Amri-Komplex: BKA im Abwehrkampf gegen die Aufklärung

Seite 2: "Warum führt das BKA solche Abwehrkämpfe?"

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Etlichen Abgeordneten will sich nicht erschließen, wie man bei derart vielen Unklarheiten auf Seiten der Ermittler ungebrochen behaupten könne, Amri habe alles komplett alleine gemacht: Tatvorbereitung, Durchführung, Flucht. Der BKA-Ermittler M.G. reagiert darauf mit der Gegenfrage, welche Erkenntnisse es denn gebe, dass Amri es nicht allein getan habe?

Warum lasse das BKA die Deutung dann nicht zumindest offen, wenn so viele Fragen noch offen sind, meint ein Abgeordneter. Und ergänzt: Indem das BKA aber die Türe schließe, entledige es sich der Aufgabe, mögliche Helfer und Hintermänner zu suchen.

Ein Abgeordneter kleidete das Verhalten der BKA-Zeugen im Laufe der Sitzung in die Frage: "Warum führt das BKA solche Abwehrkämpfe?" Das gilt auch für weitere Daten im Gesamtkomplex des Attentats vom Breitscheidplatz.

Die Hintergründe des schwersten einzelnen Terroranschlags seit der Bombe auf das Münchner Oktoberfest im September 1980 liegen nicht nur in Berlin. Sie haben eine deutschlandweiten Kontext und eine internationale Dimension. Zu ihr zählt Amris Weg über Italien nach Deutschland und zurück sowie das IS-Kriegsgebiet in Syrien und Irak.

Zum deutschen Kontext gehört vor allem der Deutsche Islam-Kreis (DIK) in Hildesheim um den Agitator Abu Walaa, ein Anziehungspol gewaltbereiter Islamisten. Mit diesem Umfeld waren mehrere bundesdeutsche Sicherheitsbehörden befasst: Bundesanwaltschaft, Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter in Nordrhein-Westfalen (NRW), Niedersachsen und Berlin, Bundesamt für Verfassungsschutz, die Landesverfassungsschutzämter in NRW, Niedersachsen und Berlin, Bundesnachrichtendienst. Entsprechend spielte eine Vielzahl von Informanten, Quellen und V-Personen sowie auch Agenten ausländischer Dienste eine Rolle. Eine vielschichtige und kompliziert zu führende Personengemengelage inklusive der Notwendigkeit ständiger Rücksichtsnahmen.

Der im November 2019 aufgebrochene Konflikt zwischen dem nordrhein-westfälischen LKA und dem BKA bzw. sogar dem Bundesinnenministerium um die V-Person "VP01" des NRW-LKAs bewegt sich in eben diesem Rahmen. Der Konflikt wurde jetzt im Bundestagsuntersuchungsausschuss von Seiten des BKA neu angeheizt.

Mitte November 2019 hatte der NRW-Beamte Rasmus M., Leiter der Ermittlungskommission Ventum gegen den DIK, ausgesagt, das BKA habe im Februar 2016 die Absicht gehabt, die Quelle VP01 "kaputt zu schreiben" und damit "aus dem Spiel zu nehmen". In einem Vier-Augen-Gespräch habe ihm der BKA-Beamte Philipp K. erklärt, die Anweisung sei von "ganz oben" gekommen. Namentlich genannt wurde der Leitende Kriminaldirektor im BKA, Sven Kurenbach, außerdem der Bundesinnenminister, damals Thomas de Maizière (CDU). Aber auch BKA-Kriminaldirektor Martin Kurzhals soll M. "mehrfach ausgebremst" haben. [https://www.heise.de/tp/features/Der-Amri-Skandal-erreicht-Ex-Innenminister-De-Maiziere-4587763.html]

Die "V-Person 01" namens "Murat" war der Hauptinformant und wichtigste Belastungszeuge im Strafverfahren gegen die Abu-Walaa-Gruppe und zugleich Kontaktmann zu dem Tunesier Anis Amri. Diese Woche kommt das Buch von drei Spiegel-Redakteuren über den Spitzel mit dem Decknamen "Murat Cem" heraus, Titel: "Under Cover. Ein V-Mann packt aus", eine Art Lebensgeschichte des langjährigen Agenten.

In dem Konflikt zwischen dem Düsseldorfer LKA und dem BKA steht Aussage gegen Aussage. Alle BKA-Vertreter halten zu ihrem Mann, dem NRW-Vertreter Rasmus M. wird sowohl von seiner Behörde, als auch von der Bundesanwaltschaft Authentizität bescheinigt. Egal, wer von den Kontrahenten die Wahrheit sagt und wer nicht, dokumentiert ist durch den Konflikt, dass in dem Anschlagskomplex eine Seite bewusst die Unwahrheit sagt. Dafür muss es Gründe geben.

Objektiv belegt sind die Versuche des BKA, die Quelle "VP01" tatsächlich zu beschädigen. Was das bedeutet hätte, muss der obersten bundesdeutschen Kriminalbehörde bewusst gewesen sein. Das Abu-Walaa-Staatsschutzverfahren wäre geplatzt.

Das BKA war nämlich nicht nur daneben stehender Beobachter des Verfahrens, sondern selber agierende Behörde in dem Komplex. Während das NRW-LKA mit der EK Ventum das Strafverfahren gegen die Terrorverdächtigen im Deutschen Islamkreis (DIK) betrieb, das 2017 dann zum Prozess vor dem Oberlandesgericht Celle führte, war das BKA mit der sogenannten Gefahrenabwehr gegenüber den Dschihadisten im DIK betraut. Es sorgte für die "Gefährdungsanalyse" der einzelnen Aktivisten.

Unklar ist bisher, warum eine Ermittlungsgruppe des LKA Niedersachsen, die ebenfalls gegen die DIK-Leute ermittelte - zumal im niedersächsischen Hildesheim - und bei der die "VP01" gleichsam eine Rolle spielte, in eben jenem konfliktreichen Februar 2016 plötzlich wieder aufgelöst wurde.

Der Untersuchungsausschuss des Bundestags befragte zu dem Streit jetzt BKA-Abteilungsleiter Sven Kurenbach, von dem die Anweisung gekommen sein soll, die "VP01" aus dem Spiel zu nehmen. Kurenbach stritt das ab und schloss auch eine Einflussnahme durch das Innenministerium aus.

Zugleich startete er einen Gegenangriff auf Rasmus M. vom LKA NRW. Bei einem Treffen am 4. Juli 2019 hätten sie sich etwa eine Stunde lang unterhalten, unter anderem über die Arbeit der EK Ventum. Der Kollege M. habe dabei ein positives Feedback gegeben und seine im November vorgebrachte Kritik nicht geäußert. Am 21. November 2019 sei es zu einem zweiten Treffen zwischen ihnen gekommen. Das war genau eine Woche nach der Aussage von M. im Bundestag, die für anhaltende Schlagzeilen gesorgt hat.

Er habe M. gefragt, warum er seine Kritik nicht schon im Juli formuliert habe. M. habe geantwortet, aus Respekt seiner Person gegenüber. Weiter habe M. erklärt, er könne sich selber nicht vorstellen, dass er, Kurenbach, eine solche Anweisung gegeben habe, die "VP 01" aus dem Spiel zu nehmen, wie es ihm in besagtem Vier-Augen-Gespräch von dem BKA-Mann Philipp K. gesagt worden sei. M. habe eingeräumt, es sei möglicherweise ein Fehler gewesen, das Problem bei ihrem Gespräch im Juli nicht angesprochen zu haben, der Sachverhalt aber stehe so in seinen Unterlagen.

Kurenbach erklärte noch, er sei von keiner Seite auf das fragliche Gespräch vom 23. Februar 2016 in den Räumen der Bundesanwaltschaft zwischen dem LKA-Mann M. und seinem BKA-Mitarbeiter K. angesprochen worden, auch von M.s Vorgesetztem nicht.

Kontaktbeamter zum FBI

Zusätzlich zu dieser Schilderung legte der hochrangige BKA-Vertreter aber noch eine weitere Information offen, die Brisanz enthält. Sie betrifft die Anlässe, bei denen Sven Kurenbach und Rasmus M. miteinander sprachen. Am 4. Juli 2019 geschah das im Rahmen der US-Feierlichkeiten zum amerikanischen Unabhängigkeitstag im Flughafen Tempelhof in Berlin. Und am 21. November 2019 in der Privatwohnung eines FBI-Mitarbeiters, der in den Ruhestand verabschiedet wurde. Er, Kurenbach, habe dabei die Abschiedsrede gehalten. Dass der NRW-Kollege M. ebenfalls anwesend war, habe ihn gewundert. Er habe dann erfahren, dass M. in NRW der Kontaktbeamte zum FBI sei. Bei der Feier waren alle Kollegen aus den Bundesländern anwesend, die mit dem FBI zusammen arbeiten.

Kurenbach legte damit nicht nur eine FBI-Struktur in Deutschland offen, sondern entlarvte zugleich M. als Teil dieser Struktur. Schwer zu glauben, dass die Aussage ein Versehen war. Doch was bezweckte der erfahrende BKA-Abteilungsleiter, der beispielsweise an den Terrorermittlungen gegen die sogenannte "Sauerlandgruppe" 2007 beteiligt war und selber mit dem FBI verbunden ist, damit?

Mehrere Angehörige und Opfer des Anschlages verfolgten die aufrührende Sitzung im Bundestag auf der Zuhörertribüne im Sitzungssaal. Im Abgeordnetenhaus von Berlin ist das Publikum zur Zeit wegen Corona von den Sitzungen ausgeschlossen. Das gilt auch für die Betroffenen. Dabei könnte man ihnen ein Sonderrecht zugestehen, so wie Nebenklägern in einem Prozess. Als der Berliner Ausschuss einmal einen Drogenkomplizen von Amri in der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Moabit als Zeuge vernahm, waren neben der Presse auch Opfer zugelassen.