Angst vor Syriens Muslimbrüdern in Riad
Der "Arabische Frühling" bringt das saudische Staatsgefüge ins Wanken: Nach jahrzehntelanger Unterdrückung sind die Muslimbrüder auf dem Siegeszug. Vor allem der Fall Syrien ist für Riad brisant
Es war eine groß inszenierte Geste, als König Abdullah bin Abdul Aziz kurz nach Beginn des diesjährigen Fastenmonats Ramadan, der für Barmherzigkeit und Miteinander steht, die "Saudische Nationale Kampagne zur Unterstützung der syrischen Brüder” eröffnete und einen Scheck in Höhe von umgerechnet 5,3 Millionen Dollar einreichte. Die Kampagne brachte rund 32 Millionen Dollar ein, die auf humanitäre Hilfe verwendet werden sollen.
Rund vier Wochen zuvor hatten bereits saudische Kleriker eine Spendenkampagne für Syrien lanciert. Hier aber hatte der Monarch anders reagiert: Er hatte sie umgehend verboten. Ein Grund mag gewesen sein, dass die Gelder, wie Jonathan Schanzer von der US-amerikanischen Foundation for Defense of Democracies schreibt, zur Unterstützung der Freien Syrischen Armee gedacht waren. Zudem sollte, so Schanzer, unter anderem die "Revival of Islamic Heritage Society" in Kuwait die Gelder transferieren – eine Organisation, die al-Qaida nahesteht. Allerdings könnten dies nur zusätzliche prekäre Details sein. Die Initiative wäre zweifelsohne so oder so verboten worden: Jedes politische Engagement von privaten Klerikern in Saudi-Arabien wird als Bedrohung für das saudische Staatsgefüge empfunden, erklärt Frederic Wehrey von der Stiftung Carnegie Endowment for International Peace in Washington.
Die Gründe dafür reichen bis 1744 zurück. Damals kamen der Emir Muhammad ibn Saud und Muhammad ibn Abdel-Wahhab, der Gründer der wahhabitischen Doktrin, die in Saudi-Arabien die Staatsreligion ist, überein, Politik und Religion voneinander zu trennen: Die Dynastie der al-Sauds würde fortan die politischen Geschicke des Landes lenken und der Klerus dies religiös legitimieren.
Politisches Erwachen des Klerus
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts fechten neue Bewegungen das Modell an. Allen voran die der Muslimbruderschaft, die Religion und Politik verknüpft und viele Wahhabiten derart beeinflusste, dass sie ihre quietistische Haltung aufgaben und die "Sahwa” (Islamisches Erwachen) gründeten, eine Reformbewegung, die religiös orthodox, politisch bewusst und – in Imitation der Muslimbuderschaft – gut organisiert sein wollte. Als sei dies für die al-Sauds nicht alarmierend genug, studierten die Anhänger der "Sahwa" noch jene These des bedeutenden ägyptischen Muslimbruders Sayyid al-Qutb, wonach es erlaubt sei, Regierungen in muslimischen Staaten zu bekämpfen, wenn sie sich un-islamisch verhalten.
In den Neunzigern wurde die Folgen dieser Dynamik für Riad erstmals akut: Als die al-Sauds während des Golfkrieges einer halben Million US-Truppen Einlass auf das Terrain gewährten, das Mekka und Medina, die beiden heiligsten Städte des Islam, beherbergt, erklärten viele sie zu Feinden des Islam. 1994 zerschlug Riad die "Sahwa" und versucht seither, jenen Teil des Klerus, der nach politischer Teilhabe verlangt, in Schach zu halten. Indirekt halfen ihm hierbei die Nachbardiktaturen, die die Muslimbrüder flächendeckend unterdrückten. Die letzten anderthalb Jahre stellten die Situation indes auf den Kopf: In Ägypten ist die Bruderschaft mittlerweile mit 51,7 Prozent die stärkste Partei im Parlament, in Marokko gewann sie 107 der 395 Parlamentssitze und in Tunesien mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen. Ähnliche Erfolge könnte sie in Syrien erzielen.
Der Iran im Visier
Die dortige Revolte ist für die al-Sauds allerdings diejenige mit der höchsten Brisanz: Der Sturz Baschar al-Assads ist dem saudischen Klerus ein weit größeres Anliegen als der eines Hosni Mubarak oder Muammar Ghaddafi - wittert er in Syrien doch seine historische Chance, endlich den verhassten schiitischen Iran abzudrängen. Das freilich ist auch das strategische Ziel der al-Sauds - jedoch ohne parallel am eigenen Stuhl zu sägen.
Angesichts dessen wundert nicht, dass Riad mit dem eigenen Klerus strenger denn je verfährt. So verbot es am 7. Juni alle Aufrufe zum Jihad in Syrien, die nicht über offizielle Kanäle erfolgen. Zum Vergleich: Als Kleriker, die nicht zum Establishment gehören, 2004 zum Jihad im Irak mobilisierten, hielt sich Riad zurück.
Darüber hinaus sucht die Monarchie die Muslimbrüder innerhalb der syrischen Opposition zu marginalisieren, zumal diese längst über gut organisierte, bewaffnete Flügel verfügt. Um dagegenzuhalten, unterstützt Riad Brigaden mit wahhabitischem Gedankengut. Dies geschieht vermutlich gar nicht einmal in eklatantem Ausmaß, sondern eher in der Intention, zusätzlich Öl in das konfessionelle Feuer in Syrien zu gießen – und um den eigenen Wahhabiten zu demonstrieren, dass ihre Gesinnungsgenossen gefördert werden. Zudem unterstützt Riad die Freie Syrische Armee (FSA). Deren loses Konglomerat aus 40 Einheiten ist zwar nicht unter einen ideologischen Nenner zu subsumieren. Die grobe Ausrichtung aber ist Experten zufolge eher nationalistisch. Die Muslimbrüder hingegen streben erklärtermaßen eine "progressive Islamisierung der Gesetze" an. Auch wenn unklar ist, was dies genau heißen soll: In Riads Interesse liegt es in keinem Fall.