Angriffe auf Blockierer der Letzten Generation: Warum Sie auf die Polizei warten sollten

Seite 2: Wer Aktivisten verletzt, muss gute Gründe haben

Bei der Abwägung, ob die Notwehrhandlung geboten war, wird die individuelle Situation des Notwehrtäters relevant. Berücksichtigt wird, ob er beispielsweise zu einem dringenden Termin musste oder starke Schmerzen hatte. Ein solcher Fall würde die Notwendigkeit einer Notwehrhandlung stützen.

Thomas Fischer hält auch körperliche Verletzungen von Aktivisten bei Blockadeaktionen für verhältnismäßig: "Wer mit Gewalt unbeteiligte Dritte stundenlang daran hindern möchte sich fortzubewegen, muss den Verlust einer mehrere Quadratzentimeter großen Hautschicht hinnehmen, wenn dies zur Gegenwehr (Befreiung) erforderlich ist."

Nicht mehr geboten ist eine eigenmächtige gewaltsame Notwehrhandlung jedenfalls ab dem Zeitpunkt, zu dem die Polizei vor Ort eintrifft.

Viele Juristen ziehen allerdings, anders als Fischer, auch schon deutlich vorher eine Grenze. Strafrechtsprofessor Armin Engländer sieht Notwehr nicht immer gerechtfertigt, in vielen Fällen seien gewaltfreie Aktionen eben noch von der Versammlungsfreiheit gedeckt.

Kritisch äußerte sich auch die Berliner Staatsanwaltschaft, namentlich Karen Sommer: Selbst die Rechtswidrigkeit der Blockadeaktionen sei kein Freifahrtschein für Notwehrhandlungen – nur in besonders gravierenden Einzelfällen, Einsetzen von Wehen bei Schwangeren, sei Notwehr gerechtfertigt. Insbesondere das Warten auf das Eintreffen der Polizei sei im Regelfall zumutbar.

Auch der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Notwehr für unzulässig gehalten, wenn man die Polizei rufen kann – aber eben nur, wenn das nicht zur Verschlechterung der eigenen Position führt.

Im Falle der Blockadeaktionen der Letzten Generation aber dauert das vorsichtige Entfernen der Aktivisten von der Straße – vornehmlich Lösen von Kleber mit Speiseöl – bis zu 45 Minuten, während eine schmerzhafte Selbsthilfeaktion deutlich schneller geht.

Bislang konnte in den knapp hundert eingeleiteten Ermittlungsverfahren von der Berliner Staatsanwaltschaft noch kein Fall festgestellt werden, in dem die Tat der Angeklagten durch Notwehr gerechtfertigt gewesen wäre.

Die Aussage von Ralf Höcker jedenfalls, Autofahrer müssten nicht auf die Polizei warten und könnten Demonstrierende einfach wegtragen, wenngleich diese dadurch Verletzungen an den Händen erlitten, wird von der Plattform Correctiv als unbelegt eingeordnet.

Dieser Meinung sind auch Christian Solmecke, dessen Kanzlei unter anderem Verkehrsrechtsfälle behandelt, und Stefan Rehm, Vizepräsident des Deutschen Strafverteidigerverbands. Die Juristen raten Autofahrern ebenfalls, auf die Polizei zu warten.

Zwischen politischer Initiative und Instrumentalisierung des Strafrechts

In Berlin wird der Regierende Bürgermeister Kai Wegner selbst aktiv. Er will Staatsanwälte bei Protestaktionen positionieren, damit sie der Tat "das Urteil auf dem Fuße folgen" lassen können.

So kann die Beweisaufnahme beschleunigt und noch vor Ort durchgeführt werden. Im Umkehrschluss werde es Betroffenen aber gezielt erschwert, Anwälte hinzuzuziehen, kritisiert Clemens Hof, Vorstand des Vereins Berliner Strafverteidiger:innen.

Geplant ist laut Wegner auch eine Ausweitung des Präventivgewahrsams von zwei auf fünf Tage. Auch diese Maßnahme stößt auf Hofs Kritik: Die Maßnahme sei eigentlich zur Terrorbekämpfung gedacht, ihre Verlängerung sei im Falle der Protestaktionen eher politisches Kalkül.

Auch ist die Staatsanwaltschaft eigentlich nicht dazu da, die Polizei bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Sie dürfe von der Politik nicht instrumentalisiert werden, so Sebastian Schlüsselburg, Rechtsexperte der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.

Auch in den Reihen der Bayerischen Landesregierung greift man zur Präventivhaft als vermeintlich besonders wirkungsvoller Maßnahme gegen Klimaaktivisten. Anders als in Berlin, kann in Bayern die Präventivhaft aber nicht nur einige wenige, sondern ganze 60 Tage lang andauern. Das "Durchgreifen" der Bayerischen Landesregierung ist damit wohl eher drastisch als konsequent.

Auf Bundesebene lässt ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag aus dem November 2022 mit dem Titel "Straßenblockierer und Museumsrandalierer härter bestrafen – Menschen und Kulturgüter vor radikalem Protest schützen" aufhorchen.

Der Antrag liest sich alarmierend. Die Rede ist von einem "radikalen und aggressiven Protest" der Aktivisten, der "kriminelle Mittel nicht scheut und dabei auch Leib und Leben von Menschen gefährdet." Ergriffen führen die Antragsteller weiter aus: "Historische Kunstwerke von überragendem Wert werden mutwillig beschädigt, unser nationales Kulturgut und auch Weltkulturerbe wird absichtlich angegriffen."

Die Aktionen der Letzten Generation werden hochstilisiert zu nichts weniger als einem Angriff auf das, was den deutschen Staat und die deutsche Kultur an sich ausmacht. Ganz abgesehen davon, dass das "nationale Kulturgut" bei Weitem nicht nur auf das Schaffen deutscher Künstler und Künstlerinnen zurückgeht, sind die Ausführungen in dem Antrag aus rechtlicher Sicht als übertrieben zu bewerten.

Sogar der Straftatbestand der Nötigung in § 240 StGB soll demnach durch weitere Regelbeispiele ergänzt werden, die passgenau zugeschnitten sind auf die Aktivisten der Letzten Generation.

Besonders pikant: Es soll sich dabei nicht etwa um einfache, sondern besonders schwere Fälle der Nötigung handeln. Damit sollen aus Sicht der Unionsfraktion Täter, "die eine große Zahl von Menschen durch ihre Blockaden nötigen – etwa dann, wenn es durch die Blockaden im Berufsverkehr zu langen Staus kommt" in der Bewertung gleichgestellt werden mit Tätern, die eine Schwangere zum Schwangerschaftsabbruch nötigen.

Bis zu fünf Jahre Gefängnis sollen Menschen drohen, die sich mit anderen Aktivisten auf eine Straße gesetzt und damit Verkehrsverzögerungen provoziert haben, um für mehr Klimaschutz einzutreten.

Damit ist der Feldzug durch das StGB aber nicht vorbei: Auch der Straftatbestand der gemeinschädlichen Sachbeschädigung soll "angepasst" werden. Außerdem soll auch die in § 56 StGB verankerte Regelung zur Strafaussetzung reformiert werden.

Aktivisten, die bereits zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurden, sollen nicht noch einmal in den (zweifelhaften) Genuss kommen, mit einer weiteren Freiheitsstrafe sanktioniert zu werden – vielmehr soll eine Aussetzung der verhängten Strafe zur Bewährung dann nicht mehr möglich sein.

Als Reaktion auf den gewagten Vorstoß der Unionsfraktion fand im Bundestag am 18. Januar dieses Jahres eine Expertenanhörung statt. Die hier angehörten Teilnehmer sprachen sich überwiegend gegen die Forderungen aus. Sie hielten sie für unnötig.

Aktionismus ist kein guter Ratgeber

Aus der Absurdität des Antrags der Unionsfraktion spricht ein übergroßes Bedürfnis, politische Kontrolle über unliebsamen Aktivismus auszuüben und das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung empfindlich einzuschränken.

Die Aufgabe der Verfolgung von Straftaten in die Hände der Justiz zu legen, kommt für die Antragstellerinnen offenkundig nicht in Frage – vielmehr, so Fraktionsangehörige Andrea Lindholz in der Antragsbegründung, habe der Rechtsstaat keine passende Antwort auf die Protestaktionen der Letzten Generation.

Die Lektüre des CDU-/CSU-Vorschlags, auf die Aktivisten der Letzten Generation eigens angepasste Straftatbestände zu schaffen, hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Dass Menschen sich von den Blockadeaktionen belästigt fühlen, ist nichts Neues.

Dass sie die Meinung der demonstrierenden Personen nicht teilen, oder sich teilweise in einem Maße über die Blockaden empören, das außer Verhältnis zu diesen steht, auch nicht. Aber dass die größte Oppositionspartei der Bundesregierung gezielt das Strafrecht reformieren will, um gegen Protestierende vorzugehen, ist einem demokratischen Rechtsstaat schlicht nicht angemessen.

Die Aktionen der Letzten Generation mögen in manchen, zahlreichen, Fällen rechtswidrig und ihrerseits strafbar sein. Aber eben nicht in allen. Auch in der Vergangenheit hat es Formen des organisierten Protests gegeben, die strafbar waren.

Es kann weder politisch noch gesellschaftlich gewollt sein, eine Form des Protests pauschal unter Strafe zu stellen, weil man ihn als störend empfindet. Vielmehr sollte man die Justiz mit den Ressourcen ausstatten, die sie benötigt, um alle Fälle einem rechtsstaatlichen Ergebnis zuzuführen.

An einem solchen scheitert es bisher nicht an einem lückenhaften StGB, sondern an überlasteten Gerichten.

Vorsicht sollten auch von Blockadeaktionen betroffene Autofahrer und Passanten walten lassen. Selbstjustiz ist gelegentlich verständlich, aber eben nicht immer ratsam.

Das Handeln in Notwehr kann auch gegen Aktivisten der Letzten Generation theoretisch gerechtfertigt sein. Abgesehen von Notfällen sollte man aber lieber davon absehen und mit der eigenen Aggression möglichst besonnen umgehen.

Das Warten auf die Polizei ist zwar ärgerlich, aber das ist der Stillstand in einem Stau oder wegen eines Verkehrsunfalls auch. Bildete sich ein langer Verkehrsstau wegen einer umstrittenen Großbaustelle, würden schließlich die wenigsten Autofahrerinnen auf die Idee kommen, den anwesenden Bauherren mit Fußtritten von der Straße zu entfernen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.