Amris Pistole soll jetzt doch in Deutschland untersucht werden
Weil auch das jüngste Spurengutachten die Täterschaft beim Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz nicht klären konnte, will die Bundesanwaltschaft Asservate aus Italien kommen lassen. Das hat vor allem Show-Charakter
Die Pistole, die Kleidung und die persönliche Habe, die Anis Amri bei sich trug, als er am 23. Dezember 2016 in Sesto San Giovanni von der Polizei erschossen wurde, lagern in der italienischen Asservatenkammer. Die Bundesanwaltschaft will sie nach Deutschland kommen lassen und erneut auf Spuren untersuchen. Das sagte der für den Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz zuständige Bundesanwalt Horst Salzmann am Donnerstag im Untersuchungsausschuss des Bundestags.
Dabei dürfte es sich um eine Reaktion auf die seit mehr als einem Jahr anhaltende Kritik von Abgeordneten am Umgang des Bundeskriminalamts und der Bundesanwaltschaft mit den Spuren handeln. Denn die Funde begründen nicht nur Zweifel an der Darstellung vom Alleintäter Anis Amri, sondern sogar daran, dass er überhaupt derjenige war, der am 19. Dezember 2016 mit dem todbringenden Sattelzug in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gerast ist. Die zentralen Ermittlungsinstanzen halten an dieser Version ungerührt fest, auch Bundesanwalt Salzmann.
Die Ankündigung, Amris Pistole und weitere Asservate in Deutschland erneut untersuchen zu lassen, hat gleich doppelten Show-Charakter, weil zuletzt im Juli 2020 an Amris Kleidung noch einmal DNA-Proben genommen worden waren. Man wolle ausschließen, so Salzmann, dass jemand anderes als Amri der Täter war. Auch, um Legendenbildungen vorzubeugen, unter denen die Opfer und Hinterbliebenen leiden würden.
Bundesanwalt: Verurteilung wegen zwölffachen Mordes wäre ihm sicher
Der Abgeordnete Benjamin Strasser (FDP) quittierte das etwas ärgerlich mit der rhetorischen Frage: "Sie machen das nur, um andere Täter auszuschließen?" Die Fragestellung sei falsch, so der Bundesanwalt, ihre Zielrichtung sei stattdessen, die Täterschaft Amris zu bestätigen. Die stehe für sie bereits fest. Wenn der Beschuldigte in Italien nicht getötet, sondern festgenommen worden wäre, hätten sie ihn vor dem Kammergericht Berlin angeklagt. Nach seiner Prognose hätte das Gericht Amri auch wegen zwölffachen Mordes verurteilt. Die Beweislage sei sicher, so Salzmann.
Manche der Opfer, die durch den Anschlag verletzt wurden, und Hinterbliebene der Getöteten, die seit Jahren die Untersuchungsausschüsse verfolgen, und die Salzmann für sich in Anspruch nehmen wollte, stehen tatsächlich eher auf Seiten der Zweifler an der offiziellen These, dass Amri den Anschlag alleine begangen habe. Die beabsichtigte Rückholaktion der Asservate weist allerdings auf ein anderes fundamentales Versäumnis der Ermittlungsarbeit hin.
Amris Leichnam, die Tatpistole und alle anderen Gegenstände, die der Tunesier bei sich hatte, als er vier Tage nach dem Anschlag in Italien erschossen wurde, haben die deutschen Ermittler nicht einmal in Augenschein nehmen, geschweige denn mit ihnen kriminaltechnisch arbeiten können. Ihnen wurden lediglich Fotografien vorgelegt. Damit hat sich das BKA bisher abgefunden, weil so seine eigene Theorie unangetastet blieb und es sowieso nicht rückhaltlos in alle Richtungen ermitteln wollte.
Bedenken, ob die Erma-Pistole, die Amri in Italien bei sich hatte, auch jene Waffe war, mit der der polnische Speditionsfahrer Lukasz U. in Berlin erschossen wurde, ergaben sich jüngst aus dem Gutachten mehrerer externer Sachverständiger. Eine Identität der Waffe ergab sich durch den Vergleich der Geschosshülsen in Deutschland und Italien. Die Kugel im Kopf des Fahrers taugte aber nicht zum Abgleich, weil sie zerbrochen und verformt war. Die Schlussfolgerung des Rechtsmediziners Cornelius Courts aus Kiel: Nein, es könne nicht sicher nachgewiesen werden, dass mit Amris Pistole auch Lukasz U. erschossen wurde.
Wo starb der Speditionsfahrer?
Zu den ungeklärten Umständen von U.s Tod zählt, muss man ergänzen, dass nicht klar ist, wo er zu Tode kam. Am Parkplatz des Lkw vor dem Anschlag oder in der Fahrerkabine erst nach dem Anschlag?
Der Sachverständige Courts wies nun bei der Anhörung im U-Ausschuss, zu der er aus Kiel mittels Video zugeschaltet war, darauf hin, dass man Blutspritzer oder Gewebeteile eines Opfers möglicherweise auch im Inneren eines Pistolenlaufes finden könne. Das Phänomen nennt sich "Backspatter", Rückschleuderspuren. Diese Untersuchung wurde in Italien nicht angestellt. Sie soll deshalb in Deutschland nachgeholt werden.
Für die Bundesanwaltschaft (BAW) und ihre favorisierte Tätertheorie ist das völlig risikofrei. Eine solche Untersuchung kann höchstens bestätigen, dass U. mit der Waffe erschossen wurde. Sollte sich kein Blut von ihm im Lauf finden, wäre das kein Gegenbeweis. Hinzu kommt, dass ja DNA von U. am Magazin der Waffe bereits bei der ersten Untersuchung in Italien sichergestellt wurde, es also einen Kontakt gegeben haben muss.
Ein zu erwartender Befund ändert aber nichts an der grundsätzlichen Fragen- und Zweifelspirale des Falles: Sollte zweifelsfrei belegt werden, dass mit Amris Pistole Lukasz U. erschossen wurde, heißt das nicht zwingend, dass Amri geschossen hat. Und sollte Amri geschossen haben, nach Meinung der Ermittler am Standplatz des Lkw vor dem Anschlag, dann hieße das noch nicht, dass er auch den Lkw gefahren hat, so Ausschussmitglied Irene Mihalic (Grüne). Ob also der Schütze der Fahrer und der Waffenbesitzer der Schütze war, ist mit einem Spurenbefund noch lange nicht beantwortet.
Die methodische Krux dabei: Die Ermittlungsinstanzen haben die Spurenlage bisher nur daraufhin untersucht, was für eine Täterschaft Amris sprechen könnte und nicht danach, was für einen anderen Täter sprechen könnte. Beispielsweise wurde die DNA einer "unbekannten Person" (UP 2) im LKW nicht mit allen relevanten Kontaktpersonen Amris abgeglichen. Zum Teil geht das gar nicht mehr, weil einige dieser Personen abgeschoben wurden. Stattdessen Schulterzucken bei Bundesanwalt Salzmann: "Es gibt Dinge, die wir nicht werden aufklären können. Wir müssen vielleicht damit leben, dass die UP 2 unbekannt bleibt."
Umgang mit Spuren mindestens tendenziös
Der Satz ist nichts als eine Selbstentschuldigung dafür, dass man nicht wirklich aufklären will, dass man programmatisch an der Amri-Alleintäter-These festhält und mit Spuren tendenziös, um nicht zu sagen manipulativ, umgeht. Sichergestellte Faserspuren aus der Lkw-Fahrerkabine liegen bis heute unbearbeitet bei der Kriminaltechnik. Mit der Kleidung von Amri wurden sie bisher nicht abgeglichen.
Ein anderes Beispiel sind die Fingerabdrücke Amris, die außen an der Fahrertür des Lkw und daneben gefunden wurden, Finger der linken und Finger der rechten Hand. Für BKA-Ermittler M. G., der vom Ausschuss inzwischen mehrfach als Zeuge befragt wurde, belegten die Spuren, dass sich Amri beim Aussteigen mit der linken Hand abgestützt und dann mit der rechten Hand die Fahrertür zugedrückt habe. Zu einem solchen Schluss kommt auch der Sachverständige für Daktyloskopie, Ulrich Gerstel, vom Landeskriminalamt (LKA) Schleswig-Holstein.
Mag sein, so Ausschussmitglied Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen), nur: Wo und wann hat Amri den Lkw verlassen und die Tür zugemacht? Auf dem Breitscheidplatz oder woanders? Zeugen, die am Tatort den Fahrer beim Aussteigen beobachtet haben, sagten aus, dass die Tür offenstand, als der Fahrer wegging. Er hat sie folglich nicht zugedrückt.
Mehrere Zeugen erwähnen auch, dass der Fahrer beim Aussteigen eine Waffe in der rechten Hand hielt. Damit wäre das Zudrücken der Tür nicht nur schwierig, sondern das spricht zugleich für die Annahme, dass der reguläre Speditionsfahrer erst auf dem Breitscheidplatz erschossen wurde. Das ergäbe allerdings einen völlig anderen, gleichwohl unbekannten Geschehensablauf als den offiziell behaupteten.
Und dann gibt es noch zwei Zeugen, die vor der Lkw-Attacke beobachtet haben, dass das Fahrzeug noch einmal anhielt und dass drei Männer im Cockpit saßen, von denen einer ausstieg.
Weil die Differenzen um die ambivalente Spurenlage am Tatort und ihre wenig belastbare Interpretation durch BKA und BAW einfach nicht zu lösen waren, griff der Untersuchungsausschuss letzten Sommer zu dem ungewöhnlichen Schritt, die Spuren von unabhängigen externen Sachverständigen überprüfen und bewerten zu lassen. Es war auch eine Hilfsmaßnahme, weil sich das Gremium bei der offiziellen Amri-Täter-Version uneinig ist. Manche Abgeordnete bezweifeln sie, andere teilen sie. Deshalb sollten es externe Sachverständige richten.
Teile des Spurenmaterials bei erster Analyse verbraucht
Mit der Überprüfung der Spurenlage beauftragt wurden der DNA-Forensiker Cornelius Courts, der Spezialist für Fingerabdrücke, Ulrich Gerstel, und der Kriminalistikprofessor Christian Matzdorf. Doch so ganz unabhängig sind sie nicht. Gerstel arbeitet für das LKA Schleswig-Holstein und kommt vom BKA, Matzdorf stand 30 Jahre lang im Dienst der Berliner Polizei, zuletzt im Range eines Polizeidirektors, und war Pressesprecher sowohl für die Polizei als auch für den Innensenator, und seine Kollegin an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, Sandra Schmidt, ist zugleich Polizeiausbilderin.
Diesen Sachverständigen lag nur das bereits erhobene Datenmaterial vor, es gab keine neue Spurensicherung, auch keine neue kriminaltechnische Untersuchung. Das ist zum Teil auch praktisch schwer möglich, da Teile des Spurenmaterials bei der ersten Analyse verbraucht wurden. Die Analyse kann also nicht wiederholt werden. Hinzu kommt, dass die Sachverständigen gar nicht überprüfen konnten, ob das zur Verfügung gestellte Material vollständig war.
Die Frage der Täterschaft ist offen
Dass sie nichts wirklich Neues finden konnten, ist so gesehen keine Überraschung. Ebenso, dass sie auf einer solchen Datengrundlage die bisherige Bewertung des Tatgeschehens durch BKA und BAW nicht ausschließen können. Courts' Fazit: Es kann so gewesen sein, aber auch anders.
Ein skurriles Ergebnis. Auf der Spurenebene scheint der Fall festgefahren: Man kann nicht nachweisen, dass Anis Amri den Tat-Lkw fuhr. Man kann aber auch nicht ausschließen, dass er ihn fuhr. Man kann andererseits nicht nachweisen, dass er ihn nicht fuhr - und kann genauso wenig ausschließen, dass er ihn nicht fuhr. Wir wissen, dass wir nichts wissen. Eine Spurenlage, die streng genommen nur eine Konsequenz zulässt: Die Frage der Täterschaft ist offen, man muss weitersuchen.
Die Frage ist deshalb, warum die zentralen Ermittlungsorgane BAW und BKA dem zum Trotz an ihrer unzureichenden Theorie festhalten.
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