"Anthropologisierung des Militärs"
Nach dem Desaster in Afghanistan und im Irak entdeckte das Pentagon die Bedeutung der Kulturen für die Kriegsführung und schickt nun "Human Terrain Teams" mit an die Front
Als die Bush-Regierung an die Macht gelangte, setzte man auch gleich neue Schwerpunkte in der Verteidigungs- und Rüstungspolitik. Zum technisch und finanziell größten Rüstungsprojekt wurde das Raketenabwehrsystem, an dem die US-Regierung weiter festhält und es trotz aller Unausgereiftheit weltweit durchsetzen will, wozu u.a. die iranische Bedrohung dient. Man zelebrierte auch die Abkehr des Militärs von Aufgaben der Friedenssicherung und Stabilisierung, weil man die Aufgabe des Militärs alleine im Kampf sah. Seitdem hat sich mit den Erfahrungen im Iran und in Afghanistan viel verändert.
Um die Abkehr von der Militärpolitik unter Clintons Präsidentschaft deutlich zu machen, wurde noch im Januar 2003 vom Pentagon mitgeteilt, dass man 1993 eröffnete Institute for Peacekeeping der U.S. Army schließen werde. Die Website des Instituts war bereits im März 2003 verschwunden. Mit einem Jahresbudget von 200.000 Dollar ging es dabei weniger um Kosteneinsparung, sondern um ein symbolisches Zeichen. Friedensicherung und Nation-Buildung war nicht angesagt. Obwohl schon die ersten Schwierigkeiten nach dem Sieg über die Taliban auftauchten, hielt man auch beim Einmarsch an dem naiven Glauben fest, dass mit´dem Sturz des Tyrannen die Menschen ihren Befreiern zujubeln und mit ein wenig Geld als Anschub alles von alleine in die sicheren Bahnen einer politisch und wirtschaftlich den USA zugeneigten irakischen Staates kommt. Mit erstaunlich offener Kritik widmet sich ein vom National Institute for Strategic Studies der National Defense University vor kurzem veröffentlichter Bericht, der von einem ehemaligen Offizier verfasst wurde, diesem "großen Debakel".
Im Wahlkampf hatte Bush im Jahr 2000 noch seine Haltung gegen seinen Konkurrenten Al Gore so verdeutlicht: "Er glaubt an Nation Building. Ich denke, die Rolle des Militärs besteht im Kämpfen und im Gewinnen von Kriegen und daher primär darin zu verhindern, dass Kriege überhaupt entstehen." Allerdings schien man doch schnell bereut zu haben, das Peacekeeping Institute geschlossen zu haben, weil auch im Irak nicht alles zum Besten lief und man dafür keine Pläne gemacht hatte. Also überlegte man sich schon im Juli, o die Entswcheidung gut war, und eröffnete schließlich das Institut schon im Dezember 2003 unter dem Namen U.S. Army Peacekeeping and Stability Operations Institute (PKSOI) wieder, auch wenn sich lange Zeit noch wenig im Vorgehen des Militärs andern sollte.
Seit Jahren experimentiert nun das Pentagon vor allem im Irak um ein erfolgreiches Konzept, neben militärischen Operationen auch zum Nation-Buildung durch Stabilitätssichernde Maßnahmen beizutragen. Schon vor zwei Jahren wurde von Militärstrategen der Begriff "Human Terrain" in Analogie zum "Urban Terrain" oder zum "Physical Terrain" aufgenommen, um neue Konzepte zu entwickeln. Gemeint ist damit, dass zumindest in asymmetrischen Konflikten auch die kulturellen und ethnologischen Bedingungen des Landes gekannt und berücksichtigt werden müssen, in dem das Militär agiert.
Das kam natürlich als Thema deswegen auf, weil das Pentagon dies weder in Afghanistan noch im Irak in strategische und taktische Erwähnungen einbezogen hatte, sondern mehr oder weniger blind in eine fremde Kultur und eine unbekannte Gesellschaft mit komplizierten Strukturen (Sippen, Stämme, Religionen, Ethnien) einmarschiert ist. Jetzt setzt man, zumindest in Teilen des Militärs, auf eine andere Strategie als früher, nämlich auf "Stabilitätsoperationen und Wiederaufbau. Und so will man gewinnen: "not by fire and maneuver, but by winning hearts and minds".
Wie üblich wurde das Konzept "Human Terrain System" mit der entsprechenden Abkürzung (HTS) geprägt. Es bedeutet, dass Einheiten von einem fünfköpfigen Team aus "erfahrenen" Soldaten und "eingebetteten" Wissenschaftlern begleitet und beraten werden, die ethnologische, soziologische, kulturelle und politische Informationen über die Menschen in den Gebieten, in denen die Soldaten operieren, im "militärischen Entscheidungsprozess" beisteuern.
Ein Team besteht aus einem "leader" (aus dem Militär), einem "cultural analyst" (Zivilist, MA/PhD in Anthropologe oder Soziologe , einem "regional studies analyst" (Zivilist, MA/PhD, Sprachen- und Ortskenntnis), einem "human terrain research manager" (aus dem Militär, taktische Aufklärung), and einem "human terrain analyst" (ebenfalls aus dem Militär). Begonnen wurde mit jeweils einer Gruppe in Afghanistan und im Irak Ende 2006
Zu den Teams vor Ort kommen Wissenschaftlerteams im Hintergrund, andere "Expertennetzwerke" für bestimmte Themen, Techniken, eine Datenbank und Programme (MAP-HT ), um Daten – in aller Regel nicht geheim und Open Source - zu sammeln, zu integrieren und zu präsentieren, und Bereitstellung von Informationen und Werkzeugen. Die MAP-HT soll es Kommandeuren ermöglichen, kulturelle Informationen im "Kontext räumlichen und sozialer Netzwerke" zu "visualisieren", um sie besser zu verstehen, aber auch, um Soldaten für ihre Kampfeinsätze vorzubereiten und Einheiten, die neu in ein Gebiet kommen, mit wichtigen Informationen über ihr Einsatzgebiet zu versorgen, so dass sie nicht von Null anfangen müssen, wie das am Anfang oft der Fall war. Man will so auch geografische Informationssysteme, um einen Überblick über die Sippen, Stämme und ethnischen Gruppen haben:
The"'human terrain" - the location and loyalties of the population that transnational threats operate among - becomes as important as the physical terrain in shaping the operational environment. Military and intelligence planners need detailed intelligence on the human terrain to conduct effective operations. Current intelligence reports on human loyalties but lacks geolocational data. GIS solutions allow analysts to match up locations, populations, and loyalties to create a picture of the human terrain.
Bewaffnete Sozialarbeit
Im September 2007 hatte der Verteidigungsminister immerhin 40 Millionen Dollar locker gemacht, um solche Teams bei allen 26 Kampfbrigaden einzubetten und damit auch Geistes- und Sozialwissenschaftlern eine weitere Karriere im Militär zu eröffnen. Allein in Bagdad operieren nun sechs dieser Gruppen, die sich mit der Kultur beschäftigen sollen. Einer der Sozialwissenschaftler sagte, dass man die Lage nicht aus militärischer, sondern eben unter sozialwissenschaftlicher Perspektive betrachte, Man sei nicht auf den Feind ausgerichtet, sondern darauf, staatliche Ordnung (governance) wiederherzustellen. Mittlerweile wird die militärische Wende als "Anthropologieprogramm" tituliert, das etwa in Afghanistan mit helfen soll, die Leistung der lokalen Regierungsvertreter zu verbessern, Stammesangehörige zum Dienst in der Polizei zu bringen, die Armut zu lindern und Dorfbewohner vor Taliban oder Kriminellen zu schützen.
Kultur, Wirtschaft und Politik also anstatt nur Gewehre, Bomben und Razzien, auch "bewaffnete Sozialarbeit" genannt. Allerdings gibt es Streit darüber, was hier wirklich geschieht. Die vom Pentagon eingestellte Anthropologin Montgomery McFate, die für die Navy eine Datenbank mit Informationen über die lokale Bevölkerung aufbaute und schon aus Eigeninteresse dafür warb, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse für militärische Operationen zu verwenden, sieht sich allerdings nicht in der Rolle, die Sozialwissenschaften zu militarisieren: "In Wirklichkeit anthropologisieren wir das Militär", rechtfertigt sie sich. Konflikte würden nicht ver-, sondern entschärft.
Der Anthropologe Roberto J. González kritisiert hingegen, dass das Pentagon die Kultur- und Sozialwissenschaften missbrauche. Ende Oktober hatte auch die American Anthropological Association (AAA) eine kritische Erklärung veröffentlicht, in der sie sich gegen die "Einbettung" wendet, da diese direkte Zusammenarbeit mit den Truppen dem Verhaltenskodex der Wissenschaftler widerspreche. Fragt sich nur, warum Sozialwissenschaftler "heiliger" sein sollten als Naturwissenschaftler und Ingenieure? Nur weil sie bislang eher bei den PsyOp-Einheiten eingestellt waren? Oder sind Kultur- und Sozialwissenschaften per se nichtmilitärisch, auch wenn Gewalt und Krieg direkt aus den Kulturen und Gesellschaften hervorgehen?
Der Streit ging noch weiter. Ende November veröffentlichte die AAA einen Bericht zur Beschäftigung von Anthropologen in Sicherheits- und Geheimdiensten. Man habe nicht prinzipiell etwas gegen eine Mitarbeit beim Militär oder Geheimdiensten, sehe auch, dass Mitarbeit auch einmal besser als Opposition oder Verweigerung sein könne, empfehle aber eine genaue Prüfung der Tätigkeiten und des Kontextes im Hinblick auf ethische Konsequenzen. So sei der Zweite Weltkrieg ein "guter" Krieg gewesen, der Vietnamkrieg ein "schlechter". Prinzip müsse sein, denjenigen keinen Schaden zuzufügen, über die man forscht. Manche Aufgaben könnten auch den Verhaltenscode der AAA verletzen, besonders wenn es um die Arbeit mit Menschen geht, deren Einwilligung nicht freiwillig erfolgt oder die unter Druck stehen. Eine Betätigung im Auftrag von Militär, Sicherheits- oder Geheimdienstbehörden sollten in Transparenz erfolgen, Ergebnisse sollten veröffentlicht werden.
Allerdings war einigen Anthropologen der von einem Ausschuss verfasste Bericht zu liberal, wie bei einem Treffen deutlich wurde, auf dieser vorgestellt wurde. Nach einer erhitzten Debatte nach einem Vortrag von Zenia Helbig, die beim "Human Terrain System" mitgewirkt hat und dieses verteidigte, kündigten sie einen Protest an. Manche machten sich stark, jeden, der mit dem Militär mitarbeite, aus der Organisation auszuschließen.
Die Kritik seitens der Anthropologen dürfte die Anwerbung von Sozialwissenschaftlern nicht erleichtert haben. Überdies wurde ausgerechnet Zenia Helbig aus dem HTS-Programm gemobbt. Grund war, dass sie sich kritisch geäußert hatte, nachdem ein Soldat, der für das HTS ausgebildet wurde, nicht nur seinen Missmut demonstrierte, sondern auch sagte, es sei besser, wenn man gleich die ganze Region bombardieren würde. Helbig wurde zur Kündigung gedrängt, weil sie angeblich mit dem Feind sympathisierte und ein Sicherheitsrisiko. Ein ehemaliger Leiter eines irakischen Human Terrain Teams (HTT) betreibt einen Blog und zusammen mit Zenia Helbig, seine Freundin, einen Bericht veröffentlicht, der aus der Sicht von innen und von Sozialwissenschaftlern die Schwächen des Programms herausstellt.
Wie ein Newsweek-Bericht vor kurzem behauptete, erhält ein Sozialwissenschaftler für einen HTS-Einsatz ein Jahresgehalt von 300.000 US-Dollar. Da es nur wenige Akademiker gibt, die Arabisch sprechen und Experten der Region sind, scheint man ziemlich wahllos und teils nach 10-minütigen Telefongesprächen Mitarbeiter aufzunehmen, die für ihren Einsatz auch nur schlecht vorbereitet werden. Das eben war die Kritik von Helbig, wonach es eher so aussieht, als habe jemand oben in der Hierarchie das Programm ausgebrütet, das nun halt ohne weiteres Interesse vom Militär durchgezogen wird. Das dadurch wieder einmal ins Gerede gekommene Programm, das bei Militärs ebenso unbeleibt zu sein scheint wie bei vielen Wissenschaftlern, hat Verteidigungsminister Gates erst am 14. April noch einmal verteidigt.