Amri-Freund Ben Ammar war Mitglied einer Terrororganisation

Fahndungsfoto. Bild: Karl-Ludwig Poggemann/CC By-SA-2.0

Der mutmaßliche Attentäter vom Breitscheidplatz bewegte sich in "professionellen" und "internationalen" Strukturen

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Bilel Ben Ammar, der Freund des mutmaßlichen Attentäters von Berlin, Anis Amri, war Mitglied einer Gruppierung, die als terroristische Vereinigung eingestuft war. Und die deutschen Behörden wussten das schon vor der Abschiebung Ben Ammars. Das erfuhr man Mitte Mai im parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz.

Die Personalie Ben Ammar, mit der unter anderem die Frage zusammenhängt, ob Amri tatsächlich nur ein Einzeltäter oder Teil einer Organisation gewesen ist, erfährt Woche für Woche neue Wendungen.

Zuerst, im Januar 2019, hatte die Bundesregierung gegenüber Betroffenen des Terroranschlages intern erklärt, sie verhandle mit den tunesischen Behörden über Bilel Ben Ammar, der am 1. Februar 2017 trotz eines laufenden Ermittlungsverfahrens gegen ihn wegen vielfachen Mordverdachtes abgeschoben worden war. Dann, Ende Februar, beteuerte der Bundesinnenminister gegenüber der Presse, die Bundesregierung wisse nicht, wo sich der Abgeschobene aufhalte.

Anfang Mai 2019 wurde gemeldet, dass er in Tunesien im Gefängnis sitzt. Und nun, Mitte Mai, erfuhr man im Amri-Ausschuss aus dem Munde des BKA-Verbindungsbeamten in Tunis, dass die tunesischen Behörden Ben Ammar seit langem suchten, weil er Mitglied der islamistischen terroristischen Vereinigung Ansar al-Sharia gewesen sein soll. Die deutschen Behörden hätten das im Januar 2017 von den tunesischen Behörden erfahren.

Trotzdem wurde der mutmaßliche Mitwisser oder gar Mittäter Anfang Februar 2017 in den nordafrikanischen Staat ausgeflogen. Zu einem Zeitpunkt, als die Ermittlungen zu der Tat vom 19. Dezember 2016 mit zwölf Toten gerade erst begonnen hatten. Ben Ammar galt nach Amri als der zweite Hauptverdächtige. Seine Vernehmung wurde abgebrochen, seine Handyauswertung ignoriert. Bis heute können die Ermittler viele Fragen im Zusammenhang mit der Tat nicht beantworten. Die Hintergründe des Anschlages sind ungeklärt.

Welche Antworten der Innenminister wohl geben wird, der sich jetzt, am 23. Mai, persönlich mit Opfern und Hinterbliebenen des Anschlages treffen will?

Bilel Ben Ammar soll in einem Gefängnis südlich der Hauptstadt Tunis sitzen, in dem verurteilte Terroristen ihre Strafe verbüßen. Es soll sich um eine Art Hochsicherheitsknast handeln. Warum genau er inhaftiert ist und wie seine Strafe lautet, konnte der BKA-Verbindungsbeamte, der nur mit dem Zeugennamen "Herr S." vorgestellt wurde, nicht sagen.

Mit der Wiederentdeckung Ben Ammars waren auf Seiten der Abgeordneten auch Hoffnungen verbunden, ihn zumindest als Zeugen vernehmen zu können, zum Beispiel vor Ort in Tunesien. Doch auch diesbezüglich wird der Ausschuss ausgebremst. Das Auswärtige Amt soll erklärt haben, Tunesien akzeptiere eine Befragung Ben Ammars nur als Maßnahme im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss in Deutschland sei davon aber ausgenommen. Geklärt werden soll nun, ob die Möglichkeit der Bundesanwaltschaft (BAW), per Rechtshilfeersuchen eine Person zu befragen, sich auch auf einen Zeugen bezieht und nicht auf einen Beschuldigten. Dann könnte der Ausschuss versuchen, via BAW den Häftling zu befragen.

Doch auch der Status als Beschuldigter ist bei Ben Ammar nicht vom Tisch. Deshalb steht weiterhin im Raum, ob die Bundesregierung nicht die Rückführung des Amri-Freundes nach Deutschland verlangen müsste. Durch dessen Verbindung zu einer terroristischen Vereinigung hat der Personenkreis, in dem sich auch Amri bewegte, schlagartig eine Art "Professionalisierung" erfahren. Die Abschiebung des verdächtigen Ben Ammar war doppelt und dreifach nicht gerechtfertigt.

Mit der "Professionalisierung" geht eine "Internationalisierung" der Terrorstrukturen einher

Zur Internationalisierung gehört das Trio Amri, Baur, Magomed-Ali C., das einst in Berlin zusammenhing und laut Bundesanwaltschaft einen Anschlag geplant haben soll. Baur sitzt in Frankreich in Haft. Gegen Magomed-Ali C. begann letzten Donnerstag (16. Mai) vor großer Pressepräsenz der Prozess vor dem Kammergericht Berlin. Er ist bis Ende des Jahres terminiert. Während in diesem Verfahren Amri von der Anklagebehörde ausdrücklich als möglicher Mittäter genannt wird, wird er im Falle des LKW-Anschlages auffälligerweise kategorisch als Alleintäter bezeichnet.

Mit den neuen Erkenntnissen über Ben Ammar stellen sich auch zur Vorgeschichte des Anschlages von Berlin neue Fragen. Bisher hieß es offiziell, Ben Ammar und etliche weitere Tunesier seien 2014 mit einem Boot nach Italien gefahren und von dort dann über die Schweiz weiter nach Deutschland gereist. Amri soll den Weg über das Mittelmeer nach Italien schon 2011 nach Beginn der revolutionären Umbrüche in dem Land wie in anderen arabischen Ländern gewählt haben.

Nach Informationen des deutschen Verbindungsbeamten in Tunesien, die er auch nach Deutschland übermittelt habe, soll Ben Ammar aber über Libyen nach Europa gereist sein. Dazu würde passen, dass der Mann Mitglied der libyschen Ansar al-Sharia-Gruppe gewesen sein soll.

Zur "Internationalisierung" der Anschlagsgeschichte gehört, dass auch der Bundesnachrichtendienst (BND) in Tunesien mit der Causa Amri befasst war. Der Zeuge, der BKA-Verbindungsbeamte "S.", bestätigte Treffen, die er zusammen mit seinem "BND-Kollegen" mit tunesischen Behörden hatte, darunter auch dem militärischen Nachrichtendienst des Landes. Bei einem Treffen nach dem Anschlag sollen gar BKA, BND und BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz) dabei gewesen sein. An genaue Inhalte wollte sich der Zeuge nicht mehr erinnern.

Ähnlich war sein Antwortverhalten bei der Frage nach Austausch mit anderen ausländischen Sicherheitsbehörden oder gar Nachrichtendiensten. Der BKA-Mann sprach zunächst von "informellen Kontakten", an deren Inhalt er sich aber nicht mehr erinnern wollte, als im Ausschuss nachgehakt wurde, ob auch "Amerikaner" unter diesen informellen Kontakten gewesen seien.

Am Ende des Sitzungstages wurde vom Ausschuss erstmals ein Zeuge des BND vernommen, allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Beamte "R.W." saß für den BND im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ), wo sich die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden über mögliche islamistisch motivierte Gewalttäter austauschen. In seinen eigenen Notizen hielt er im April 2016 fest, dass eine V-Person mitgeteilt habe, Amri sei am Tag zuvor nach Berlin zurückgekehrt und habe davon gesprochen, dass er einen Anschlag mit einem Sprengstoffgürtel plane.

Aus der nicht-öffentlichen Befragung sind bisher keine Inhalte bekannt geworden. Also auch nicht, ob es sich bei dem Informanten um eine Quelle des BND oder einer anderen Sicherheitsbehörde gehandelt hatte. Bisher war unter den zahlreichen V-Leuten, die sich im Umfeld des späteren mutmaßlichen Attentäters bewegten, keine eigene BND-Quelle bekannt. Insgesamt sind bisher knapp ein Dutzend V-Leute um Amri herum aufgetaucht.

Warum war Amri nicht abgeschoben worden?

Rätsel der Amri-Geschichte bleiben nicht nur seine unterlassene Verhaftung durch die Generalstaatsanwaltschaft von Berlin, sondern auch seine ausgebliebene Abschiebung. Dazu musste Tunesien offiziell bestätigen, dass Amri tunesischer Staatsbürger ist. Das aber war im Laufe des Jahres 2016 geschehen.

Bereits im Februar 2016 war der sicherheitspolitische Abschiebevorgang eröffnet worden. Ende April 2016 überbrachte eine deutsche Delegation den tunesischen Behörden umfangreiches Identifizierungsmaterial (Fingerabdrücke, Handflächenabrücke, Lichtbilder). Am 21. Oktober 2016 lag die Bestätigung seitens der tunesischen Behörden vor, die der BKA-Verbindungsbeamte in Tunesien am 23. Oktober 2016 nach Deutschland übermittelte, wie er gegenüber dem Ausschuss persönlich bestätigte.

Die Zentrale Ausländerbehörde in Köln soll noch am 20. Oktober 2016 vom tunesischen Generalkonsulat eine abschlägige Auskunft erhalten haben. Offiziell soll Tunesien erst am 21. Dezember 2016 die Identität Amris als tunesischer Staatsbürger bestätigt haben, zwei Tage nach dem Anschlag.

Die Aus- und mögliche Rückreise der Gefährders war aber bereits Monate zuvor, Ende Juli 2016, an den deutschen Behörden selbst gescheitert. Amris Asylantrag war im Mai 2016 abgelehnt worden, er war ausreisepflichtig. Ende Juli 2016 hatte er sich tatsächlich auf den Weg von Berlin Richtung Süden gemacht, wurde an der Grenze zur Schweiz aber aus einem Fernbus geholt und an der Ausreise gehindert. Die Gründe liegen nach wie vor im Dunkeln. Keine der beteiligten Sicherheitsbehörden hat dafür bisher die Verantwortung übernommen.

Amri wurde anschließend aber nicht etwa in Haft genommen, was nach seiner Beteiligung an einer Messerstecherei zwingend geboten war, sondern auf freiem Fuß gelassen. Auch die Gründe dafür sind bisher nicht beantwortet.

Amri-Untersuchungsausschuss von Nordrhein-Westfalen

In den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen greift bei Zeugen immer mehr eine Kommunikationsstrategie um sich, mit der Behördenkenntnisse und Behördenwissen verwässert und atomisiert werden. Das jüngste Beispiel war im Amri-Ausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen zu erleben (20. Mai). Kriminalhauptkommissar Uwe J. ist seit 27 Jahren beim Bundeskriminalamt (BKA) tätig. Zur Zeit ist er BKA-Verbindungsbeamter in China und als solcher Resident in der deutschen Botschaft in Peking.

Von 2014 bis 2016 arbeitete J. in der Abteilung Staatsschutz, saß im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) und leitete die spezielle PIAS-Runde im GTAZ. PIAS steht für "Polizeiliche Informations- und Analysestelle". In ihr tauschen sich die Polizeibehörden von Bund und Ländern aus. Neben der PIAS existiert analog die NIAS, die "Nachrichtendienstliche Informations- und Analysestelle", in der sich die Nachrichtendienste von Bund und Ländern austauschen. Zwei Parallelstrukturen innerhalb des GTAZ und ein Sicherheitsbeamter, von dem man erwarten könnte, dass er sich in diesen Strukturen professionell bewegt und einem Parlament entsprechend verantwortliche Auskünfte gibt. Das Gegenteil war der Fall.

"Mir nicht bekannt"

In einem PIAS-Protokoll vom 23. Februar 2016, das von Uwe J. unterzeichnet wurde, steht, dass Anis Amri am 6. Juli 2015 mutmaßlich mit Bilel Ben Ammar und Habib Selim nach Deutschland eingereist sein soll. Außerdem liest man, dass der als Gefährder eingestufte Amri seine "Anschlagspläne ausdauernd und langfristig weiter betreibe". Was er dazu sagen könne, wollten die Abgeordneten von dem BKA-Beamten wissen. Seine Antwort: Persönlich habe er keine Erkenntnisse, die Informationen seien vom NRW-Vertreter in der Runde gekommen, er habe nur eine reine Moderatorenrolle inne gehabt und aufgeschrieben, was vorgetragen wurde. Auch die Einschätzung von Amris Anschlagsplänen sei nicht seine, sondern die des LKA Düsseldorf gewesen.

Die Frage der Einreise birgt einen der vielen Widersprüche der Geschichte, weil Ben Ammar schon 2014 nach Deutschland gekommen sein soll, und weil sich in der ersten Registrierungsstelle Amris in Freiburg niemand an einen Begleiter erinnern konnte. Allerdings wird in einem Behördenschreiben des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) von Ende Januar 2016 explizit erwähnt, dass Amri zusammen mit Ben Ammar und Selim in Deutschland ankam. Dieses sogenannte BfV-Behördenzeugnis wiederum will dem BKA-Beamten J. gänzlich neu gewesen sein ("Sagt mir nichts"). Auch zur Nachfrage, ob Informationen des BKA in dieses BfV-Dokument Eingang gefunden haben, eine negative Auskunft: "Mir nicht bekannt."

Ob denn der NRW-Vertreter in der PIAS-Runde seine Informationen konkretisiert habe - Antwort auch hier: "Nicht erinnerlich". Ob er Erkenntnisse habe, dass Ben Ammar und Selim einem islamistischen Netzwerk in NRW angehört haben - Antwort: "Gar keine Erkenntnisse." Was er von dem Gefahrenabwehrvorgang "Lacrima" und dem Ermittlungsverfahren "Eisbär" wisse, die das BKA betrieb - Antwort: "Bedaure, aber darüber weiß ich nichts."

Ob er sich an die Erörterung der Personen Amri, Ben Ammar, Selim im GTAZ erinnere - Antwort: "Mir ist nicht erinnerlich, dass ich an einer Infoboard-Sitzung zu den dreien teilnahm. Sie kann es aber gegeben haben." Ob er etwas zu der Reisegruppe um die Person des Tunesiers Sabou Saidani weiß, die nach Deutschland kam - Antwort: "Tut mir leid." Ob er etwas zur Spiegelung des Handys von Amri durch das BKA nach dessen kurzzeitiger Festnahme im Februar 2016 sagen kann - Antwort: "Ist mir unbekannt."

Hier stellt sich nicht etwa ein Azubi den Fragen eines Parlamentes, sondern ein erfahrener Beamter, der nach dem Anschlag Mitglied der Identifizierungskommission des BKA war und bei der Identifizierung der Opfer mithalf.

Jede einzelne Negativantwort wäre für sich allein durchaus vorstellbar, schließlich kann sich niemand lückenlos an alles erinnern. Aber alle Negativantworten zusammengenommen ergeben ein System - das organisierter, programmatischer Verantwortungslosigkeit.