Antisemitismus-Affäre: Hubert Aiwanger am SZ-Pranger

Hubert Aiwanger, stellvertretender bayerischer Ministerpräsident, bayerischer Wirtschaftsminister sowie Vorsitzender der Freien Wähler. Bild: UNWTO / CC BY-NC-ND 2.0

"Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben", sagt die Süddeutsche Zeitung und tritt erwartbar eine Empörungswelle los. Nicht nur medienethisch, sondern rein handwerklich stellen sich viele Fragen. Eine Medienkritik.

Sechs Wochen vor der bayerischen Landtagswahl präsentiert die Süddeutsche Zeitung (SZ) am Freitag online und am Samstag ausführlicher in Print auf Seite 3 eine Enthüllungsgeschichte über den Vize-Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Freien Wähler Hubert Aiwanger. Dieser stehe im Verdacht, als 17-Jähriger "ein antisemitisches Flugblatt verfasst und im Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ausgelegt zu haben". Der Artikel wirft zahlreiche Qualitätsfragen auf, die von grundlegender Bedeutung für zahlreiche journalistische Darstellungen sind.

Es geht darin um ein "Schriftstück mit dem rechtsextremistischen Inhalt, das im Schuljahr 1987/88 in der Schule auftauchte". Andere Medien übernehmen die Geschichte von SZ Online. t-online etwa hat, obwohl mit einem Redakteurs-Kürzel versehen, nichts weiter beizusteuern und folgt sogar dem Aufbau des Originals und bleibt auch in der Wortwahl so nah dran, dass Plagiatsjäger ihre Freude hätten.

Doch was spricht nun aus Sicht der Medienkritik gegen den SZ-Online-Artikel? Vor allem eine Minderleistung bei den Qualitätskriterien Relevanz, Maßstabsgerechtigkeit, Vollständigkeit, Einordnung, Richtigkeit und Transparenz.

Relevanz

Journalismus ist dazu da, Dinge öffentlich zu machen – und nicht, sie zu verschweigen. Doch Information um der Information willen ist gerade noch kein guter Journalismus.

Die Aufgabe lautet schließlich, Orientierung anzubieten. Eine unsystematische Informationsflut kann dies nicht leisten, sie führt im Gegenteil zu Desorientierung (Ablenkung von Wesentlicherem, Verwirrung etc.).

Es braucht daher zunächst schon bei den Themen und hernach bei den einzelnen Aspekten dazu eine Auswahl nach Relevanz (für das jeweilige Publikum, bei der SZ also vor allem Abonnenten und Zeitungskäufer in Bayern) sowie untrennbar damit verbunden Einordnung (nicht durch die Journalisten selbst, sondern durch Recherche).

Die Relevanz eines 35 Jahre alten Flugblatts begründet die SZ mit keinem Wort. Am Ende des Textes bemühen die Autoren Katja Auer, Sebastian Beck, Andreas Glas und Klaus Ott zwar einen gebräuchlichen Kniff, indem sie schreiben: "Dass er sich weit am rechten Rand bewegt und gelegentlich darüber hinaustritt, wird Aiwanger immer wieder vorgeworfen, seit er in der Landespolitik aktiv ist."

Doch Antisemitismus oder Rechtsextremismus wird nicht behauptet. Als einzige reale Brücke bietet die SZ an, dass im Juni "Aiwanger bei einer Demonstration gegen das Heizungsgesetz in Erding dazu aufrief, die 'schweigende Mehrheit' müsse sich 'die Demokratie zurückholen'."

Maßstabsgerechtigkeit

Eine einzelfallspezifische Relevanz für Aiwanger lässt sich also nicht erkennen. Aber natürlich kann man jede antisemitische Äußerung, wann auch immer gefallen, für relevant halten. Hier kommt allerdings ein Qualitätskriterium ins Spiel, das sehr spröde "Maßstabsgerechtigkeit" heißt und von vielen Journalisten als "Whataboutism" zurückgewiesen wird.

Dabei verlangt Maßstabsgerechtigkeit hier nicht mehr und nicht weniger, als darzulegen, welches Themenfeld zu erörtern man für relevant hält. Dies kann nicht "Aiwanger" heißen, aber z.B. "alle Spitzenpolitiker der bayerischen Landtagswahl" oder überhaupt "alle Politiker" oder "alle Menschen mit öffentlicher Verantwortung". Genau diese Maßstabsgerechtigkeit scheidet Journalismus von PR: Es darf nicht um eine Kampagne gehen, sondern allein um ein Orientierungsangebot.

Die Skandalisierung einer einzelnen Verfehlung eines heutigen Politikers vor 35 Jahren als 17-jähriger Schüler bietet aber gerade keine Orientierung. Im Gegenteil: Auf Interesse kann die SZ überhaupt nur setzen, weil Aiwanger hier als Ausreißer dargestellt wird, als inakzeptabler Sonderfall. Sie schreibt: (Süddeutsche Zeitung Online vom 25. August 2023)

Die Verweise auf den Holocaust sind unübersehbar und gehen weit über eine leichtsinnige Anspielung hinaus, selbst wenn man bedenkt, dass Aiwanger zum Zeitpunkt des mutmaßlichen Vorfalls 17 Jahre alt war.

Nun wird nicht jeder (Politiker) in seiner Jugend mal Rechtsradikales geäußert haben – aber dummes Zeug, das ihm heute zum Verhängnis werden könnte, vermutlich schon. So schrieb Stefan Huster, Professor für Verfassungs- und Gesundheitsrecht an der Ruhr-Uni-Bochum und seinerzeit Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Evaluation der Pandemiemaßnahmen, in einer ersten Reaktion zum SZ-Artikel auf X:

Nicht schön, aber ehrlich gesagt: weiß nicht, ob ich an alles erinnert werden will, was ich als Jugendlicher mal verlautbart habe …

Es ist davon auszugehen, dass die SZ-Autoren nicht sämtliche Jugendbiografien bayerischer Politiker durchforstet haben, sondern hier viel mehr ein Zufallsfund bzw. eine zugespielte Information ausgewalzt haben.