Angriff auf Afrin: Das mutlose Schweigen der Nato
Operation "Ölzweig": Die türkische Regierung auf erweitertem Kriegskurs gegen Kurden
17 Tote und 28 Verletzte durch türkische Angriffe auf die Stadt Afrin (kurdisch: Efrîn) meldet ANF-News am Montagmorgen, drei Tage nach Beginn der Operation Olive Branch. Als deren offizieller Start wird von Hurriyet Daily Samstag, der 20. Januar, 14 Uhr GMT angegeben.
Seither, so berichtete die kurdische Firat News Agency (AFN) am Sonntagabend um 22 Uhr, hätten 72 türkische Flugzeuge 108 Ziele angegriffen. Ziel war nicht nur die gleichnamige Stadt des syrischen Bezirks Afrin, sondern auch die Kreise "Şerawa, Bilbilê, Raco, Şera wie auch die Gebiete in Şehba". Dieser Bericht listet 10 getötete Zivilisten auf sowie 11 weitere bei einem "Massaker" im Dorf Cilbir. Herausgehoben wird in beiden Berichten, dass Kinder zu den Opfern gehören.
Ob nun diese Opferzahlen mit den weiter oben geschilderten zusammenzurechnen sind, ist nicht klar. Wie so oft ist hier kein genaues Bild zu bekommen, nur eine erste ungefähre Größenordnung. 108 Luftangriffe machen klar, dass die türkische Armee im Nachbarland Syrien mit genau der Härte gegen Kurden vorgeht, wie man es aus dem Südosten der Türkei kennt.
Aber es ist diesmal ein anderes Land, nicht die Türkei. Der Angriff findet in Syrien statt. Die Bodentruppen der türkischen Armee, die in dem AFN-Bericht genannt werden, sind nicht nur oppositionelle syrische Milizen oder Turkmenen, sondern auch türkische Soldaten, die z.B. in deutschen Panzern sitzen.
Kein Wunder, dass Syriens Staatspräsident Baschar al-Assad die Operation "Ölzweig" nicht gefällt. Er verurteilte den türkischen Angriff und wies er erneut auf die Verbindungen zwischen der Türkei und den radikalislamistischen Milizen hin, die die "Terroristen" in den Augen Assads sind.
Keine Hindernisse für Erdogans Militär
Warum hat die Regierung in Damaskus dann zugelassen, dass Erdogan seine neo-osmanischen Expansionsträume - auch darum geht es! - und seinen Vernichtungskrieg gegen Kurden auf syrischem Boden ausficht? Jedenfalls wurden den türkischen Flugzeugen und den Invasionstruppen keine Hindernisse in den Weg gelegt.
Dafür lassen sich von Beobachtern, die sich meist auf gut informierte Quellen stützten, drei Gründe extrahieren: Erstens haben kurdische Unterhändler nach Informationen des gut mit Damaskus vernetzten Beobachters Ehsani2 es abgelehnt, dass der syrische Staat Kompetenzen in Afrin übernimmt. Die syrische Regierung wollte demnach eine Übergabe: "Der einzige Weg für die Kurden besteht darin, ihr Gebiet an die syrische Armee zu übergeben, Teil des syrischen Staats zu sein und Politik als syrische Bürger zu machen."
Zur Abmachung hätte auch gehört, dass die YPG die Kontrolle über Ölquellen in Deir ez-Zor der syrischen Regierung überlässt. Hier verwiesen die YPG-Vertreter angeblich darauf, dass sie dies nicht ohne die USA entscheiden können.
In der Folge der Ablehnung der Vorschläge, die bei einem Treffen zwischen Kurden und Russen gemacht wurden, wurden die türkischen Generäle nach Moskau eingeladen. Der zweite Grund, warum die syrische Regierung nichts gegen den türkischen Einmarsch auf ihr Gebiet unternahm, war also die Position Russlands, die - nachdem die Kurden die genannten Angebote abgelehnt hatten und sich aufseiten der USA positionierten, - in einer Vereinbarung mit der Türkei die größeren Vorteile sah. Dass es die Absprachen gegeben hat, wird auch von einer kurdischen Quelle bestätigt.
Als dritter Grund wird hier und da erwähnt, dass die Türkei in einer Art Gegengeschäft die Aufgabe der syrischen Armee in Idlib, wo sie gegen die al-Qaida-Miliz al-Nusrah-Front und gegen andere radikalislamische Milizen vorgeht, "erleichtern" würde. Die Eroberung des strategisch sehr wichtigen Militärflughafens Abu al-Duhur durch syrische Truppen wird als "Teil dieses Entgegenkommens" verstanden.
Afrin ist nicht genug
Bis Idlib unter Kontrolle der syrischen Armee und seiner Verbündeten ist, dürften die Vorteile der Abmachung in Damaskus im Vordergrund stehen, aber wie wird sich Baschar al-Assad damit zurechtfinden, wenn die Türkei tatsächlich durchsetzt, was sie sich vorgenommen hat, und nicht nur einen 30 Kilometer breiten Grenzstreifen, sondern ganze Teilgebiete in Syrien unter ihrer Kontrolle hat? Man will ja nicht nur Afrin, sondern auch Manbij und in Dscharabulus führt die Türkei bereits vor, wie eine türkische Besatzung in Syrien aussieht.
Die Vorteile für Russland aus dieser Konstellation muss man nicht eigens ausführen - die Türkei ist ein wichtiges Nato-Mitglied (siehe dazu Afrin: Erdogans Werk und Putins Beitrag). Entsprechend leise und feige sind die Reaktionen aus dem nordatlantischem Verteidigungsbündnis auf das machtpolitische Solo mit ottomanischer Marschmusik der türkischen Regierung, die ihren "Säuberungskrieg" gegen "kurdische Terroristen" auf syrische Gebiete ausdehnt.
Kein Stopp-Signal von der Nato
Aus dem Nato-Kommando kam bislang kein unmissverständliches Stopp-Signal, kein Einspruch, nicht einmal Kritik, nur Schweigen. Man nimmt unglaublich große Rücksicht auf das Nato-Mitgliedsland.
Einzig aus Paris gab es den Ruf nach Ankara, die Sache zu stoppen. Dafür herrschte die Türkei Frankreich an, das die Angelegenheit vor den UN-Sicherheitsrat bringen will.
"Jeder, der sich gegen die türkische Operation in Afrin stellt, stellt sich auf die Seite der Terroristen", verkündete der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am Sonntag an die Adresse Frankreichs: "Wir hoffen, dass Frankreich die Operation der Türkei gegen Terroristen in Syrien unterstützt."
Indessen stellte sich der britische Außenminister Boris Johnson völlig hinter die türkische Regierung. Er sieht im Krieg gegen die syrischen Kurden der YPG, die mit mehr Mut und Entschlossenheit als andere in der Region ein echtes demokratisches Modell versuchen, "das Recht der Türken auf sichere Grenzen". Als ob diese Grenzen in Gefahr gewesen wären. Einer echten Gefahr ist nun die Zivilbevölkerung ausgesetzt.
Dass es so weit kommen konnte, lag, wie der gut vernetzte und unterrichtete Journalist Elijah J. Magnier in seiner Analyse herausarbeitet, an einer pfuschigen, ignoranten, letztlich einzig auf Eigeninteressen beruhenden Syrien-Politik der USA. Insofern ist es kein Wunder, dass auch der US-Verteidigungsminister Mattis ganz ähnlich tönt wie Johnson:
"Die Türkei ist ein Nato-Verbündeter. Es ist das einzige Nato-Land, das einen aktiven Widerstand ('insurgency') innerhalb der eigenen Grenzen hat. Und die Türkei hat ganz berechtigte Sorgen um ihre Sicherheit."
Von "unschuldigen zivilen Opfern" sagte Mattis nichts. Dass unschuldige Zivilisten nun eine Eskalation zu befürchten haben, erwähnt immerhin das Statement des US-Außenministeriums vom Samstag.