Amri-Ermittlungen: Blut von "unbekannter Person" im Anschlags-LKW?

Bild: Karl-Ludwig Poggemann/CC BY-SA-2.0

Die Mordermittler im Fall Breitscheidplatz haben Spuren gesichert, die nicht vom angeblichen Täter Amri stammen, doch der Befund wird versteckt

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Kriminalbeamte der Mordkommission haben bei ihren Untersuchungen zum Anschlag vom Breitscheidplatz Blutspuren gesichert, die von einer unbekannten Person stammen. Also weder vom ermordeten polnischen Speditionsfahrer Lukasz Urban noch vom angeblichen tunesischen Attentäter Anis Amri. Unklar ist, ob sich die Spuren im Tat-LKW befanden oder auf einem Gegenstand aus dem Tat-LKW, der aus der Fahrerkabine herausgefallen sein könnte. Der Befund wird in den Akten, die für die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse sowie für die Rechtsanwälte der Opfer und Hinterbliebenen zusammengestellt wurden, verschleiert.

Zum wiederholten Mal ist damit keine geringere Frage aufgeworfen als die: Wer saß tatsächlich am Lenkrad des Anschlags-LKW? Spuren von Dritten, die nicht identifiziert sind, gibt es in der Fahrerkabine gleich mehrere. Eine Blutspur legt aber nahe, dass die betreffende Person beim Unfall dabei war. Doch wenn diese Person der Fahrer war, kann es nicht Amri gewesen sein. Und dann gäbe es schon mindestens zwei Attentäter. Denn Amri, der die Tatpistole bei sich trug, als er getötet wurde, kann als erster gesicherter Mittäter gelten.

Der Befund fand sich auf drei Wattestäbchen, die die Spurensicherer um den Leiter der Mordkommission Thomas Bordasch zusammen in eine Klemmverschlusstüte packten und ans Landeskriminalamt (LKA) Berlin, Abteilung Staatsschutz, übersandten. Von dort gingen die drei Spurenträger am 2. Januar 2017 zur Auswertung ans Kriminaltechnische Institut (KTI) des LKA.

Am 23. Januar 2017 lag das Ergebnis vor. Die Auswertung im KTI ergab, dass sich auf den Wattestäbchen No. 1 und No. 2 Blut eines Unbekannten befand, der die Zuordnung "unbekannte Person 8" (UP 8) bekam. Die DNA zeigte ein Vollprofil. Das Blut auf dem Wattestäbchen No. 3, ebenfalls ein DNA-Vollprofil, gehörte dem ermordeten Speditionsfahrer Lukasz Urban.

Die Ermittler hielten den DNA-Fund der UP 8 auf einem Meldebogen fest, damit er in der DNA-Analyse-Datei (DAD) beim Bundeskriminalamt (BKA) abgeglichen werden konnte. Das Ergebnis: Der Abgleich erbrachte "keinen nationalen Treffer". Die DNA war bisher nicht in der Datei registriert.

Das Spurenmaterial der UP 8 wurde, wie man weiter lesen kann, bei der DNA-Analyse "vollständig eingesetzt und verbraucht". Man kann die Untersuchung also nicht wiederholen. Der entsprechende Datensatz müsste jedoch vorliegen.

Dass die drei Wattestäbchen, mit denen üblicherweise Blut- oder DNA-Spuren aufgenommen werden, zusammengefasst wurden, legt den Schluss nahe, dass sie an derselben Stelle oder am selben Gegenstand verwendet worden sein müssen. Um was für eine Stelle oder einen Gegenstand es sich gehandelt hat, wird in den Akten verschwiegen.

Versehen oder Indiz für eine Manipulation?

Den drei Wattestäbchen wurden die Asservate mit den Nummer 0.5.4.1, 0.5.4.2 und 0.5.6.2 zugeordnet. Parallel erhielten sie die fortlaufenden Barcodes 16XAR019, 16XAR020 und 16XAR021, die Asservat und Spur zusammenfassen. Sie deuten ebenfalls darauf hin, dass die drei Spuren zusammenhängen. Das unterstreicht auch ein handschriftlicher Vermerk auf einer Aktenseite zum Asservat 0.5.6.2: "Original bei 0.5.4.1".

In den Akten findet sich im Untersuchungskurzbericht noch eine seltsame ermittlungsinterne Warnung: "Achtung: Die bereits vergebenen Spurennummern laut Vorgangsdatenblatt stimmten nicht mit den Spurennummern auf den Watteträgern überein." Die Barcodes hingegen, heißt es weiter, seien jeweils identisch gewesen. Ein solcher Fall kommt bei keinen anderen Spuren vor. Unterschiedliche Nummerierungen: Nur ein Versehen oder Indiz für eine Manipulation?

Wo wurde das Blut der unbekannten Person Nr. 8 aufgenommen? Woran befand es sich? Nun wird es abenteuerlich. In den Akten werden die verschiedenen Asservate normalerweise benannt und in den meisten Fällen zusätzlich mittels Foto abgebildet. Das letzte gelistete Asservat vor den Asservaten mit den Nummern 0.5.4.1 und 0.5.4.2 trägt die Nummer 0.5.3.44 und ist ein nicht näher bezeichneter Plastikdeckel. Den beiden unbekannten Asservaten folgt mit der Leitziffer 0.5.4.3 ein blutverschmierter Mehrfachstecker, dann mit der Nummer 0.5.4.4 ein Kissen.

Auch alle folgenden Asservate sind benannt und abgebildet. Die Nummer 0.5.5.1 erhielt eine Brille mit Etuihälften und dem Blut von Lukasz Urban. Bei der Asservaten-Nummer 0.5.5.3 handelte es sich um ein Kissen, das vor dem LKW gefunden wurde, aber laut Spurengutachten aus dem LKW stammte. Auch an ihm haftete Blut von Urban. Genauso wie an einer Plastiktüte von Netto mit der Asservaten-Nummer 0.5.5.4. Die Nummer 0.5.5.7 bezeichnet beispielsweise den Außenspiegel des LKW.

Die Asservaten-Nummer 0.5.6.1 wurde einem Messer zugeteilt. Nun folgt das Asservat mit der Nummer 0.5.6.2, auf dem Blut von Urban festgestellt wurde. Doch auch dieser Gegenstand wird weder benannt noch ein Foto von ihm gezeigt - genau wie bei den Gegenständen mit den Nummern 0.5.4.1 und 0.5.4.2, auf denen sich Blut der "unbekannten Person UP 8" befand.

Nach dem offengebliebenen Asservat mit der Nummer 0.5.6.2 geht es wieder ganz konkret weiter: Asservat Nummer 0.5.6.3 ist ein Scheibenhammer, an dem DNA von Urban festgestellt wurde. Und Asservat Nummer 0.5.6.4 ist übrigens das HTC-Handy, das Amri gehört haben soll und das seltsamerweise in einem Loch der vorderen Karosserie steckte.

Die ersten Ziffern 0.5 der Spurensicherung stehen für den Spurenbereich LKW. Die Asservate 0.5.4.1, 0.5.4.2 und 0.5.6.2 müssen zu diesem Bereich gehören. In den Spurenakten werden sie zusätzlich als "extern gesichertes Material" bezeichnet. Was die Ermittler darunter genau verstehen, ist nicht klar. Handelt es sich um Gegenstände aus dem LKW-Cockpit, die außerhalb gesichert wurden? Die Formulierung "externes Spurenmaterial" wird zum Beispiel auch verwendet für zwei Getränkeflaschen von Urban, die die Asservatennummern 0.5.5.5 und 0.5.5.6 erhielten.

Ungeklärte Spuren im Tat-LKW

Zu den ungeklärten Spuren gehört auch eine Hautschuppe, die an der Kopfstütze des Fahrersitzes per Klebefolie gesichert wurde. Diese Spur mit der Ziffer S 5.3.1 B 25.85 wurde der "unbekannten Person 2" (UP 2) zugeordnet. Die Spur wurde ebenfalls in einen Meldebogen eingetragen und mit der DNA-Analyse-Datei abgeglichen. Dort war die DNA bisher nicht gespeichert. Ergebnis also: "Kein nationaler Treffer."

Des weiteren wurde DNA einer zunächst "unbekannten Person1" (UP 1) gefunden, die später aber einer sogenannten "tatortberechtigten Person" zugeordnet werden konnte. Damit sind Personen gemeint, die sich im LKW-Führerhaus bewegt haben, wie die Speditionsfahrer oder Kriminalbeamte, die man aber als Täter ausschließen kann.

Jedenfalls: Die "unbekannten Personen" UP 2 und UP 8, die Spuren im LKW-Cockpit hinterlassen haben, bleiben unidentifiziert.

Mit welchen Personen wurden die Spuren über die DNA-Datei hinaus überhaupt abgeglichen? Das ist ebenfalls nicht befriedigend beantwortet. Nur wenige Namen wurden bisher genannt. Bilel Ben Ammar, der als Tatverdächtiger geführt wurde, ehe man ihn nach Tunesien abschob, soll sich darunter befinden, sowie Kamel A., ein Mitbewohner Amris, dessen DNA an der Tatpistole festgestellt wurde. Ergebnis bei beiden: negativ.

Mit wem aber noch aus Amris Umfeld oder der gewaltbereiten nominellen Islamistenszene und mit wem nicht, bleibt unklar.

Blut hat noch eine andere kriminalistische Qualität, als Fingerabdrücke oder DNA. Es weist auf eine andere Realität hin. Saß die Person, die es verlor, beim Unfall im Fahrzeug? Umso irritierender ist, dass die Frage in den Akten nicht gestellt wird.

Vom Tatbeschuldigten Anis Amri wurden zwei Finger- bzw. Handabdrücke außen an der Fahrertür des LKW gesichert. Im Inneren dagegen keine, sieht man von den Gegenständen ab, die ihm gehört haben sollen: Klapphandy und Geldbörse. An den unbeweglichen Teilen im Fahrzeug wurden weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren von Amri gefunden. Einzig bei einer DNA-Mischspur mehrerer Personen am Lenkrad-Prellkopf soll sich in einer "schwachen Beimengung" ein "schwacher DNA-Materialbeitrag" befunden haben, für den Amri, so die Formulierung, "in Betracht zu ziehen" ist. Unbestimmter geht es fast nicht.

Keine Spuren von Anis Amri, stattdessen von anderen Personen

Kritische Abgeordnete im Untersuchungsausschuss des Bundestags werfen gegenüber Ermittlern, die stoisch die Version vom Alleintäter Anis Amri vertreten, immer wieder folgende Frage auf: Was wäre, wenn Amri nicht erschossen worden wäre? Wenn er angeklagt und ihm der Prozess gemacht würde? Aufgrund der dünnen und widersprüchlichen Beweislage könnte der Beschuldigte nur schwer verurteilt werden, meinen sie. Für einen guten Strafverteidiger sei es ein Leichtes, das vom BKA vorgelegte Belastungsmaterial auseinanderzunehmen.

Das hieße zugleich: Der eigentliche Todesfahrer ist unbekannt. Diesen Punkt hat die Aufklärung im Untersuchungsausschuss bereits erreicht.

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