Amnesty: Foltervorwürfe gegen die syrische Regierung

Die Menschenrechtsorganisation beklagt, dass die Verschleppungen und Folterungen von syrischen Staatsbürgern durch Geheimdienste seit 2011 katastrophale Ausmaße angenommen haben

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Der neue Amnesty-Bericht schildert Höllenkreise unserer Tage: willkürliche Verhaftungen, Verschleppung, grausame Misshandlungen und Prügel als Willkommensgruß in Gefängnissen - nicht selten mit Todesfolgen -, erzwungene Geständnisse, Verurteilungen, Einzelhaft, in jedem Fall unerträgliche Haftbedingungen - das von vielen Schauplätzen bekannte Repertoire, das die menschliche Erfindungsgabe beim Quälen von Mitmenschen aufbieten kann.

Das Besondere des Berichts ist, dass es um Folter in Syrien geht und zwar nicht von Dschihadisten ausgeübt, sondern von den Geheimdiensten des syrischen Staates: den Geheimdiensten der Luftwaffe, des Militärs, des politischen Sicherheitsdienstes und des allgemeinen Geheimdienstes.

"It breaks the human"; Torture, disease and death in Syria’s prisons", wie der 73-seitige in Englisch verfasste Bericht betitelt ist, behauptet, dass die Geheimdienste wie auch damit verbundene Sicherheitskräfte Haft-und Quälanstalten in jeder größeren Stadt in Syrien haben, in Aleppo, Damaskus, Deir ez-Zour (auch Deir al-Zour), Dera’a, Hama, Homs, Idlib, Latakia und Tartus.

Auschnitt aus einem Amnesty-Video zum Folterbericht: Inside Saydnaya: Syria's Torture Prison

Ende Juli hatte sich Amnesty mit Foltervorwürfen gegen die türkische Polizei nach dem Putschversuch sich bereits in politisch brisantes Gelände begeben. Vorwürfe gegen die syrische Regierung haben nochmal eine eigene Dimension. Der Konflikt in Syrien ist mit enormen politischen und militärischen Interessen verbunden, der Krieg wird bekanntlich auch auf Informationsebene geführt, in den Medien.

"17.723 Menschen ums Leben gekommen"

Vorwürfe der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wie sie Amnesty gegen die Verantwortlichen in Syrien, also auch gegen die Regierung in Damaskus erhebt, liefern Munition für die Gegner der Regierung. Die syrische Nachrichtenagentur ignoriert den Bericht ganz einfach. Bis zum Nachmittag gegen 15 Uhr fand sich dort weder ein Kommentar noch ein Bericht. Auch russische Medien wie RT oder Sputnik berichteten bis zu diesem Zeitpunkt nicht darüber. Bei den westlichen Medien wird man hingegen schnell fündig.

Häufig wird schon im Titel auf das Ausmaß aufmerksam gemacht - "tausende Tote" - und spätestens in der folgenden Dachzeile kommt dann die Zahl, die auch in der deutschen Amnesty-Pressemitteilung gleich zu Anfang genannt wird:

Nach Schätzungen eines neuen Amnesty-Berichts sind seit 2011 in den Gefängnissen der syrischen Regierung 17.723 Menschen ums Leben gekommen

Amnesty.de

Die Schätzung stützt sich, wie der AI-Bericht erklärt1, auf die Arbeit der Human Rights Data Analysis Group (HRDAG). Die NGO, die zu Syrien auch mit dem OHCHR zusammengearbeitet hat, um Datensätze über Opfer des Konflikts zu ermitteln, verwende eine wissenschaftliche Herangehensweise, um Menschenrechtsverletzungen zu analysieren.

Die erstaunlicherweise bis in die Einerstelle genaue Schätzung von 17.723 in Haftanstalten von Staatsorganen getöteten oder umgekommenen Personen bezieht sich auf den Zeitraum vom 15. März 2011 bis 31. Dezember 2015.

Die große Zahl ist von außen nicht überprüfbar. Man müsste sich die Methodik und die Zahlenbasis der HRDAG genau anschauen. Dass die Opferzahlen groß sein können, dafür gibt es Anzeichen. Syrien war seit Jahrzehnten mit Geheimdiensten überzogen, jeder Besucher machte mit diesem Phänomen Bekanntschaft, meistens mit den freundlichen Vertretern.

Orte staatlicher Grausamkeit

Dies war allerdings nur eine Seite. Spätestens durch die extraordinary renditions, dem Verschleppungs- und Folterprogramm der CIA im vergangenen Jahrzehnt, bei dem die syrische Regierung ein Kooperationspartner war, bekam eine größere Öffentlichkeit mit, dass es in Syrien Orte staatlicher Grausamkeit gab.

Die meisten hatten sich damals mehr über die Perfidie der CIA aufgeregt als über die Tatsache, dass ein Nahost-Land ein Gefängniswesen hat, indem furchtbare Dinge jenseits der öffentlichen Wahrnehmung passieren. Dass politische Gegner autokratischer Regime schnell in solchen Höllen landen können, hat niemanden im Westen groß entrüstet. Auch damals berichtete Amnesty.

Jetzt ist die Lage anders. Foltervorwürfe gegen die Regierung Assad haben ein anderes politisches Gewicht. So ist auch zu erwarten, dass es Kritik nicht nur an der hohen Schätzung der in Gefängnissen Getöteten geben wird, sondern auch an der demgegenüber relativ kleinen Zahl von Zeugen, auf deren Aussage sich die konkreten Vorwürfe der Menschenrechtsorganisation stützt.

Der blinde Fleck

Es sind 65 Überlebende der Folter, wie sie AI beschreibt, 54 Männer und elf Frauen, aus unterschiedlichen Milieus, mit unterschiedlichen Berufen, vom Anwalt bis zum Tagelöhner. Sie waren im Zeitraum von 2011 bis 2015 in syrischen Gefängnissen eingesperrt. Mitarbeiter von Amnesty befragten sie persönlich in zwei unterschiedlichen Zeiträumen, im Dezember 2015 und im Mai 2016, nicht in Syrien, sondern in der Türkei (darüber hinaus auch via elektronischer Kommunikation). Daraus ergeben sich Angriffsflächen für kritische Blicke und mediale Gegenmaßnahmen.

Der AI-Bericht zeigt auf den blinden Fleck vorbehaltloser Unterstützung der Regierung Assad: das Leugnen oder Überspielen der Kehrseite der Machtpolitik, welche die Baath-Partei in Syrien über Jahrzehnte entwickelt hat. Jahrzehntelang war sie den politischen Spitzen im Westen egal.

Im Missverständnissen zu entgegnen: Dies ist kein Plädoyer für eine möglichst schnelle Absetzung der Regierung. Derzeit ist keine Alternative zum Baath-Partei-Regime, das mit dem syrischen Staat und seinen Institutionen verwachsen ist - und im Übrigen sehr viele Sunniten an entscheidenden Stelle hat (um mit diesem Mythos aufzuräumen) -, zu erkennen, die nicht noch ein schlimmeres Chaos wie etwa in Libyen befürchten lässt.

Ebenso wenig taugt der Amnesty-Bericht als Argument für eine militärische Intervention, dessen Folgen nach Stand der politischen und militärischen Verhältnisse eine Steigerung der Opferzahlen befürchten lassen.

Amnesty plädiert dafür, dass sich die International Syria Support Group, also Russland und die USA, um das Problem kümmern…