Amri und Ben Ammar: Terror-Zwillinge mit Geheimdienstkontakt?

Seite 2: War Amri doch nicht alleine?

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Bisher hieß es offiziell immer, Amri sei alleine nach Berlin angereist, alleine mit aufs Polizeirevier genommen und alleine verhört worden. Allerdings findet sich in den Ermittlungsunterlagen der irritierende Satz: "Den PIN-Code des Handy kannte Herr Bilel nicht genau." Wer war mit "Herrn Bilel" gemeint - und war Amri doch nicht alleine?

Als der Amri-Ausschuss des Abgeordnetenhauses jene Kriminalbeamtin des LKA als Zeugin vorlud, die den fraglichen Satz in ihren Bericht geschrieben hatte, erlebte man einen befremdlichen Auftritt. Zunächst stellte die Zeugin den Antrag, die Öffentlichkeit komplett auszuschließen. Dem folgte der Ausschuss allerdings nicht.

Auf den Satz mit "Herrn Bilel" angesprochen erklärte sie dann, es habe sich bei "Bilel" um einen "Schreibfehler" ihrerseits gehandelt, gemeint gewesen sei Amri, der sich damals aber unter dem Namen al-Masri vorgestellt habe. Mit einem Herrn Bilel habe sie an diesem Tag nicht zu tun gehabt, Amri sei nicht in Begleitung gewesen.

Das ist der Hintergrund, vor dem der CDU-Abgeordnete Gröhler nun an den LKA-Chef die Frage richtete, ob im Polizeibericht festgehalten worden wäre, wenn Amri in Begleitung einer zweiten Person gewesen wäre. Natürlich würden "beide" erwähnt werden, so der LKA-Chef. Gröhler hakte nach: Ob er sich einen Grund vorstellen könne, warum eine zweite Person nicht im Bericht erwähnt werde. Antwort Steoif: Ja, er könne, das wäre aber Spekulation.

Bilel Ben Ammar soll, so die offizielle Auskunft, am 3. Januar 2017 festgenommen worden sein. Stimmt die Email mit Datum vom "28. Dezember 2016", die der Focus erwähnt, dann wäre schon Tage zuvor geplant gewesen, ihn abzuschieben - und zwar auf aller höchster Ebene vom Bundesinnenministerium.

Das BKA dagegen, das für die Bundesanwaltschaft tätig ist, führte Ben Ammar im Ermittlungsverfahren "City" an zweiter Stelle hinter Anis Amri, Tatvorwurf: "Verdacht des Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord sowie weiterer Straftaten (LKW-Angriff auf den Weihnachtsmarkt in Berlin am 19. Dezember 2016)". Offiziell wurde das Verfahren gegen Ben Ammar erst im Oktober 2017 durch die Bundesanwaltschaft eingestellt. Da war der Verdächtige bereits seit Monaten außer Landes.

Am 1. Februar 2017 wurde Ben Ammar nach Tunesien ausgeflogen und praktisch in die Freiheit entlassen. Wer alles, welche Behörden und Ministerien, an der Operation beteiligt waren, ist bisher unklar. Sicher ist, dass die ermittlungsführende Bundesanwaltschaft eingewilligt hat. Es sei klar gewesen, so die bizarre Antwort der Behörde gegenüber Telepolis, dass sich "der Tatverdacht gegen Ben Ammar nicht erhärten werde".

Die Abschiebung wurde außerdem publizistisch vorbereitet und abgesichert. Wenige Tage vor der Aktion meldete die Süddeutsche Zeitung die bevorstehende Abschiebung - und lobte sie.

In der Printausgabe lautete die Überschrift: "Die neue Härte. Was bei Anis Amri nicht möglich war, geht bei seinem Freund und möglichen Mitwisser Bilel A. ganz schnell" (SZ vom 28./29. Januar 2017, Seite 6). Der Artikel war Chefsache. Georg Mascolo und Hans Leyendecker, die über gute Kontakte in den Sicherheitsapparat hinein verfügen, zeichneten dafür verantwortlich.

Die Arbeit der Medien

Über den sogenannten Rechercheverbund Süddeutsche, NDR und WDR war aber zugleich die gesamte ARD in die Veröffentlichung mit einbezogen. Bei so viel raumgreifender Medienmacht war ein kritischer Blick auf die Operation nur schwer möglich.

Dass das Medienkartell vom "möglichen Mitwisser" des Attentäters schrieb und dennoch kritiklos dessen Verbringung außer Landes begrüßte, ist eine von mehreren Fragwürdigkeiten. Schon hier stellte sich die Frage nach einer möglichen Strafvereitelung im Amt.

Mit der Abschiebung Ben Ammars ersparte sich die Bundesanwaltschaft jedenfalls auch einen möglichen Prozess, der eine Neuauflage des desaströsen NSU-Prozesses hätte werden können. Wieder hätten Dutzende von Nebenklägern ihre kritischen Fragen formuliert und Beweisanträge gestellt.

Süddeutsche und ARD hatten damals, im Januar 2017, auch erfahren, dass auf einem Handy Ben Ammars Videoaufnahmen vom Anschlagsort Breitscheidplatz gefunden worden seien, die bereits im Februar 2016, also Monate vor dem Anschlag gemacht worden waren. Und auch hier glaubten sie den simplen Erklärungen der "Ermittler", sprich: mutmaßlich dem BKA.

Ben Ammar habe behauptet, nicht er habe die Aufnahmen gemacht, sie seien ihm zugeschickt worden. Die so investigativen Journalisten akzeptieren das unhinterfragt. Herrschte hier nur bodenlose Naivität gegenüber Behörden - oder blinde Gefolgschaft?

Die Frage stellt sich im Februar 2019 erneut, denn, was die ARD zum Bericht des Focus abliefert, ist ein beschämendes Stück distanzlosen Journalismus'. Das schreibe ich gerade und vor allem als jemand, der seit 30 Jahren für ARD-Anstalten tätig ist, mit engagierten Redakteuren und Redakteurinnen zusammenarbeitet und die öffentlich-rechtliche Verfasstheit der Rundfunkanstalten verteidigt.

Der Focus-Bericht sei "wohl falsch", liest man auf der Webseite von tagesschau.de, dort beruft man sich auf nicht näher genannte "Sicherheitsbehörden".

Offiziell haben sich diese "Sicherheitsbehörden" nicht äußern wollen (Warum eigentlich nicht?), aber inoffiziell sollen sie "mit Nachdruck" und "empört" widersprochen und "eindeutig versichert" haben: Was Focus behaupte, entbehre jeder Grundlage.

Das ist nichts als inhaltsleere Kolportage, mit der sich die ARD zum Sprachrohr des Sicherheitsapparates macht. Der zunächst einzig relevante Adressat wurde nicht einmal befragt: Die Bundesanwaltschaft. Was sagt sie zu dem Focus-Bericht? Was zu dem angeblichen Video mit dem Schläger? Was zu der erwähnten Mail vom Dezember 2016? Und warum wurde die Bundesanwaltschaft nicht schon längst von den Amri-Untersuchungsausschüssen zu ihren Ermittlungserkenntnissen wie möglichen -lücken befragt?

Aufseiten der Opfer und Angehörigen fordert man seit langem, dass endlich der Anschlagstag in den Parlamenten untersucht werden solle. Der Bundestagsausschuss solle seine chronologische Herangehensweise aufgeben, so ein Betroffener, der auf dem Breitscheidplatz verletzt wurde, und endlich mit der Untersuchung des 19. Dezember 2016 anfangen. Zu viele Fragen sind unbeantwortet. Und Ben Ammar bleibt für sie ein Verdächtiger - und nicht etwa ein Zeuge.

In dieser Hinsicht legte die ARD sogar noch eine falsche Fährte. "U-Ausschuss will Amri-Helfer befragen", so die Überschrift des Artikels bei tagesschau.de. Uneinigkeit bestehe nur, wo die Zeugenbefragung stattfinden solle - in Deutschland oder in Tunesien.

Nach der Focus-Veröffentlichung stellt sich die Frage, ob Ben Ammar nur ein Zeuge ist, allerdings schon gar nicht mehr. Es kann nur noch darum gehen, ihn als Beschuldigten nach Deutschland zurückzuholen.

Bei dem Treffen Mitte Januar 2019 hatte das Bundesinnenministerium gegenüber den Opfern auch erklärt, die Bundesregierung verhandle mit Tunesien über Ben Ammar.

Noch einmal zurück zur letzten Sitzung des Amri-Ausschusses im Bundestag. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass LKA-Chef Christian Steiof nun auch in öffentlicher Runde bestätigte, was er im November 2018 in nicht-öffentlicher Sitzung im Abgeordnetenhaus zu Protokoll gab: Insgesamt drei V-Personen des LKA haben sich im Umfeld von Amri bewegt. Allerdings sei keine direkt auf den Tunesier angesetzt gewesen.

Eine der Quellen war in der kleinen Fussilet-Moschee eingesetzt, wo sich auch Amri regelmäßig aufhielt. Damit weiß man nun, dass mindestens drei V-Leute unterschiedlicher Sicherheitsbehörden in der Moschee eingesetzt worden waren: Vom LKA Berlin, vom Verfassungsschutz Berlin und drittens vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Eine schier ungeheuerliche Informantendichte in der Einrichtung, die von lediglich etwa 40 oder 50 Personen besucht worden war.

Auf Nachfrage, ob man die LKA-Quelle auch gezielt auf Amri hätte ansetzen können, antwortete der LKA-Chef: "Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es möglich gewesen wäre. Sonst macht es ja keinen Sinn."