Krieg in Nahost: Diskursräume offenhalten!

Symbolbild: Pixabay Licence

Zweierlei Traumata: Warum vergessene Seiten der Geschichte dazugehören – und was eine palästinensische US-Abgeordnete Joe Biden ins Stammbuch schrieb. Ein Kommentar.

Eine Gesellschaft, die die Stufe der Überhitzung erreicht hat, fällt nicht zwangsläufig in sich zusammen, sondern erweist sich als außerstande, einen Sinn zu produzieren.


Michel Houellebecq

Wie der Nachrichtenkanal India.com berichtet, hat Rashida Tlaib, die einzige palästinensische Amerikanerin im US-Kongress, die amerikanische Regierung beschuldigt, einen "Völkermord" an den Palästinensern zu finanzieren.

Als die Abgeordnete am Mittwoch auf einer Kundgebung auf dem Capitol Hill sprach, brach sie den Berichten zufolge in Tränen aus und forderte einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas. Laut Fox News machte Tlaib auch das israelische Militär für die Bombardierung des Krankenhauses in Gaza verantwortlich.

Dem US-Sender zufolge kritisierte Tlaib den US-Präsidenten auch persönlich für seine Reaktion auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas, nachdem das Krankenhaus im vom Krieg zerrissenen Gazastreifen von dem verheerenden Schlag getroffen worden war. Auf der Plattform X, ehemals Twitter, schreibt sie (gerichtet an US-Präsident Joe Biden):

Ihr auf Krieg und Zerstörung ausgerichteter Ansatz hat mir und vielen palästinensischen Amerikanern und muslimischen Amerikanern wie mir die Augen geöffnet. Wir werden uns daran erinnern, wo Sie stehen.


Rashida Tlaib auf X, ehemals Twitter

Dominante Sicht des Westens

Momentan ist die westliche Berichterstattung über den Gewaltausbruch der Hamas und die israelische Reaktion ganz offenkundig durch die dominante israelische Sicht kennzeichnet. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) erklärte in einem spontanen Rundumschlag gleich alle Deutschen zu Israelis..

Beschönigt werden soll nichts, es geht auch nicht um unangemessene Relativierungen, wenn jemand die Schwarzweißmalerei dieser Tage so nicht mitmachen möchte. In der Talk-Runde bei Markus Lanz gab am Mittwochabend im ZDF die Journalistin und Nahost-Expertin Kristin Helberg ein Beispiel. Wenigstens in Umrissen versuchte sie einen nüchternen Einblick in die Vorgeschichte des Konflikts.

Dabei wurde deutlich: Hass und Unversöhnlichkeit sitzen tief, ja haben abgrundtiefe Ursachen. Und bei Lanz schimmerte an diesem Abend die Botschaft, die Rashida Tlaib zu ihrem Post bewegt, auch zumindest in Ansätzen durch: Traumata können nicht nur von israelischer Seite reklamiert werden.

So erinnerte Helberg (wieso müssen das eigentlich gerade die Frauen tun?) an das Schicksal der Vertreibung und die Jahrzehnte anhaltende Demütigung der arabischen Bevölkerung und an ihre aussichtslose, dehumanisierende Lage, zumal auch im Westjordanland. Helberg nennt die Zahl 750.000 Vertriebener und rekurriert auf historische Tatsachen::.

Deren Auswirkungen, so konstatierte unlängst Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig Maximilians-Universität München, kennzeichnen die palästinensische Tragödie bis heute.

Nakba – Katastrophe auf Arabisch

In der Forschung wird davon ausgegangen, dass etwa 600.000 bis 760.000 Palästinenser zwischen Dezember 1947 und September 1949 ihre Heimat verloren. Die Vertriebenen flüchteten außer in den Gazastreifen und das Westjordanland vor allem nach Jordanien und in den Libanon, wo viele ihrer Nachkommen noch nach Jahrzehnten in Lagern leben.

In der kollektiven Erinnerung der Vertriebenen hat das Trauma einen Namen: El Nakba (arabisch: die Katastrophe). Jedoch spielen die hiermit verbundenen Erfahrungen in der medialen Öffentlichkeit allenfalls eine untergeordnete Rolle. Auch in der historischen Dokumentation spiegelt sich dieses Manko wieder.

Während die Literatur über den Holocaust in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg ins schier Unübersehbare angewachsen ist, ist es weitaus schwieriger, Quellen mit konkreten Inhalten zum Schicksal der Araber in der Phase der Staatsbildung Israels ausfindig zu machen.

Die Gründungsformel einer "nationalen Heimstätte in Palästina", wie es Arthur Balfour, britischer Außenminister in den Jahren 1916/17 bis 1919, nannte, begründete zugleich die dominante israelisch-westliche Sicht auf das Geschehen seit 1948, auch wenn diese Formel sich als äußerst dehnbar erweisen sollte.

Mitautor der Balfour-Erklärung, die den Zionisten eine Bleibe in Palästina versprach, war Sir Herbert Samuel, ein Jude, seinerzeit der erste Hochkommissar für das britische Mandatsgebiet. Der Spiegel schrieb 2017 über die vergessenen Ereignisse: "Allein in den ersten beiden Jahren der Mandatsverwaltung wurden fast 200 aufrührerische Araber erschossen. Schon ab 1927 setzten die Briten Bomber gegen die Rebellen ein."

Zurück zur Staatsbildung Israels nach dem II. Weltkrieg im Kontext der Ereignisse 1947 bis 1949 (israelischer Unabhängigkeitskrieg): Muriel Asseburg, Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin hält fest:

Die Nakba markiert eines der zentralen Daten, wenn nicht das zentrale Datum in der Geschichte der Palästinenser:innen. Denn die Ereignisse rund um die israelische Unabhängigkeit bedeuteten für die ansässige palästinensische Gesellschaft eine traumatische Wende, die bis heute fortwirkt und die palästinensische Identität prägt. (…) Das Flüchtlingsdasein, oft als Staatenlose, wurde zur prägenden Lebensrealität für das Gros der Palästinenser:innen.

Muriel Asseburg: 75 Jahre nach der Nakba. Die Katastrophe dauert an. In: APuZ 18–19/2023, S. 46-52

Der Araber, Mensch zweiter Klasse

Auch die in Israel verbliebenen Palästinenser traf es hart. Ihr Besitz wurde enteignet, zusammen mit rund 70 Prozent des Landes, das in arabischem Besitz gewesen war. Dort entstanden Zug um Zug jüdische Siedlungen.

Die Grundrechte wurden eingeschränkt, Beschränkungen der Bewegungs- und Vereinigungsfreiheit und ständige Kontrollen machten die Araber zu Bürgern (und Menschen!) zweiter Klasse, wahrgenommen als "potenzielle fünfte Kolonne der feindlich gesinnten arabischen Nachbarstaaten und damit als Sicherheitsrisiko", so Muriel Asseburg.

Die palästinensische Bevölkerung wird vor allem aus Gebieten verdrängt, die für Israel von strategischer oder ideologischer Bedeutung sind, darauf weist Asseburg hin. Die Konfliktforscherin sieht in der Öffnung der Archive ab Mitte der 1980er Jahre eine Chance hin zu einer Aufarbeitung der ganzen Geschichte, das heißt, einer möglichst komplementären Geschichte beider Seiten.

Dazu gehört die Erinnerung, dass es gezielte Vertreibungen, systematische Zerstörungen palästinensischer Dörfer und Städte sowie Massaker und Plünderungen gegen die arabische Bevölkerung gegeben habe.

In diesem Zusammenhang, schreibt Asseburg, "wurde unter anderem die Bevölkerung von über 400 arabischen Dörfern vertrieben oder flüchtete, die meisten dieser Dörfer wurden zerstört und unbewohnbar gemacht. Verantwortlich dafür waren in der Regel nicht nur Kriegsschäden, sondern auch gezielte Aktionen der israelischen Armee beziehungsweise ihrer Vorläufer und zionistischer Siedler."

"Erfahrungen Raum geben!"

Die israelische NGO Zochrot hat eine App entwickelt, mit der sich Informationen zu den zerstörten Dörfern finden lassen.

Die Plattform "Palestine remembered" erinnert an die Nakba, an die entwurzelte Nation. Augenzeugen berichten u.a. über ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen gegen die Menschlichkeit, als Beispiel sei das Massaker von Al-Tantura (21 Augenzeugenberichte) genannt. Auch ein virtueller Vortrag und Rundgang durch das zerstörte palästinensische Dorf Al-Tantura findet sich hier als ein Beispiel unter vielen.

Muriel Asseburg äußert sich klar: Das Selbstverteidigungsrecht Israels ist unbestritten. Jedoch betont sie: Die geschichtlichen Erfahrungen und kollektiven Traumata beider Seiten müssen anerkannt, vergangenes und gegenwärtiges Unrecht benannt werden können.

Das bedeutet ausdrücklich nicht, die beiden Katastrophen Shoah und Nakba gleichzusetzen oder das Leid einer Seite durch das der anderen zu relativieren. Es bedeutet aber, den Erfahrungen, Sichtweisen und Interessen beider Seiten Raum zu geben.


Muriel Asseburg

Und auch in Richtung Deutschland gibt es einen Wink: In Deutschland, so die Politologin, müsse es dabei auch darum gehen, Diskursräume offenzuhalten.