Antarktis: Das nicht mehr ganz so ewige Eis
Die antarktischen Eisschilde sind offenbar empfindlicher als bisher gedacht
Wissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und vom Britischen Antarctic Survey in Cambridge haben herausgefunden, dass die auf dem Land liegenden Gletscher schon auf relativ kleine Veränderungen im Schelfeis reagieren. Beim Schelfeis handelt es sich um meist mehrere hundert Meter dicke Eiskörper, die auf dem Meer vor der Küste in kleineren und größeren Buchten schwimmen.
Das auf dem Land liegende und bis zu 4,5 Kilometer dicke Eis fließt aufgrund seines Gewichts auseinander. Seine Ränder drücken aufs Meer hinaus, wo sie besagtes Schelfeis bilden. Dieses wirkt oft wie ein Bremsklotz für das nachdrückende Eis, sei es, weil sich das schwimmende Eis an Inseln und vom Meeresgrund aufragenden Felsen verhakt, sei es, dass die Eisströme in den Buchten zusammenfließen und das Eis sich dort staut.
Unerwartete Fernwirkung
Neu an der zu Wochenbeginn in der Fachzeitschrift Nature Climate Change veröffentlichten Studie ist Folgendes: Die kritischen Zonen im Schelfeis, die besondere Auswirkungen auf die Bewegung der Gletscher haben, befinden sich unter anderem auch an "am Rande und in der Mitte einiger Eisschelfe - oft an den Stellen, die den umliegenden Gewässern der Antarktis am nächsten liegen, und damit stärker gefährdet sind, wie es in einer PIK-Pressemitteilung heißt.
Schon eine geringe Abnahme der Dicke an diesen Stellen hat große Auswirkungen. "Eine Destabilisierung des schwimmenden Eises in einer Region kann ein weitreichendes Signal senden, das bis zu 900 Kilometer weit quer über das größte Eisschelf der Antarktis reichen kann", sagt Hauptautorin Ronja Reese vom PIK. Bisher war man davon ausgegangen, dass die Gletscher vor allem empfindlich auf Veränderungen an der Grundlinie reagieren. Dabei handelt es sich um die Zone, an der das Eis beginnt aufzuschwimmen. Wird das Schelfeis dünner, so zieht sich diese Grundlinie in Richtung Land zurück. Dadurch verringert sich der Reibungswiderstand, was den Gletscher schneller Richtung Meer fließen lässt.
Keine Vorhersage, sondern eine Diagnose
Die neue Arbeit bestätigt, dass auch die Grundlinien kritisch sind, erweitert aber die Kenntnisse über das Schelfeis dahingehend, dass andere Zonen ebenfalls eine destabilisierende Rolle spielen können. "Dies ist das erste Mal, dass die Auswirkungen des Dünnerwerdens von Eisschelfen in der Antarktis systematisch quantifiziert wurden", sagt Ko-Autor Hilmar Gudmundsson vom British Antarctic Survey in Cambridge. "Wir hatten erwartet, dass die Auswirkungen bedeutend sein könnten - jetzt wissen wir, dass es so ist."
Ein anderer Ko-Autor, Anders Levermann vom PIK und der Columbia University in New York weist darauf hin, dass die Studie keine Prognose künftiger Entwicklungen darstellt, sondern eher eine Diagnose ist. Schwachstellen im Eis wurden identifiziert, die in Zukunft genauer untersucht und beobachtet werden sollten. An ihnen wird man künftig drohende Entwicklungen besser ablesen können.
Wir haben die kritischsten Bereiche des schwimmenden Eises kartiert, die selbst bei einer geringfügigen Änderung der Eisdicke eine starke Reaktion des Inlandeises auslösen können. Hier braucht es eine gezielte Beobachtung der Veränderungen der Eisdicke und der Meerestemperatur unterhalb dieser Gebiete. Und es kann uns allen als Warnung dienen, dass das, was als ewiges Eis bezeichnet wird, doch nicht so ewig sein könnte. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass die Begrenzung der globalen Erwärmung notwendig ist, um die antarktischen Eismassen zu stabilisieren, viele Meter zusätzlichen Meeresspiegelanstiegs zu vermeiden und damit Städte wie New York, Hamburg, Mumbai und Shanghai zu schützen.
Anders Levermann, PIK
Wichtig sind die Erkenntnisse nicht zuletzt, um die Gefahren für den künftigen Meeresspiegel einzuschätzen. Dafür ist zweierlei von Bedeutung: zum einen die Stabilität der beiden Eisschilde in der West- und Ostantarktis. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der kleinere westantarktische Eisschild hauptsächlich auf Felsen ruht, der sich unterhalb des Meeresspiegels befindet. Um seine Stabilität einschätzen zu können, sind unter anderem detaillierte Kenntnisse über Relief des Untergrundes notwendig.
Meer könnte schneller als gedacht steigen
Zum anderen ist die Massenbilanz der Eisschilde wichtig. Der auf dem eisigen Kontinent niedergehende Schnee - Regen gibt es dort wegen der niedrigen Temperaturen nicht - verdichtet sich im Laufe der Jahre unter dem Druck nachfallender Niederschläge zu Eis, das dann zu den Seiten weg ins Meer fließt, angetrieben vom eigenen Gewicht.
Dort schwimmt es als Schelfeis auf und bricht schließlich an den äußeren Rändern ab. Außerdem taut das Eis an der Unterkante, da das tiefere Meerwasser in der Antarktis wärmer als das Oberflächenwasser ist. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich diese beiden Prozesse beschleunigt und an der Antarktischen Halbinsel sind einige kleinere Schelfeisflächen bereits gänzlich abgebrochen. Unterm Strich kommt die überwiegende Mehrheit der Studien zu dem Ergebnis, dass die Massenbilanz der Antarktis inzwischen negativ ist und mehr Eis verloren geht, als durch Niederschlag neu gebildet wird.
Eine Mitte der letzten Woche veröffentlichte Studie kommt entsprechend zu dem Schluss, dass sich dies in den nächsten Jahrzehnten fortsetzt, und dass die bisherigen Projektionen für den Meeresspiegelanstieg bei weiter hohen Treibhausgasemissionen deutlich zu niedrig ausfallen. Der letzte IPCC-Bericht ging davon aus, dass in einem solchen Emissionsszenario der mittlere globale Meeresspiegel bis zum Ende des Jahrhunderts um 56 bis 98 Zentimeter steigen wird.
Es gibt allerdings auch Untersuchungen, die für frühere Erwärmungsphasen des Planeten zeigen, dass die Eisschilde der Antarktis durch vermehrten Niederschlag wuchsen, allerdings sind Zeitskalen und Randbedingungen nur bedingt mit den aktuellen Entwicklungen vergleichbar.
Wie dem auch sei, Studien-Autor Robert Kopp von der Rutgers University in New Jersey, USA, und seine Ko-Autoren gehen davon aus, dass eher mit 80 bis 150 Zentimeter zu rechnen ist. Bis 2100 könnte Land an das Meer verloren gehen, auf dem heute 153 Millionen Menschen leben. Grundlage ihrer pessimistischen Einschätzung, so schreiben sie im Abstract ihrer Veröffentlichung, sind neuere Untersuchungen über destabilisierende Faktoren im antarktischen Eis und insbesondere jenem Teil, der auf Felsen unter dem Meeresspiegel ruht.