Antisemitismus und Israel-Krieg: Schaut auf Erdogan, nicht auf Greta Thunberg!
Eine Distanzierung von dem manifesten Antisemiten in Ankara fiel deutschen Politikern bislang schwer. Für die schwedische Aktivistin gelten andere Maßstäbe. Ein Kommentar.
Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die islamistische Hamas als "Befreiungsorganisation" betrachtet, sollte eigentlich keine Überraschung sein. Schließlich ist die Hamas der palästinensische Arm der Muslimbruderschaft, deren türkischer Arm wird durch Erdogans Regierungspartei AKP vertreten.
Als sich Erdogan auf der Top-Ten-Liste der schlimmsten Antisemiten weltweit wiederfand, die das Simon-Wiesenthal-Zentrum seit 2010 jedes Jahr veröffentlicht, war dies weitaus plausibler als bei manch anderen dort Erwähnten.
Nun ist die Türkei aber schon seit Jahrzehnten Mitglied der Nato – und kann sogar durch ihr Veto verhindern, dass dem Militärpakt Länder beitreten, die aus Erdogans Sicht beispielsweise zu liberal mit der kurdischen Exilopposition umgehen. Schweden hat er damit erfolgreich unter Druck gesetzt, die Auslieferung kurdischer Aktivisten erreicht und nun auch dem Beitritt zugestimmt.
Geopolitisches "Kuscheln" mit Antisemiten
Deshalb wird in regierungsnahen Kreisen Deutschlands gerne so getan, als sei Erdogans Antisemitismus bisher nicht bemerkt worden. Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) tanzt diesbezüglich manchmal aus der Reihe und weist schon seit Jahren darauf hin. Aus familiären Gründen versteht der gebürtige Schwabe Türkisch und bekommt ungefiltert mit, was andere Kabinettsmitglieder gern ausblenden, wenn es geopolitisch nicht ins Konzept passt, Erdogan ähnlich scharf zu verurteilen wie jeden No-Name-Hamas-Unterstützer auf deutschen Straßen.
Özdemir will das deutsche "Kuscheln" mit Erdogan schon länger beenden, aber dies fällt nicht in sein Ressort. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) findet es "wahnsinnig wichtig", mit der Türkei im Dialog zu sein – kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine lobte sie "unsere starke deutsch-türkische Partnerschaft" und stellte klar: "In der Russland-Krise stehen wir zusammen." Ihr türkischer Amtskollege hieß damals noch Mevlüt Cavusoglu und heißt jetzt Hakan Fidan – beide gehören aber der AKP an; und Präsident ist nach wie vor Erdogan.
Keine Unschuldsvermutung für schwedische Aktivistin
Da fällt manchen Grünen die Distanzierung von der schwedischen Klima-Aktivistin Greta Thunberg leichter. Ihr wird nicht verziehen, dass sie die Hamas-Massaker an Jüdinnen und Juden im Zuge der "Al-Aksa-Flut" vom 7. Oktober nicht zeitnah öffentlich verurteilt hat, sich aber wenig später klar gegen Bombardierung des Gazastreifens durch israelisches Militär positionierte.
Heute streiken wir aus Solidarität mit Palästina und Gaza. Die Welt muss ihre Stimme erheben und einen sofortigen Waffenstillstand, Gerechtigkeit und Freiheit für die Palästinenser und alle betroffenen Zivilisten fordern.
Greta Thunberg
Kritisiert wird auch, dass sie Social-Media-Kanäle empfohlen habe, auf denen die Hamas-Massaker verharmlost worden seien oder sogar mit Blick auf die Morde von einem "revolutionären Tag" die Rede war. Letzteres ist etwa auf einer Ebene mit Erdogans Klassifizierung der Hamas als "Befreiungsorganisation". Aber im Gegensatz zu ihm hat Greta Thunberg so etwas nicht selbst gesagt.
Ob dies der Aktivistin aus Mangel an Sorgfalt entgangen war, oder was dabei in ihr vorging, wissen wir nicht. Sie ist Autistin und sagt selbst, dass ihr die Veranlagung helfe, sich sehr stark auf die Klimakatastrophe und alles, was direkt damit zusammenhängt, zu fokussieren. Dazu gehört die realistische Einschätzung, dass eine ungebremste Klimakatastrophe zu harten Verteilungskämpfen führen wird und weitere Kriege begünstigt.
Das heißt aber nicht, dass sie den seit Jahrzehnten bestehenden Israel-Palästina-Konflikt fundiert beurteilen kann – oder dass es ihr leicht fällt, zu Ereignissen wie dem schlimmsten Massaker an Jüdinnen und Juden nach 1945, das die Hamas am 7. Oktober dieses Jahres angerichtet hat, die richtigen Worte zu finden.
Das allein wäre noch nicht zu kritisieren – aber vor dem Hintergrund ihres Schweigens zu diesen Pogromen war klar, dass ihr "Stand with Gaza"-Schild auf einem Social-Media-Foto israelische Betroffene verstören würde. Vielleicht hätte sie besser noch ein paar Tage gewartet, um sich dann differenzierter zu äußern.
Die Kritik israelischer Klimabewegter an muss sie sich nun gefallen lassen: In einem offenen teilten sie mit, sie seien "zutiefst verletzt, schockiert und enttäuscht". Ihre Social-Media-Beiträge zu diesem Thema seien "erschreckend einseitig, schlecht informiert und oberflächlich". Sie stünden damit im Gegensatz zu Thunbergs Fähigkeit, "in Details einzutauchen und komplexen Themen auf den Grund zu gehen".
Da sie selbst zugegeben hat, diese Fähigkeit nicht auf allen Gebieten zu besitzen, wäre es aber falsch, in ihr eine überzeugte Antisemitin und Hamas-Sympathisantin zu sehen. Manche schienen aber nur auf einen Fehler der Aktivistin gewartet zu haben, darunter sowohl offene Klimaschutz-Gegner als auch Mitglieder der Partei, die bei der Bundestagswahl auf Klimabewegte als Zielgruppe gesetzt und viele von ihnen maßlos enttäuscht hat.
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"Solche Solidaritätsaufrufe sind in Wirklichkeit Solidarität mit dem schrecklichen Terror der Hamas", ließ der Bundestagsabgeordnete Marcel Emmerich (Grüne) gegenüber der Welt keinerlei Unschuldsvermutung für Thunberg gelten.
Die deutsche Publizistin und Ex-Grüne Jutta Ditfurth wollte deren Antisemitismus sogar an einer Plüschkrake festmachen, die beim ersten "Stand with Gaza"-Posting mit im Bild war.
Wie Greta selbst Objekt antisemitischer Verschwörungsmythen wurde
Die Krake taucht in antisemitischen Karikaturen zwar immer wieder als Symbol für das "Weltjudentum" auf. Datenschutz-Aktivisten nutzen das Bild der Krake aber auch, um den vielfachen Zugriff von Konzernen und Behörden auf persönliche Daten von Millionen Menschen zu symbolisieren.
Im "Fall Greta" ist die wendbare Plüschkrake aber ein sogenannter Stimmungs-Octopus, auf der einen Seite ein fröhliches, auf der anderen ein verstimmtes Gesicht hat. Die Aktivistin erklärte es als Mittel für autistische Menschen, um Gefühle zu kommunizieren.
Hier sofort Codes für antisemitische Botschaften zu unterstellen, zeigt, mit welchem Belastungseifer sich vor allem Deutsche in die Debatte stürzen. Ein Code ist kein Code, wenn wirklich jeder weiß, was gemeint ist und eine andere Bedeutung völlig ausgeschlossen wäre.
Allerdings hat die Episode auch manches durcheinander gewirbelt: Greta Thunberg und die von ihr gegründete Jugendbewegung Fridays for Future waren jahrelang selbst Hassobjekte antisemitischer Verschwörungsideologen, die sie als Marionetten des jüdischen Milliardärs George Soros darstellten.
Soros ist aus deren Sicht der Inbegriff des bösen Kapitalisten, der dem "guten", "schaffenden" Kapital – in Deutschland vor allem der Autoindustrie – schaden will, indem er mit seiner Stiftung ökologische und antirassistische Bewegungen fördert. Greta Thunberg wurde gerüchteweise sogar als dessen Enkelin bezeichnet.
Tasächlich "steuert" die Aktivistin wohl niemand. Sie muss ernst genommen werden, wo sie richtig liegt, aber auch durch klare Benennung von Irrtümern.