Anschläge auf Nord-Stream-Pipelines: Hochexplosive Hinweise?
Mediensplitter (14): Ein Bericht der Washington Post berichtet über Zweifel an der Darstellung, dass Russland hinter den Lecks steht.
Sie werde weiterhin "äußerst schwierig" sein – die Forensik, also die systematische Untersuchung mutmaßlicher Straftaten, hier zu den heftigen Zerstörungen der Nordstream-Pipelines in der Ostsee nahe Bornholm Ende September dieses Jahres. Das sagte laut aktuellem Washington Post-Bericht "ein hoher Beamter des US-Außenministeriums".
Die bekannte linke Journalistin Caitlin Johnstone aus Australien twitterte dazu ironisch:
Ja, ich bin sicher, dass diese Forensik in der Tat ziemlich schwierig bleiben wird, anonymer Beamter des US-Außenministeriums!
Johnstone meint damit, es erweise sich für westliche Politik und entsprechende Medien angesichts auch neuer Untersuchungsergebnisse schwierig – oder werde gar noch schwieriger –, vor allem die russische Seite ernsthaft als Haupt-Verdächtigen in diesem weiterhin hochexplosiven Fall darzustellen.
Auch der irische Links-Politiker Michael "Mike" Wallace, der für die sozialistische Partei "Independent 4 Change" seit 2019 als Abgeordneter dem EU-Parlament angehört (als Mitglied der Links-Fraktion), hatte das brisante Thema jüngst im parlamentarischen Plenum erneut unterstrichen. Er twitterte danach:
Der Angriff auf Nord Stream war ein schrecklicher Angriff auf lebenswichtige europäische Infrastruktur, es war ein Akt des Umweltterrorismus – eine katastrophale Freisetzung von Methan. Warum zeigt die EU so wenig Interesse daran, herauszufinden, wer es getan hat? Hat man Angst, dass die Antwort nicht gefallen wird?
In der Tat scheint das Interesse an Aufklärung der Schuldfrage bei vielen westlichen Verantwortlichen in Politik und Medien gering, Tendenz sinkend. Auch oder gerade in der ja in vieler Hinsicht naheliegenden Bundesrepublik.
Umso interessanter der jüngste Beitrag der Washington Post (Eigentümer ist seit 2013 Jeff Bezos, als Amazon-Gründer und Multimilliardär einer der offiziell reichsten Menschen auf Erden), bemerkenswerterweise in der Rubrik "Nationale Sicherheit" – dieses Ressort wird in den USA traditionell sehr weitgehend interpretiert. Die Überschrift lautet:
Keine schlüssigen Beweise, dass Russland hinter dem Nord-Stream-Angriff steckt.
Diese Darstellung darf, mit Blick auf die Rolle dieser Zeitung als ein absolutes liberales Leitmedium, als wichtig gelesen werden: Es gibt offenbar (mittlerweile) wichtige Kreise der Bereiche Politik, Militär und Geheimdienste in den USA, die wiederum wichtigen Medienschaffenden entsprechende Zitate liefern und damit zu verstehen geben, dass aus ihrer Sicht wenig oder nichts in belastbarer Weise auf eine Schuld russischer Akteure deutet.
Laut Post-Unterzeile hätten vor Monaten etliche westliche Staats- und Regierungschefs Moskau schnell für die Explosionen entlang der unterseeischen Erdgaspipelines verantwortlich gemacht. Allerdings: "Einige westliche Offizielle bezweifeln inzwischen, dass der Kreml dafür verantwortlich" sei.
Denn mittlerweile, nach monatelangen Ermittlungen, sagten zahlreiche westliche Offizielle nicht-öffentlich, dass Russland möglicherweise doch nicht die Schuld an dem Angriff auf die Nord Stream-Pipelines trage: "Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Beweise dafür, dass Russland hinter der Sabotage steckt", sagte laut Zeitung ein Offizieller aus dem EU-Bereich und habe damit der Einschätzung von 23 diplomatischen und Geheimdienstmitarbeitern aus neun westlichen Ländern entsprochen, die in den vergangenen Wochen befragt worden seien.
Das allein ist, finde ich, schon publizistischer Sprengstoff, und es lässt sich fragen, warum dieser Aspekt in Medien hierzulande kaum eine Rolle spielt(-e). Denn, so die WashPost" weiter, einige der konsultierten Insider seien "sogar so weit (gegangen) zu sagen, dass sie nicht glauben, dass Russland verantwortlich ist."
Andere Befragte – und hier kommt m.E. ein neues interessantes Narrativ ins Spiel – , welche "Russland immer noch für einen Hauptverdächtigen" hielten, hätten geäußert, dass "eine eindeutige Zuordnung des Anschlags – zu welchem Land auch immer – unmöglich sein könnte". Caitlin Johnstone kritisiert auch dieses neue Narrativ. Sie twittert:
Jetzt sagen sie uns: "Wer immer es getan hat, kommt vielleicht ungeschoren davon".
Diesen "shit" sollten wir nicht akzeptieren, meint die linke australische Journalistin.
Der Zeitungs-Beitrag unterstreicht, die Anschläge hätten "zu einer der größten abgrenzbaren Methanfreisetzungen aller Zeiten geführt". Seismolog:innen hätten den Zeitpunkt der drei Explosionen am 26. September, die vier Lecks an den Pipelines Nord Stream 1 und 2 verursachten, genau bestimmt. Niemand der Befragten bezweifele, dass die Schäden vorsätzlich herbeigeführt worden seien.
Doch selbst diejenigen, die über Insiderwissen zu den forensischen Details verfügten, brächten Russland "nicht eindeutig mit dem Angriff in Verbindung", sagen laut Washington Post Staatsdienende, "die unter der Bedingung der Anonymität sprachen, um Informationen über den Fortschritt der Ermittlungen weiterzugeben, von denen einige auf geheimen Informationen" beruhten.
Und der Beitrag lässt noch tiefer blicken:
"Die Vereinigten Staaten fangen routinemäßig die Kommunikation russischer Beamter und Militärs ab – eine geheime nachrichtendienstliche Maßnahme, die dazu beitrug, Moskaus Einmarsch in die Ukraine im Februar genau vorherzusagen. Bislang haben die Analysten jedoch noch keine Äußerungen von russischer Seite gehört oder gelesen, in denen sie [also: russische Akteure, d.A.] die Schuld auf sich nehmen oder andeuten, dass sie versuchen, ihre Beteiligung zu vertuschen", so im Zeitungsartikel zitierte westliche Beamte. Auch das eine Textpassage mit hohem Nachrichtenwert oder eben "Sprengstoff", die wiederum hierzulande wenig Widerhall fand.
Aber lassen wir die Kirche oder hier Zeitung "im Dorf": Auch die Washington Post geht nicht so weit, die Schuldfrage womöglich und ausdrücklich ganz anders zu stellen. Stattdessen heißt es im Artikel:
Russland bleibt jedoch ein Hauptverdächtiger, zum Teil wegen seiner jüngsten Geschichte der Bombardierung ziviler Infrastruktur in der Ukraine und seiner Neigung zu unkonventioneller Kriegsführung.
Quellen des Beitrages hätten gesagt, es sei weiterhin "nicht so abwegig zu denken", dass der Kreml selbst Nord-Stream angegriffen haben könnte. Vielleicht, um die Entschlossenheit und Geschlossenheit der Nato zu untergraben und zumindest einige westliche Verbündete aus dem Bündnis ein wenig herauszulösen, die von russischen Energiequellen weiterhin und besonders abhängig seien.
Einige der konsultierten Offiziellen hätten es jedenfalls geradezu bedauert (m.E. vermutlich um der eigenen Reputation willen), dass so viele westliche Staats- und Regierungschefs gleich direkt mit dem Finger auf die russische Führung zeigten, "ohne andere Länder und extremistische Gruppen in Betracht zu ziehen, die in der Lage und motiviert sein könnten, den Anschlag durchzuführen."
Doch während sich die Ermittlungen laut Washington Post hinziehen, wiesen Skeptiker des "Russland- hat-auch-hier-die-Schuld"-Framings darauf hin, dass Moskau wenig gewänne durch die dauerhafte schwere Beschädigung von Pipelines, die Westeuropa mit russischem Erdgas versorgten und jährliche Einnahmen in Milliardenhöhe generierten.
Während Putins langer Amtszeit habe der Kreml Energielieferungen als politisches und wirtschaftliches Druckmittel eingesetzt, indem er mit der Drohung, die Energieversorgung zu unterbrechen, Länder dazu zwang, sich seinen Zielen anzupassen, beruft sich der Artikel auf westliche Insider-Quellen: "Es ergäbe keinen Sinn, wenn Russland dieses Druckmittel aufgeben würde."
Auf diesen Aspekt weist verständlicherweise auch Journalistin Johnstone hin. Mit Bezug auf einen Tweet eines Mannes aus Newcastle, der nach eigenen Angaben lange in der Öl- und Gasindustrie gearbeitet hat, auch an Untersee-Pipelines, schreibt die Australierin:
Und natürlich war es für jeden, der die Sache mit intellektueller Redlichkeit betrachtet, von Anfang an klar, dass es sich nicht um Russland handelte, denn es ergab keinen Sinn, dass sie ihre eigenen Pipelines angriffen – denn wenn sie diese Leitungen abschalten wollten, würden sie einfach das Ventil schließen.
Mit Blick auf Dimensionen und Folgen der Anschläge auf jene Gas-Leitungen wäre es keine Kleinigkeit, wenn die aktuellen Beiträge sowohl der liberalen Washington Post als auch linken Caitlin Johnstone vielleicht manches Erkenntnis- und Debatten-Ventil wieder aufschlössen – auf dass die Weltöffentlichkeit in dieser weiterhin hochexplosiven Frage und Lage nicht länger auf der (sorry) "Leitung" stehe.