Amri: Die seltsamen Wege eines angeblichen Attentäters
Seite 2: Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus Berlin
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Einer dieser Widersprüche betrifft den angeblichen Attentäter - sowie jene Beamte, die mit ihm zu tun hatten. Dazu gehört ganz wesentlich der Leitende Oberstaatsanwalt Dirk Feuerberg aus Berlin, stellvertretender Chef der Generalstaatsanwaltschaft in der Hauptstadt sowie Leiter der Staatsschutzabteilung (Abteilung 17) in der Behörde. Ausgerechnet von einem derart ranghohen Beamten wurde die Akte einer Person geführt, die zum Verantwortlichen des schlimmsten Terroranschlages in Deutschland seit Jahrzehnten werden sollte.
Viele Spuren im Amri-Komplex führen zur Berliner Generalstaatsanwaltschaft und zu Feuerberg. Telepolis hat das wiederholt beschrieben. Unter anderem nach Feuerbergs Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss des Bundestages vor einem halben Jahr (Wenn ein Terroranschlag nicht aufgeklärt werden soll).
Jetzt hatte ihn der Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus als Zeugen geladen. Die über sechsstündige Befragung war wie eine Kopie der Befragung im Bundestag. Der Oberstaatsanwalt blieb bei seiner - allerdings mutwilligen - Linie, man hätte gegen Amri nicht strafrechtlich vorgehen können, seine realen Delikte hätten nicht für einen Haftbefehl ausgereicht. "Unser Arbeitsweise war alternativlos", so Feuerberg wörtlich.
Unhaltbar ist das vor allem im Zusammenhang mit Amris Beteiligung an einer gemeinsamen gefährlichen Körperverletzung, die auch als versuchtes Tötungsdelikt eingestuft werden konnte sowie seinem gewerbs- und bandenmäßigen Rauschgifthandel, den Feuerberg wie schon im Bundestag als Handel mit "kleinen Mengen" bezeichnete und damit verfälschte.
Zugleich bestritt er, dass Amri Teil einer organisierten Drogenhändlergruppe war. Dabei hatte der zusammen mit drei Komplizen drei andere Drogenhändler angegriffen, währenddessen es auch zu dem lebensgefährlichen Messerangriff gekommen war. Zwei der drei beteiligten Komplizen Amris wurden deshalb 2017 auch zu Haftstrafen verurteilt. Amri wäre also ebenfalls darunter gefallen.
Durch den Auftritt Feuerbergs verfestigte sich zugleich aber auch das Bild, dass der 2015 in Deutschland eingereiste Tunesier eine Sonderrolle im gesamten Staatsschutzkomplex spielte. Und das trifft allem Anschein nach auch auf die Generalstaatsanwaltschaft in Berlin zu, die quasi inoffiziell an Stelle des Generalbundesanwaltes in der Hauptstadt Terrorismusverfahren führt - derzeit 29 an der Zahl.
Dass Feuerberg die Akte Amri führte und im Verlaufe des Jahres 2016 mehrfach seine schützende Hand über den Kriminellen halten konnte, war streng genommen nicht vorgesehen. Der Oberstaatsanwalt sollte die Staatsschutzabteilung aufbauen und nicht als Sachbearbeiter konkrete Verfahren führen. Er tat es im eigenen Auftrag und gegen den Willen seines damaligen Chefs, Generalstaatsanwalt Ralf Rother, trotzdem. Wie er die Akte Amri führte, war allerdings nicht gerade nach den Regeln der Kunst, denn viele Sachverhalte kamen gar nicht zu den Unterlagen.
Feuerberg, der erfahrene politische Beamte und Rhetor, räumte das ein, beschönigte seine Aktenführung zugleich aber mit Sätzen wie: "Ich mache es anders, arbeite lieber mit weniger Aktenseiten." Manchmal könne es sein, dass jedes Wort zu viel, störe. Sein Vorgesetzter Rother bekam die Akte erst nach dem Anschlag zu Gesicht.
Sachverhalte, die nicht in die Akten gelangen - das ist Teil prophylaktischer Verschleierungstechnik.
Es ist schwer zu fassen, was der Behördenvize und Sachbearbeiter der Causa Amri alles nicht gewusst haben will: Dass eine nordrhein-westfälische Quelle, die VP 01, engen Kontakt zu seinem Kandidaten hatte. Dass der die Quelle wiederum als Spitzel bezeichnete und bedrohte. Dass es im Staatsschutzverfahren der Ermittlungskommission Ventum, bei dem Amri als Nachrichtenmittler Verwendung fand, um die zentrale mutmaßliche IS-Größe in Deutschland, Abu Walaa, ging.
Dass sich Amri tief in der gewaltbereiten dschihadistischen Szene bewegte. Dass das LKA die radikale Fussilet-Moschee in Berlin, in der Amri verkehrte, mit einer Kamera überwachte. Oder dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in der Moschee eine Quelle platziert hatte. All das will Feuerberg erst nach dem Anschlag erfahren haben.
Bei den Nachrichtendiensten hat er nicht nach Erkenntnissen zu Amri gefragt, Protokolle der Telefonüberwachung hat er nur in wenigen Fällen zur Kenntnis genommen, Berichte aus der Observation keinen einzigen gelesen. Dennoch verstieg sich der Leitende Oberstaatsanwalt zu dem quasi hellseherischen Satz: "Es ist nichts passiert, was man hätte observieren können." Arbeitet so tatsächlich ein Strafverfolger?
Eher gewinnt man den Eindruck, hier bewegte sich ein nominell islamistischer Gefährder wie unter der Käseglocke - sichtbar, aber unberührbar. Der Abgeordnete Benedikt Lux (Bündnis 90/Die Grünen) wählte ein alternatives Bild für den Sachverhalt: Nach dem Treffen im Berliner LKA im August 2016, bei dem Feuerberg es abgelehnt hatte, einen Haftbefehl zu beantragen, habe man "Amri mehr oder weniger bewusst von der Angel gelassen". Seine Frage an den Zeugen, ob von Amri abzulassen, vielleicht ein gewünschtes Ergebnis war, quittierte Feuerberg mit gespielter Entschiedenheit: "Zu keiner Zeit!" Das werde es bei ihm auch nicht geben.
Die Frage eines CDU-Ausschussmitgliedes, ob es politischen Druck auf ihn von Seiten einer Bundesbehörde oder einer anderen Stelle gab, verneinte er. Wieviel oder wie wenig diese Antwort wert ist, zeigte sich etwas später in der Vernehmung.
Nach dem Anschlag musste Feuerberg auf Drängen der Amtsleitung die Sachbearbeitung konkreter Verfahren aufgeben. Das sei ein "Wunsch" der Amtsleitung gewesen, allerdings mit der Zielsetzung es "möglichst zu tun". Man könnte auch sagen: eine Anweisung, die als "Wunsch" verpackt wurde. Die Frage wäre demnach, welche anderen "Wünsche" es gab, denen der loyale politische Beamte, als der er sich wiederholt erwiesen hat, nachkam.
Als Chef der Staatsschutzabteilung und zugleich Sachbearbeiter eines konkreten Verfahrens genoss Feuerberg keine Fach- und Dienstaufsicht - er war sozusagen seine eigene Aufsicht. Dafür kontrolliert er nun in gewisser Weise die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, die sein damaliges Handeln beleuchten sollen. Denn der Behördenvize Feuerberg ist in der Staatsanwaltschaft für die Vorbereitung und Freigabe der Akten an die Ausschüsse zuständig - also auch für die, die dem Abgeordnetenhaus geliefert wurden und werden. Das Material, anhand dessen die Parlamentarier ihn befragen können, geht durch seine Hände. Dass das ein Problem sein könnte, schien im Ausschuss noch nicht realisiert worden zu sein.
Zum Fall der beiden LKA-Beamten, die im Auftrag Feuerbergs die Ermittlungen gegen Amri führten, die Kommissare L. und O., die nach dem Anschlag die Amri-Akte manipulierten und seine Drogendelikte abschwächten, deren eigenes Ermittlungsverfahren dann durch die Generalstaatsanwaltschaft folgenlos eingestellt wurde, die aber dennoch vor dem Ausschuss die Aussage komplett verweigerten, hatte der Ausschuss beschlossen, beim Landgericht Antrag auf Erzwingung der Aussage durch Verhängung eines Ordnungsgeldes zu beantragen. Das ist immer noch nicht geschehen. Erst demnächst soll der Schriftsatz ans Gericht gehen. Die Aussageverweigerung von L. und O. war im April 2019.
Auch vom Konflikt zwischen dem LKA Nordrhein-Westfalen und dem BKA, der nach den Vorwürfen des Leiters der EK Ventum, Kriminalhauptkommissar R.M., Mitte November 2019 im Bundestag aufgeworfen wurde, lässt der Ausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus bisher weiterhin die Finger. R.M. hatte berichtet, das BKA habe Druck ausgeübt, damit das Düsseldorfer LKA eine V-Person (jene VP 01) vom Gefährder Amri abziehen sollte. Die Anweisung sei außerdem von "ganz oben" im BKA und im Bundesinnenministerium erfolgt. Beide Stellen haben dem widersprochen.
Letzte Woche nahm sich der NRW-Ausschuss zum Anschlag vom Breitscheidplatz der Frage an und hatte die Kontrahenten als Zeugen vorgeladen. Dabei bekräftigte R.M. seine Vorwürfe an die Adresse des BKA.
Gestützt wird seine Version durch seine inzwischen sichergestellten handschriftlichen Notizen vom Februar 2016, in denen er den Konflikt direkt danach festgehalten hatte und die auch bereits den Weg in die Medien gefunden haben. Bei seiner nächsten Sitzung am Donnerstag, 12. Dezember, wird sich der Untersuchungsausschuss im Bundestag erneut mit der Sache befassen.
Als Zeugen geladen sind unter anderem jener BKA-Beamte, der dem EK Ventum-Leiter R.M. erklärt haben soll, die Anweisung, die VP 01 aus dem Spiel zu nehmen, sei von ganz oben gekommen. Der bestreitet das. Gehört werden soll auch ein Vertreter der Bundesanwaltschaft, dem R.M. von dem fraglichen Gespräch berichtet haben will. R.M. selber soll sich für den Sitzungstag ebenfalls bereit halten.