Anthropozän: Wie die Menschheit sich im Brathähnchen symbolisiert
Wissenschaftler versuchen zu zeigen, warum das Brathähnchen seit der industriellen Massentierhaltung ab den 1950er Jahren die anthropogene Umgestaltung der Biosphäre am besten demonstriert
Britische Geologen und Archäologen haben das Mast- oder Brathähnchen (Broiler) zum Symbol des Anthropozäns erhoben. Gallus gallus domesticus zeige in seinen morphologischen Unterschieden zu verwandten Arten und durch seine Masse, wie der Mensch die Erde und das Leben auf ihr durch die Ausbeutung der Ressourcen und die Veränderung der Ernährung verändere. Ob man nun groß etwas an Erkenntnis gewonnen hat, das Masthuhn als herausragendes "Zeichen einer umgebauten Biosphäre" für künftige Archäologen darzustellen, kann man dahingestellt lassen. Aber es ist schon beeindruckend und erschreckend, was die Wissenschaftler über die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Industriealisierung der Tierzucht anhand des Masthähnchens und dessen Entwicklung herausgearbeitet haben. Mit der Vermehrung der Nutztiere schwindet die Artenvielfalt und die Zahl der wilden Tiere.
Von den Masthähnchen gibt es mittlerweile mehr als alle anderen Vögel zusammen, auch sehr viel mehr als alle anderen gezüchteten Vögeln (Gänse 0,3 Milliarden, Enten 1,1 Milliarden) oder anderen Haustieren. Geschätzte 65,8 Milliarden Hähnchen wurden im Jahr 2016 geschlachtet. Der Unterschied zu Schweinen - 1,5 Milliarden - und Rindern - 0,3 Milliarden - ist beachtlich. Auch was die Tonnen an Fleisch angeht, werden die Hühner bald Schweine (120 Millionen Tonnen) übertreffen. Die Wissenschaftler schreiben allerdings in ihrem Artikel, der im Journal Royal Society Open Science erschienen ist, dass weitaus mehr Hähnchen geschlachtet werden könnten, als die geschätzt Menge. Die Lebensspanne der Hähnchen vor dem Schlachten betrage gerade einmal 5-7 Wochen - eierlegende Hühner würden hingegen ein Jahr durchschnittlich leben. Das frühe Ende von beiden hat mit wirtschaftlichen Überlegungen zu tun. Jedenfalls soll es permanent um die 22,7 Milliarden lebende Hähnchen geben. Wenn deren Lebensspanne nur 5-7 Wochen beträgt, dann werden auf jeden Fall viel mehr als 66 Milliarden produziert.
Deren Kadaver, die während der Aufzucht oder nach der Verwertung entstehen, landen massenhaft im Müll und häufen sich dort potentiell an. Mitunter kommt es zu Massenschlachtungen, wenn Millionen von Hühnern beispielsweise wegen der Vogelgrippe vernichtet werden. Die Masse an Kadavern ist für die Wissenschaftler einer der Gründe, warum "Broiler" als Zeichen des Anthropozäns gelten sollen. Die Kadaver könnten sich weit verbreitet biostratigrafisch als wichtigste Fossilien des Anthropozäns in den Sedimenten niederschlagen. Ihre Masse gleiche anderen von Menschen gemachten Materialien, die sich anhäufen wie Plastik, Beton oder kugelförmige Rußpartikel, die durch Verbrennen fossiler Energie entstehen. Hühnerknochen werden, da der Hühnerkonsum weiter ansteigt, massenhaft in Müllhalden, wo sie sich erhalten und mumifizieren können, oder anderen Akkumulationen auf der ganzen Welt vorhanden sein.
Der Vorfahre des Masthuhns, das Bankivahuhn (Gallus gallus), hat in Gefangenschaft eine Lebensdauer zwischen 3 und 7 Jahren und ist deutlich kleiner. Gezüchtet wurden es vor 8000 Jahren in Asien, gelangte 3000-2000 vor unserer Zeitrechnung nach Mittelasien und in zwei Wellen 700 und 100 Jahre vor unserer Zeitrechnung nach Europa, um sich dann über die ganze Welt zu verbreiten. Ab dem 16. Jahrhundert nahm das Gewicht durch selektive Züchtung zu, hielt sich aber dann bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Es hat also lange gedauert, bis eine Massenaufzucht mit entsprechender Technik begonnen hat, damit die Hühner, die sich auch genetisch durch Mutationen veränderten und beispielsweise eine Reproduktion das ganze Jahr über ermöglichen, schneller wachsen und ein Mehrfaches an Gewicht zulegen. Erst ab den 1950er Jahren begannen sich die Hähnchen durch Zucht drastisch zu verändern und als Biomasse massiv zu wachsen. Es entstanden "vertikale Integrationssysteme" (Brutstätten, Farmen, Schlachthäuser, Verarbeitungsanlagen und Marketing) der industriellen Hühnerfarmen, die in den USA für 97 und weltweit für 70 Prozent der Produktion verantwortlich sind.
Industriehühner können ohne technisches System nicht überleben
Die heutigen Industriehühner, die ein vier- oder fünfmal so großes Gewicht wie in den 1950er Jahren haben, können nur noch in den technischen Zuchtsystemen überleben, sie werden anders ernährt, weisen zahlreichen Knochenpathologien auf, die Befruchtung findet künstlich statt, ebenso werden die Eier künstlich gebrütet, die Küken werden dann zu Zehntausenden in Farmen unter klimakontrollierter Feuchtigkeit schnell ein paar Wochen als Fleischträger hochgezogen, bis sie geschlachtet werden. In einem Versuch durften Hähnchen nicht nur 5, sondern 9 Wochen wachsen und leben, die Mortalitätsrate erhöhte sich dabei um das Siebenfache, die haben als industrielles Produkt also schon eine Obsoleszenz eingebaut. Das schnelle Wachstum der Brust- und Beinmuskeln führt zu einer Verkleinerung anderer Organe wie dem Herzen oder der Lunge, was deren Funktion beeinträchtigt und eine Verkürzung der Lebenszeit verursacht. Zudem wird der Schwerpunkt weiter nach unten verlegt, was mit der Zunahme der Brustmuskelmasse zu Bewegungsproblemen oder zur Lähmung führt: "Im Unterschied zu anderen Neobiota ist dieser neue Hähnchen-Morphotypus durch intensive menschliche Intervention geformt und nicht fähig, ohne sie zu leben."
Die industrielle Hühnerzucht verändert auch die Landwirtschaft, weil das Futter nun vor allem aus Mais oder Weizen besteht, aber auch Fischmehl und Abfall von Eiern, Hühnern und Küken enthält, um die Proteinzufuhr zu erhöhen. Neuerdings wird versucht, die Proteinzufuhr durch Insektenmehl zu steigern. Gegenüber anderen Nutztieren haben Hähnchen die größte Nahrungseffizienz. So ist die Landfläche zur Aufzucht von Hühnern kleiner als bei Schweinen oder Rindern, aber dennoch ist der Landverbrauch und der Stickstoffemissionen durch Düngemittel mehr als doppelt so hoch wie für den Anbau von Reis, Weizen oder Kartoffeln.
"Die Ankunft des schnell wachsenden Morphotypus in den 1950er Jahren", so die Schlussfolgerung der Wissenschaftler, "und seine Übernahme von den industriellen Farmen weltweit, kann als fast gleichzeitiges globales Zeichen der Veränderung der Biosphäre gesehen werden, die gegenwärtig von Menschen und der Technosphäre betrieben wird. … Hähnchen symbolisieren die Transformation der Biosphäre, um diese den menschlichen Konsummustern anzupassen, und sie zeigen ein deutliches Potential, zu einer biostratigrafischen Art des Anthropozäns zu werden."