"Anschlag auf die Grenze"
Wieder hat es einen organisierten Massenansturm afrikanischer Flüchtlinge in Melilla gegeben. Ein Bericht aus der spanischen Enklave Ceuta, über die Hoffnungen der Immigranten und die Praktiken der Immigrations-Mafia
Letzte Woche versuchten über 1000 Schwarzafrikaner die Grenzzäune von Ceuta und Melilla, den beiden spanischen Enklaven auf marokkanischem Territorium, zu überklettern. Dabei kamen insgesamt 8 Immigranten ums Leben, mehrere Hundert wurden von Gummigeschossen und den Schlägen der Polizei beiderseits des Zaunes verletzt. In Ceuta fand der bislang größte „Anschlag auf die Grenze“ statt, wie es die spanische Presse bezeichnete. Von 600 Schwarzafrikanern, die mit selbstgebastelten Leitern auf europäischen Boden gelangen wollten, schafften es nur 163. Fünf wurden bei dem Versuch getötet. Auch heute Morgen haben wieder 600-700 Menschen versucht, den Grenzzaun in Melilla zu überwinden, der erst vor kurzem auf sechs Meter erhöht worden war, aber nicht vom Militär bewacht wurde. Geschafft haben es 300-350, 100 wurden leicht verletzt. Auch vier Mitglieder der Guardia Civil und drei spanische Soldaten sind nach Angaben von El Mundo verletzt worden. Die Immigranten griffen teilweise mit Steinen und Stöcken an. Die Polizei spricht von "einer bislang unbekannten Aggressivität und Gewalttätigkeit".
Update: Marokko fordert zur Bekämpfung der illegalen Immigration, der Drogenkriminalität und des Terrorismus einen "wirklichen Marshall-Plan" für die Sahelzone und Möglichkeiten der legalen Einwanderung.
Knapp 45 Minuten dauert die Überfahrt von der im Süden Spaniens gelegenen Hafenstadt Algeciras nach Ceuta. Das verschlafene Städtchen mit rund 70.000 Einwohnern ist zusammen mit Melilla, etwas weiter im Norden an der Küste gelegen, der letzte Rest des spanischen Kolonialismus auf marokkanischem Territorium. In Ceuta tut sich normalerweise wenig. Der spanische Teil der Bevölkerung ist bieder, konservativ, oft wehmütig verbunden mit den „guten, alten Zeiten“ Francos. Wie in Melilla gibt es auch hier noch immer Straßen, die nach Persönlichkeiten des Faschismus benannt sind, und an öffentlichen Gebäuden liest man Slogans der Phalange. Von Ceuta aus startete der Generalissimo 1936 seinen Putsch gegen die spanische Republik.
Zwei Tage nach dem Sturm auf die Grenze sind alle Spuren weggeräumt. In den nächsten Tagen beginnen die Bauarbeiten, den Zaun auf der gesamten Strecke von 10 Kilometern rund um die Stadt auf gleiche Höhe zu ziehen und weitere Massenfluchten zu verhindern. Die Immigranten hatten sich eine Stelle ausgesucht, an der der Zaun anstatt der normalen 6 Meter nur 3,50 Meter hoch und aus Mangel an Platz, keine ausreichende Sicherheitszone angelegt war. Allerdings hat der neue Ansturm gezeigt, dass auch sechs Meter kein wirkliches Hindernis darstellen.
Die spanische Legion sichert jetzt die Grenze, mit schusssichern Westen und mit Maschinengewehren bewaffnet. Als ein marokkanischer Hirte mit seinen Ziegen über den Hügel ins Sichtfeld der Soldaten wandert, wird er angewiesen, das Gebiet sofort zu verlassen. Man ist nervös an der Grenze.
„Aber sie können letztendlich nichts tun“, sagt Bruder Diego Diaz Moreno vom Weißen Kreuz, wo 41 der insgesamt 163 Flüchtlinge untergebracht sind, die es über die Grenze geschafft haben. „Wenn es wieder eine Menschenwelle diesen Ausmaßes gibt, können auch die Soldaten wenig ausrichten. Sie dürfen ja nicht schießen.“
Am vergangenen Mittwoch war jedoch in das Getümmel der Menschmenge geschossen worden. Es ist nicht geklärt, ob die spanische oder marokkanische Polizei von der Schusswaffe Gebrauch machte. Auf beiden Seiten der Grenze beschuldigt man die jeweilige Gegenseite. Fest steht nur, dass drei Schwarzafrikaner auf marokkanischem und zwei auf spanischem Territorium ums Leben kamen. „Wie konnte das Spanien nur tun“, sagte einer der Flüchtlinge. „So ein zivilisiertes Land. Ich dachte, in Europa gäbe es so etwas nicht."
Die Immigranten zahlen 2000 Euro und mehr
In Marokko sind die Immigranten daran gewöhnt, regelmäßig von der Polizei verprügelt und wie Freiwild behandelt zu werden. Im Speisesaal der christlichen Hilfsorganisation zeigt mir John seine Narben am Kopf und im Gesicht. „Sie schlagen dich und nehmen dir alles, was du besitzt. Geld, Klamotten und deine Papiere.“ Er und sein Freund Williams, der neben ihm sitzt, kommen aus dem Sudan. Jedenfalls behaupten sie das. „Wir kommen aus der Darfur-Region, aus einer Kriegszone“, sagt Williams. „Man kann uns nicht mehr zurückschicken.“ Dubios ist aber ihr englischer Dialekt, der sich deutlich nach Nigeria anhört. Zudem sind sie Christen, von denen es in Darfur so gut wie keine gibt. Beide sind Anfang zwanzig und warteten nach einer einjährigen Reise nach Marokko seit sechs Monaten auf ihre große Chance. „Wir haben in einer Gruppe von 50 Leuten im Wald campiert. Unser Chef hat alles organisiert“, erzählt John. Wer auf sie geschossen hat, können sie nicht sagen. „Rund herum gab es Schüsse.“ Über ihre Zukunftspläne wollen sie nichts weiter sagen, denn das liege nur in Gottes Hand. „Wir sind nur seine Werkzeuge, er führt und lenkt uns.“
Über 11.000 Grenzverletzungen wurden alleine 2005 in Melilla registriert. „Aber auch in Ceuta gehört das zum Alltag“, sagt Bruder Diego vom Weißen Kreuz, das Tausende von Immigranten in den letzten Jahren versorgt hat. Nur die Größe und der Organisationsgrad dieses letzten Versuches sei etwas Außergewöhnliches. „Die Immigrations-Mafia hat gute Arbeit geleistet. Eine neue Methode, ihre Klienten ins Land zu schleusen.“ Eine Reise aus Nigeria nach Europa kostet zwischen 2.000 und 3.000 Euro. Wer nicht bezahlen kann oder nur einen Teil davon, macht einen Vertrag, wobei die Familie des Immigranten als Garantie in die Verfügungsgewalt der Mafia überschrieben wird. Sobald der Flüchtling europäischen Boden erreicht, ist der Vertrag „rechtskräftig“. Wenn das Geld danach nicht zurückbezahlt wird, kann die Mafia die Schwester, die Frau oder den Sohn Zuhause auf den Strich schicken, bis die Schuld mit Zinseszins beglichen ist. „Diese schreckliche Geschichte höre ich nun schon seit Jahren“, sagt Bruder Diego nachdenklich. „Obwohl das Risiko so groß ist, hält es niemand davon ab.“
Tatsächlich ist es nicht mehr so einfach, mit einer „batera“ (Boot) nach Spanien zu kommen. Nach dem Regierungsantritts Rodriguez Zapatero verbesserten sich die spanisch-marokkanischen Beziehungen auch im Bereich der Immigration. Dieses Jahr verhafteten die marokkanischen Behörden bereits im Süden des Landes 2.678 Immigranten, die auf dem Weg nach Norden an die Mittelmeerküste waren. Die spanische Staatssekretärin für Immigration, Consuelo Rumi, lobte die neuen Maßnahmen Marokkos. „Die Zahl der Boote auf dem Weg nach Spanien reduzierte sich in diesem Jahr bereits um ein Drittel.“
Auf dem Weg von Ceuta nach Tanger führt eine kleine Straße ins Dorf von Bel Younech, wo es einen kleinen Grenzübergang nach Ceuta gibt. Nur die Kinder, die täglich in Spanien in die Schule gehen, und Erwachsene mit Spezialausweis dürfen passieren. An der Abzweigung von der Hauptstraße eine Polizeikontrolle. „Nichts mehr los“, sagt der marokkanische Polizist lächelnd. „Alle verhaftet, über 200“, fügt er stolz hinzu.
In den Wäldern rund um Bel Younech kampierten Schwarzafrikaner, einige seit Tagen, andere bereits seit Wochen. Nach Nationalitäten getrennt waren verschiedene Camps eingerichtet worden, in denen man auf den Einsatzbefehl der Mafia wartete. Normalerweise ist den Immigranten aus Afrika nicht möglich, sich frei in Marokko zu bewegen. Die meisten halten sich illegal auf und können bei jeder Polizeikontrolle, die es regelmäßig auf jeder größeren Straße gibt, verhaftet werden. Sie müssen also klandestin von Ort zu Ort transportiert werden, was oft Wochen dauern kann. Aus den Pensionen der Medina von Tanger in unauffällige Privatunterkünfte außerhalb der Stadt und von da aus Schritt für Schritt, immer näher Richtung Ceuta. 600 Leute auf verschiedene Camps in den Wäldern zu verteilen und dann zur gleichen Zeit an die Grenze zu bringen, ist ein logistisches Meisterwerk, das eine perfekte Organisation und sehr gute Beziehungen zur Polizei erfordert.
Die Lager um Bel Younech sind tatsächlich verlassen. Dass hier Menschen unter den Bäumen campierten, ist noch an den Resten der Feuerstellen, den Plastiktüten, leeren Konservendosen, Zelten und Schlafsäcken zu erkennen. Man hat das Lager offensichtlich in aller Eile verlassen. Wenige Tage später zerstört die marokkanische Polizei die Camps und verbrennt, was noch übrig ist.
Wer deportiert wird, kommt wieder zurück
„Ich konnte mir das nicht leisten, nach Ceuta zu gehen“, sagt eine junge Frau aus Liberia, die sich mit ihrer Schwester eine winzige Wohnung in der Altstadt von Tanger teilt. Auf ihrer Schulter trägt die Frau einen großen Wasserkanister, den sie an der öffentlichen Wasserstelle aufgefüllt hat und nun nach Hause schleppt. „Sprichst du kein Italienisch?“, fragt sie mich. „Ich war zwei Jahre in Italien, bis sie mich nach Hause deportierten. Nun bin ich wieder hier, um es noch einmal zu versuchen.“ Am Hauseingang gibt ihre Schwester Zeichen, nicht weiter mit mir zu sprechen.
In einem Internetcafé treffe ich Jeffrey und Kelly aus Nigeria, zwei Studenten, wie sie mir sagen. „Aber offiziell sind wir politische Flüchtlinge.“ Jeffrey zeigt mir eine Bestätigung von Flüchtlingswerk der UN aus der Hauptstadt Rabat. „Das hilft nicht viel bei der marokkanischen Polizei, aber immerhin etwas.“ Zweimal wurden die beiden bereits nach Oujda an die algerische Grenze deportiert. Wie bei allen anderen Immigranten, verweigerten die algerischen Behörden auch ihnen die Einreise. „Über Schleichwege sind wir wieder zurück nach Marokko“, erzählt Kelly schmunzelnd. Er zeigt mir seine mit kleinen Narben übersäten Hände. „Vom Gestrüpp und den Schlägen der Polizei.“ Warum sie nicht nach Ceuta gegangen sind, frage ich. Sie hätten gehen können, aber wie schon die junge Frau aus Liberia könnten sie es sich nicht leisten. „1.000 oder 1.500 Euro extra für die Reise nach Ceuta, das ist uns zuviel“, sagt Jeffrey. Kelly mit verspiegelter Sonnenbrille nickt zustimmend.
Die beiden Studenten aus Nigeria sind ebenfalls in einem von der Mafia organisierten Konvoi nach Marokko gekommen. „Wir hatten Glück, die Reise hat nur drei Wochen gedauert. Andere brauchen sechs Monate, manchmal auch mehr.“ Mit 2.500 Euro hat sich jeder von ihnen dafür verschuldet. Wie üblich garantiert die Familie. „So ist das eben“, meinen beide, die sichtlich noch guter Laune sind, obwohl sie schon ein halbes Jahr auf ihren Sprung ins goldene Europa warten. „Die es über den Zaun schafften, haben es gut, bald marschieren sie durch Madrid oder Barcelona“, sagt Kelly neidisch, bevor er sich wieder seinem Internetchat widmet.
Die Flüchtlinge aus Ceuta werden auf die spanische Halbinsel transportiert. „Hier gibt es keinen Platz für sie“, erklärt Bruder Diego. „Unsere Lager sind überfüllt und Ceuta ist keine Großstadt, die Tausende von Immigranten aufnehmen kann.“ Drei Monate gibt der spanische Staat den Neuankömmlingen Zeit, ihren Aufenthalt zu regeln. Fast alle bitten um Asyl, aber nur einem Zehntel wird dieser Status anerkannt. Der Rest wird aufgefordert, das Land unverzüglich zu verlassen. Wer das nicht tut, wird deportiert, sofern Identität und Heimatland geklärt sind. Innerhalb der drei Monate können sich die Immigranten frei bewegen. Viele von ihnen gehen in die Illegalität, verkaufen Sonnenbrillen, Musik-Raubkopien oder enden als Dealer und die Mädchen als Prostituierte. Viele hoffen auch Arbeit zu finden und damit in den Genuss des neuen Amnestiegesetzes der spanischen Regierung für alle illegale Immigranten zu kommen (Aufenthaltsgenehmigung, Abschiebung und Abschottung). Wer nachweisen kann, sechs Monate in Spanien gelebt zu haben und einen Arbeitsvertrag besitzt, erlangt Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Von den geschätzten 1.4 Millionen Illegalen nutzen bisher 672.347 diese Gelegenheit. Für das spanische Sozialversicherungssystem bringt die Amnestie zusätzlich dringend benötigte Einnahmen. Die Zahl der registrierten Arbeitnehmer stieg um 4%.
Die in Bel Younech verhafteten Schwarzafrikaner sitzen in Tanger im Gefängnis. „Ein paar Tage vielleicht, dann werden sie deportiert. Außer ein paar Schlägen kann nichts passieren“, meint Jeffrey am Computer sitzend. „Dann kommen sie wieder zurück, ganz sicher." Bis dahin werden die Zäune in Ceuta und auch in Melilla für mehre 100.000 Euro ausgebaut sein und die Überquerung noch schwieriger sein. Aber das wird sie nicht davon abhalten, erneut ihr Leben zu riskieren.
„Ich verstehe das nicht“, sagt Bruder Fermin vom Weißen Kreuz in Tanger, auf dessen Dach sich regelmäßig die Immigranten bei Polizeirazzien in ihren Hotels in der Altstadt retten. „Gewöhnlich haben diese Schwarzafrikaner in ihrer Heimat, was sie zum Leben brauchen. Sie sind nicht arm, sonst würde die Mafia nie mit ihnen Verträge machen. Ich verstehe nicht, dass der Traum vom goldenen Europa immer noch so verklärt ist.". Er schüttelt nachdenklich den Kopf und entschuldigt sich dann, als ein sichtlich heruntergekommener Straßenjunge über Ohrenschmerzen klagt. „Ich muss jetzt arbeiten."