Antisemitismus-Affäre: Hubert Aiwanger am SZ-Pranger
Seite 3: Transparenz
Die fehlenden Quellennennungen sind nicht nur ein Problem für die Einschätzung der Richtigkeit, sondern in jedem Fall ein Qualitätsdefizit bei der Transparenz. Dies wird besonders deutlich bei der Frage, die doch am Anfang von allem stehen muss und von der SZ nicht einmal gestreift wird: Wie kam man auf das Thema? Wie hat die SZ es gefunden?
Wer hat welches Interesse daran, an genau der nun gewählten Darstellung? Das wäre auch rechtssicher unter Wahrung eines Informantenschutzes benennbar. Dass die Zeitung darüber schweigt, muss – wie so oft bei Verdachtsberichterstattung – besonders skeptisch machen.
Womit wir wieder bei der Maßstabsgerechtigkeit wären: Wird alles Gleiche gleich behandelt? Wird bei allen politischen Akteuren gleichermaßen kritisch auf die Jugendphase geschaut? Sind diejenigen, die der SZ unter dem Siegel der Anonymität Behauptungen geliefert haben, im Hinblick auf den an Aiwanger angelegten Maßstab "sauber"?
Recht und Moral
Gerade im Zusammenhang mit Verdachtsberichterstattung wird immer wieder von Journalisten darauf gepocht, juristische Aufarbeitung sei nicht alles, es gebe auch moralische Verfehlungen, die nicht gerichtlich zu ahnden, gleichwohl von öffentlichem Interesse seien.
Das stimmt. Nicht nur, weil ja das Recht – wenn demokratisch alles richtig läuft – nichts anderes ist als eine vorübergehende Vereinbarung der Gesellschaft über Freiheit und ihre Grenzen, über Tolerables und Sanktionswürdiges. Deshalb können Gesetze jederzeit geändert werden – und davor sollte es sinnvollerweise öffentliche Debatten geben.
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Allerdings kann und muss sich eine Gesellschaft nicht nur über Verbote verständigen, sondern auch über Gebote, über Empfehlungen für ein möglichst wenige Menschen mit einem nicht-justiziablem, aber doch gesellschaftlich belastenden Verhalten zu behelligen.
Gibt es bisher eine solche Verständigung, dass Jugendsünden bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in den Akten des Journalismus aufbewahrt und jederzeit herausgezogen werden können? Oder muss nun endlich diese Verständigung erfolgen, damit nicht nur Aiwanger, sondern auch zig andere Politiker, sicher aber auch Journalisten, NGO-Vertreter und sonstige Meinungsmacher und Verantwortungsträger an den Pranger kommen?
Pranger statt Justiz
Denn mehr als ein Pranger kann es ja nicht werden. Während Strafverhandlungen selbst bei Mittzwanzigern noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden, wenn nach Jugendstrafrecht verhandelt wird, während jeder Strafeintrag im Bundeszentralregister nach bestimmten Fristen gelöscht werden muss, während selbst verurteilte Straftäter nicht jederzeit namentlich benannt werden dürfen, soll also die moralische Instanz des Journalismus jederzeit Uraltes unter dem Teppich hervorholen dürfen oder – für die Orientierung der Gesellschaft – sollen?
Das sollte dringend entschieden werden, wenn es da noch Entscheidungsbedarf gibt. Und dann sollten sich die Medien eine Zeit lang daran halten, bis die Notwendigkeit zur Neuverhandlung gegeben ist.
Denn juristisch wird so oder so im SZ-Fall nichts mehr passieren: Wer auch immer was vor 35 Jahren getan hat, es ist längst verjährt. Und diese Verjährung (§ 78 StGB) ist nicht etwa vor allem ein Zugeständnis an die Justiz, die ohnehin genug zu tun hat. Sondern sie ist ein Versuch, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden herzustellen.
Man darf das alles infrage stellen. Aber dann muss man es – Maßstabsgerechtigkeit! – eben für das ganze betroffene Feld tun, nicht nur in einem Einzelfall.
Was die SZ gemacht hat, verdiente den eigentlichen Begriff des "Whataboutism", des "Was-ist-eigentlich-mit?": Reden wir nicht über Politik, reden wir nicht grundsätzlich über alle Jugendsünden (oder Jugendstraftaten?), stellen wir einfach mal einen Typen an den Pranger, um den sich ein schönes Publikumsgrüppchen versammeln wird – was immer die Leute dann mit ihm machen.
Der Text wurde an einer Stelle korrigiert. Zuvor hieß es noch, die Süddeutsche Zeitung habe aus dem Schriftstück nur bruchstückweise zitiert. Tatsächlich liegt das Flugblatt öffentlich vor.