Angst vor Taliban oder politisches Entgegenkommen?

Bild: Pixabay License

Afghanistan: Nato-Mission drängt auf Abzug der Bundeswehr am 4. Juli

Der amerikanische Unabhängigkeitstag ist aller Wahrscheinlichkeit nach das neue Abzugsdatum für die Bundeswehr aus Afghanistan. Die Formulierung des Sprechers des deutschen Verteidigungsministeriums fällt vorsichtig aus:

Zurzeit gehen die Überlegungen im Hauptquartier Resolute Support in Kabul in die Richtung, den Abzugszeitraum zu verkürzen. Es wird der 4. Juli als Abzugsdatum erwogen. Die beteiligten Nationen prüfen zurzeit die daraus resultierenden Herausforderungen und Folgen. Die finale Entscheidung über das reale Enddatum liegt unverändert beim NATO-Rat. Vor uns steht nun eine fordernde logistische Aufgabe.

Sprecher des deutschen Verteidigungsministeriums

Im schöner amtlicher Prosa werden die fordernden logistischen Aufgaben, die auf den Organisationsweltmeister zukommen, Abzug und zugleich weitere Versorgung der Truppe bis zum Verlassen des Landes, so beschrieben:

"Das auch zukünftig noch benötigte Material wird nach Entbehrlichkeit auf der Zeitachse auf dem Luftweg verflogen. Der zur Verfügung stehende Lufttransportraum ist die entscheidende Stellgröße."

Keine Waffen für die Taliban zurücklassen

Aber auf diesen Fall sei man vorbereitet, wird beruhigt. Die entscheidende Stellgröße wird von der FAZ, die die logistischen Schwierigkeiten etwas konkreter beschreibt, als "Flaschenhals" bezeichnet. Der Bericht spricht dazu gleich an, was unbedingt zu vermeiden sei: Dass aus Zeitnot Waffen und Material zurückgelassen werden und die Taliban davon profitieren.

Sollte das US-Militär nicht mit zusätzlichen Militärtransportern helfen, was als Idealfall dargestellt wird, "würden wohl Teile der deutschen Ausrüstung am Hindukusch verbleiben müssen". Die europäischen Lufttransport-Kapazitäten alleine reichen nicht aus.

Man habe das Material bereits in sicherheitsrelevantes, bedeutsames und unbedeutendes eingeteilt. Notfalls würde zerstört, was nicht in die Hände der Taliban fallen dürfe, so die Informationen der Zeitung, deren Kontakte zu Ausschusskreisen des Bundestags die Meldung vom Plan des schnelleren Abzugs bestätigen.

Pentagon hat noch nicht entschieden

Allerdings bestätigt der Zeitungsbericht ebenfalls, dass eine endgültige Entscheidung über einen früheren Abzug noch aussteht. Zwar würde das Hauptquartier der Operation Resolute Support in Kabul den Abzugszeitraum verkürzen wollen und dies vorantreiben, aber nicht nur der Nato-Rat, sondern auch "das Pentagon hat bislang nicht entschieden, ob es die Pläne für einen früheren Termin befürwortet".

Über die Hintergründe, weshalb die Führung von Resolute Support dazu drängt, den Abzugszeitraum zu verkürzen, kann man bis dato nur spekulieren. Zwei Motive bieten sich an.

Entweder befürchtet man im Hauptquartier der Nato-Afghanistan-Mission, dass die Taliban mit Anschlägen Druck machen könnten. Das "Islamische Emirat" der Taliban besteht trotz des Biden-Abzugstermins 11. September 2021 auf das mit der Trump-Delegation vereinbarte Datum 1. Mai. Die Taliban kündigten dazu die Möglichkeit an, von "every necessary countermeasure" (jeder notwendige Gegenmaßnahme) Gebrauch zu machen, da ein "Vertragsbruch" vorliege.

Oder, was wahrscheinlicher ist: Die Nato-Mission soll Entgegenkommen gegenüber den Forderungen der Taliban demonstrieren, um sie doch davon zu überzeugen, dass sie an einer Friedenskonferenz in Istanbul teilnehmen. Diese wurde nun offiziell bis auf Weiteres verschoben, wie die Regierung in Katar bekannt gab:

Die Türkei, Katar und die Vereinten Nationen hatten geplant, vom 24. April bis 4. Mai 2021 gemeinsam eine hochrangige Konferenz in Istanbul einzuberufen, an der die Vertreter der Islamischen Republik Afghanistan und der Taliban teilnehmen sollten, um den im September letzten Jahres in Doha begonnenen Verhandlungen über einen gerechten und dauerhaften Frieden in Afghanistan neuen Schwung zu verleihen.

In Anbetracht der jüngsten Entwicklungen und nach ausführlichen Konsultationen mit den Parteien wurde vereinbart, die Konferenz auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, wenn die Bedingungen für sinnvolle Fortschritte günstiger sein würden.

Regierung von Katar

Die Vertreter der Taliban hatten sich geweigert, an der Konferenz teilzunehmen. Und wie es laut ihrem offiziellen Statement dazu aussieht, lassen sie weiterhin wenig Interesse daran erkennen lassen, daran teilzunehmen - es sei denn, es würden Forderungen der Taliban erfüllt.

Auf die Friedenskonferenz kommt es an

Die Schwäche dieser Konferenz sei ihre Einseitigkeit, "dass ihre Planung allein von amerikanischer Seite ausging", so die Erklärung auf der offiziellen Webseite der Taliban, die ihren Anspruch auf das "Islamische Emirat Afghanistan" reklamiert.

Amerika und die Kabuler Verwaltung waren begeistert von der Konferenz, während das Islamische Emirat kein Interesse daran zeigte. Das Ergebnis war, dass die einseitigen Versuche Amerikas, diese Konferenz stattfinden zu lassen, scheiterten und die Konferenz nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt stattfinden konnte.

Aus solchen Erfahrungen wird deutlich, dass Schritte, die zur Förderung des Friedens unternommen werden, seien es Treffen, Konferenzen oder sonst etwas, nicht einseitig sein sollten. So wie es Amerika nicht gelungen ist, seine Pläne dem Islamischen Emirat durch militärischen Druck aufzuzwingen, so kann es auch nicht durch politischen Druck erfolgreich sein.

Zeit, Ort, Tagesordnung und andere Einzelheiten künftiger Konferenzen zur Herstellung des Friedens müssen in gegenseitigem Einvernehmen und in Harmonie beschlossen werden, damit sie mit Erfolg durchgeführt werden können.

Erklärung der Taliban

Der letzte Satz lässt sich als Verhandlungsangebot verstehen, mit dem Ziel eigene Forderungen durchzubringen.

Eine gewisse Hebelkraft hat das, weil die Friedenskonferenz für den US-geführten Westen die verbliebene Chance ist, politisch Gesicht zu wahren und das Gewicht der afghanischen Regierung nach Abzug der US-Truppen und ihrer westlichen Verbündeten über eine Friedensabmachung zu unterstützen.

ZEIT ONLINE: Wie muss man sich Afghanistan ohne internationale Truppen vorstellen?

Ruttig: Alles hängt davon ab, ob es ein Friedensabkommen gibt. Falls nicht, besteht die Gefahr, das weitergekämpft wird und der Alltag so aussieht, wie jetzt: Wenn die Menschen morgens das Haus verlassen, wissen sie nicht, ob sie abends lebend und unversehrt wieder heimkommen.

Sollte es ein Abkommen geben, hängt vieles von den Verabredungen in den einzelnen Provinzen ab: Sind die Taliban bereit, pragmatisch mit den ehemaligen Regierungsvertretern zusammenzuarbeiten? Das wichtigste für Afghanistan ist aber, dass es in Kabul nicht erneut eine korrupte Regierung gibt, und dann noch mit den Taliban gemeinsame Sache macht.

Thomas Ruttig

Der Diplom-Afganist Thomas Ruttig kennt Afghanistan durch mehr als 13 Jahre Aufenthalt im Land umfassender als die meisten politischen und militärischen Entscheider wie auch dem Großteil der Medien-Kommentatoren. Seine Lageberichte sind konkret und spiegeln die Widersprüche und das Komplizierte des Landes wider.

Seine daraus abgeleiteten politischen Folgerungen sind diskussionswürdig. So stimmt er nicht in den Chor der Erleichterung und der "Gut so"-Reaktion über den Abzug aus Afghanistan ein: Der Truppenabzug als Türöffner für die Taliban sei zumindest selbstvergessen, da der Westen selbst zur verfahrenen Situation beigetragen habe. "Gegenüber der afghanischen Zivilbevölkerung aber, die allein die Konsequenzen tragen muss, ist er nichts als arrogant."

Zur Konferenz in Istanbul meint er:

Die Taleban-Absage für Istanbul bedeutet keine generelle Absage an Verhandlungen. Aber ein Friedensschluss und eine Machtteilung werden nur noch zu ihren Bedingungen möglich. Die Frage ist nun, ob sie die Doha-Gespräche fortsetzen oder einen neuen Verhandlungsrahmen suchen werden.

Thomas Ruttig

Zugleich erkennt auch er, was die Taliban an der Konferenz monieren: Dass es um regionalen Einfluss geht. Allerdings nun auf Kosten der USA.