Auflösungsprozesse werden nicht durch puritanische Appelle oder politisch-moralische Korrektheit, die nicht weiter als der eigene Hosenschlitz reicht, beeinflusst, sondern von strukturellen Bedingungen, die, wenn überhaupt, allenfalls von einer konkreten Politik gesellschaftlichen Interessenausgleichs verändert werden könnten. Jeder Pfadfinder sollte wissen, dass die Patches für gesellschaftliche Verbesserungen, die antiviralen Hilfsmittel nicht vom guten Geist allein leben. Aber im "Heartland" vertraut man eben auf die Gründe des Herzens, von denen der Verstand nichts ahnt. Oder in his master's own voice: "I believe what I believe is right". Es kann doch, Mephisto hin oder her, nicht unmoralisch sein, moralisch zu sein.