Angst, Misstrauen und Liebe in Zeiten der Seuche

Pierart dou Tielt: Die Bürger von Tournai beerdigen Opfer des Schwarzen Todes, um 1353. Bild: Gemeinfrei

Ob die Pandemie eine Epochenwende herbeiführt, bleibt abzuwarten. Klar ist: Seuchen greifen in das Triebleben der Zeitgenossen ein. Ein Reservoir an Vorurteilen hilft, die Katastrophen zu überstehen

Im Vollbesitz seiner Sinne und vor Publikum nahm Max von Pettenkofer, man schrieb das Jahr 1892, eine Probe Cholera-Kulturen zu sich. Damals ging es nicht anders als heute um Konkurrenz zwischen Wissenschaftlern. Pettenkofer wollte es seinem Rivalen Robert Koch zeigen. Dieser hatte behauptet, dass die Cholera durch ein Bakterium verursacht ist, das von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Pettenkofer überstand den demonstrativen Selbstversuch. 1901 erwischte es ihn trotzdem. Er beging Suizid.

Sein Punktsieg half Pettenkofer nichts. Er hing einer medizinischen Lehre an, die mit dem Aufkommen von Virologie und Bakteriologie hinfällig wurde. Die Miasmen-Theorie hatte im Grunde seit der Antike Bestand. Pestilenzartige Ausdünstungen des Bodens dringen über die Luft in die Textur der lebendigen Organismen ein und bringen die Körpersäfte durcheinander. Diese Vorstellung ist sinnfälliger und suggestiver als die kontagionistische Lehre von den aggressiven Mikroben, die man mit bloßem Auge nicht sieht und ebenso wenig riecht.

Seine antiquierte Ansicht hielt Pettenkofer nicht davon ab, für München sanitäre Maßnahmen einzuleiten, die ihn neben Koch und Rudolf Virchow zu einem der drei bedeutendsten deutschen Sozialhygieniker des ausgehenden 19. Jahrhunderts machten. In puncto Stadthygiene waren sie sich einig, und es hätte Pettenkofer nicht weniger geschaudert als Robert Koch bei einem Besuch der Hamburger Gänge-Viertel. Koch identifizierte im Arme-Leute-Viertel die sozialen und städtebaulichen Bedingungen der Cholera-Epidemie von 1892. Das Trinkwasser wurde der Elbe entnommen, die im Gezeitenwechsel auch die Fließrichtung der Fäkalien änderte.

Im Nachgang eines Pariser Hygiene-Kongresses hatte schon 1880 ein Mediziner die neuen Erkenntnisse zugespitzt1:

Wir können nur wiederholen, dass nicht alles tötet, was stinkt, und dass nicht alles stinkt, was tötet.

Diese Formel gilt bis heute, und sie gilt im Grunde, seit die Menschen auf die Wissenschaft zurückgreifen, um die Welt zu verstehen. Das nennt sich Metaphysik. Leider entzieht diese Wissenschaft peu à peu den Menschen die sinnliche Wahrnehmung und macht die physischen Phänomene zum täuschenden Schein, indem sie sie durchgeistigt. Sie werden für das gewohnheitsmäßige Sehen unsichtbar. Der gesunde Menschenverstand zählt nicht mehr.

Das löst Enttäuschung und Angst aus. Die Menschen, zumindest die leichtfertigen und vorschnellen, sind versucht, die Lücken zu füllen, aber nicht mehr mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern mit animistischen Bildern und Fantasmagorien, von denen sie rückwirkend verfolgt werden.

Angst, Misstrauen und Liebe in Zeiten der Seuche (11 Bilder)

Schnabeldoktor, Kupferstich um1656. Bild: Gemeinfrei

Die wissenschaftliche, metaphysische Seite und die sinnliche, animistische Seite tauschen sich aber auch paradox gegeneinander aus. Wo nichts ist, wo Leere, Nicht-Sein ist, sehen die Querdenker und Verschwörungsgläubigen Chemtrails oder geheim agierende, finanzstarke Menschheit-Manipulatoren. Ist aber die Leerstelle von etwas ganz Objektivem, von einer kollektiven Pathologie besetzt, die die Gesellschaft aus ihren Routinen reißt, leugnen die Querdenker die Realität. Die Wahrnehmung ist verschoben. Von neuen Eindrücken wird nur hereingelassen, was "ins Bild" passt.

Der Rapper "Haftbefehl" zur Corona-Pandemie: "Vielleicht ist es auch eine Strafe von Gott, weil wir uns immer so fertig machen." "Haftbefehl" spielt einerseits auf die älteste und beständigste Erklärung an, warum den Menschen das Schrecknis von Seuchen "geschickt" wird. Ein Zeichen Gottes. Andererseits leitet "Haftbefehl" aus der Pandemie einen Aufruf zur Versöhnung ab. Das geht auf die "Ring-Parabel" zurück, wie sie in Boccaccios "Dekameron" und in Lessings "Nathan der Weise" niedergelegt ist.

Der Ring wird zum Gleichnis der friedlichen Koexistenz der drei monotheistischen Religionen. Das schließt die Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit ein. Das Toleranzgebot bricht "Haftbefehl" auf die ausdifferenzierten gesellschaftlichen Verhältnisse, ob mit oder ohne Religion, herunter. Warum "uns immer (gegenseitig) so fertig machen"?

Bei Boccaccio ist es die Pest von 1347 bis 1353, aus der sich der Appell zur Versöhnung ableitet. Gehen die Überlebenden geläutert aus der Krise hervor, oder kehren sie zu ihren alten Gewohnheiten mit all ihren Bosheiten zurück? Die Gelehrten sind sich nicht einig, sowohl was vergangene Seuchen als auch die Zeit nach der gegenwärtigen Pandemie angeht. Herfried Münkler sieht, gestützt auf historische Erfahrungen, eine Spaltung der Gesellschaft in allgemeines Misstrauen und "Inseln der Solidarität" voraus.

Das Misstrauen setzt sich aus einem Mix realer und psychotischer Ängste zusammen. Dazu gehören im Gang der Geschichte2 Hungersnöte, welche die Immunabwehr schwächen, Schuldzuweisungen an "Brunnenvergifter" wie die Juden und die Angst vor Ansteckung. Alles zusammen stärkt und bestätigt das Aggressionspotential. Solidarität übt hingegen nicht nur in Zeiten des "Schwarzen Todes" die kleinere Gruppe, die ihre Angehörigen nicht im Stich lässt oder die Kranken trotz Beulen oder schwarz verfärbter Haut in den Hospitälern pflegt.

In milderer Form tritt die Spaltung auch heute auf. Das Klima des Misstrauens zeigt sich etwa in der Neid-Debatte über die Impf-Priorisierung, wohingegen die Solidarität von der kleineren Gruppe von Menschen ausgeübt wird, die gemeinhin als "Helden" etikettiert werden. Diese Bezeichnung entbehrt nicht der klammheimlichen Häme über die "Gutmenschen".

Die Häme ist das Markenzeichen des machiavellistischen Milieus allgemeinen Misstrauens. Viel ändert sich nicht an der Mentalität der beiden Lager im Lauf der Zeit, aber die Krisen bringen die Eigenschaften an den Tag.

Ich, Agnolo di Tura, den man den Dicken nennt, beerdigte eigenhändig fünf meiner Kinder in der allgemeinen Grabstätte. Anderen erging es nicht besser. Andere Tote wurden so nachlässig bestattet, dass sie von Hunden ausgegraben, in der Stadt verteilt und teilweise auch gefressen wurden. Die Glocken läuteten nicht mehr, und auch das Weinen hörte auf.

Aus einem Pestbericht zu Siena im Jahr 1348

Da Familienangehörige sukzessive starben, ging die physische Auflösung der Familien mit der sozialen Auflösung der Stadt insgesamt einher. Leichen bestimmten das Stadtbild. Verstorbene wurden vor die Haustür gelegt. Die Totengräber kamen nicht nach.

Es gab offene Feuerstellen zur Leichenverbrennung. Die Bilder variierten zu verschiedenen Seuchenwellen. In Venedig wurden während der Pestepidemie von 1575/77 die Leichen über das Wasser auf die Inseln verbracht. Für diese Aufgabe waren "Picegamorti", Unruhestifter und Vagabunden, zwangsverpflichtet worden, die Glöckchen an ihren Gliedmaßen trugen.

Inseln waren seit 1468 für Quarantäne hergerichtet worden. Die Zustände ähnelten denen der Gefängnisse. Grauenvoller waren nur noch die Isolierstationen für Leprakranke.

Sprichwörtlich geworden ist die Anekdote von den fliegenden Leichen, welche die Tataren über die Stadtmauer von Kaffa schleuderten, das sie 1346 belagerten. Bei ihnen war die Pest ausgebrochen, sodass hier ein früher Fall von biologischer Kriegsführung vorliegt. Das alles spielte sich auf der Krim ab, gehört aber in den Bereich der Legende. Eher plausibel ist, dass von hier aus der Schwarze Tod seinen Weg nach Mitteleuropa nahm.

Das Wüten der Pest in Mailand im Jahr 1630 beschrieb anschaulich Alessandro Manzoni, während Daniel Defoe das Londoner Pestjahr von 1665 festhielt. Beiden ist gemeinsam, dass sie das Ereignis nicht als Zeitzeugen durchlebten, sondern durch Quellenstudium erschlossen und durch Fiktion vervollständigten.