Antisemitismus in Frankreich: Vorwürfe gegen Gelbwesten
Innenminister Castaner berichtet von einem deutlichen Anstieg antisemitischer Akte. In Kommentaren wird dies in Zusammenhang mit der Protestbewegung der Gilets Jaunes gebracht
Der Antisemitismus breitet sich in Frankreich aus, erklärte der französische Innenminister Christophe Castaner gestern. Er fand scharfe Worte für die Ausbreitung des Gifts und gab eine alarmierende Ziffer bekannt: Antisemitische Akte seien 2018 gegenüber dem Vorjahr um 74 Prozent angestiegen.
2018 zählte man 541 antisemitische Akte, im Jahr davor waren es 311. Der Anstieg komme nach zwei Jahren mit niedrigeren Zahlen, so Le Monde. Als antisemitische Akte wird ein weitreichendes Spektrum in Stichworten aufgelistet: Es beginnt mit Beleidigungen und Drohungen, geht über Beschädigung von Eigentum und Aggressionen und endet mit Mord. Für alle erwähnten Tatbestände gibt es in den letzten Jahren in Frankreich erschreckende Beispiele. Eine genauere Aufschlüsselung für die von ihm genannten Zahlen gab Castaner nicht.
Dafür gibt es bei der französischen Fondation für die Erinnerung an die Shoah Erfahrungen zu lesen, die zu den Zahlen von 2018 dazu gehören, weil sie ein größeres Bild abgeben. Die Fondation berichtete bereits im November 2018 von einem deutlichen Anstieg der Zahlen antisemitischer Akte gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Er lag bei 71 Prozent.
Nur Ausschnitt einer giftigen Wirklichkeit
Die Zahlen würden nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wiedergeben, da die antisemitische Propaganda in den letzten Jahren hauptsächlich im Netz stattfinde und nur auffällige Vorkommnisse aufgenommen würden, die Breite der Hetze wird gar nicht erfasst. Zeugen oder Opfer eines alltäglichen Antisemitismus würden Resignation zeigen und eine Art Gewöhnungseffekt, weswegen bestimmte Vorfälle im Vergleich zu körperlichen Aggressionen als "nicht so schlimm" eingestuft und nicht zur Anzeige gebracht würden - obwohl deren Schwere und Konsequenzen katastrophal sind.
Auch würden Opfer von antisemitischen Akten befürchten, dass eine Anzeige zu Repressalien führen kann und nicht wenige hätten wenig Vertrauen in Untersuchungen und den Ausgang eines Strafprozesses.
Diese Anmerkungen zu den Zahlen sind wichtig, um den Erlebnisraum, der dazu gehört, zumindest etwas begreiflicher zu machen. Nach Erfahrungen, die bei Diskussionen über Kriminalstatistiken gemacht werden können, gibt es immer auch Stimmen, die solche Zahlen vom beschwichtigenden Ende zu fassen versuchen.
Vorwürfe
Den Vorwurf der Beschwichtigung kann man der französischen Regierung, wenn es um Antisemitismus geht, nicht machen. Der Innenminister verwies im Zusammenhang mit der Zahl der antisemitischen Akte, wie erwähnt, auf die giftige und tödliche Wirkung des Hasses auf Juden; seine Ansprache hielt er an einem Ort, wo Ilan Halimi vor 13 Jahren an den Folgen eines grauenhaften dreiwöchigen Martyriums verstarb.
Dafür steht aber ein anderer Vorwurf im Raum, nämlich dass die Regierung versucht, die Protestbewegung der Gilets jaunes (Gelbwesten) mit Antisemitismus zu assoziieren. Die Sache ist freilich heikel, der Vorwurf der politischen Instrumentalisierung von Antisemitismus ist schnell erhoben, aber schwer nachzuweisen. Noch dazu, wenn es nur um assoziierte Verbindungen geht. Laut Castaner spielt dabei das Unterbewusstsein eine Rolle.
Dass eine Verbindung zwischen Gelbwesten und Antisemitismus aber tatsächlich hergestellt wird, ist zum Beispiel in einem Artikel von Anshel Pfeffer in Ha'retz nachzulesen, wo Pfeffer anhand der US-Kongress-Abgeordneten Ilhan Omar und des britischen Labour-Chefs Jeremy Corbyn einen größeren Kurswechsel in der westlichen Politik zum Thema hat, der sich auch beim Antisemitismus zeige.
"Linke und rechte Hardliner finden beim Antisemitismus zusammen"
Eine These zur neuen politischen Tektonik lautet, dass die radikale Linke sich gar nicht so sehr von Trump oder "den Instinkten der Alt-Right" unterscheide. Zum Beispiel bei ihrer Sympathie für "Diktatoren": Putin bei den Rechten und Maduro bei den Linken. Auch die Aversion gegen die Nato würde von beiden Lagern geteilt wie auch Verschwörungstheorien im Netz und das Misstrauen gegen Juden, die von der - nur in Anführungszeichen antirassistischen - radikalen Linken "Zionisten" genannt werden und von den vorgeblich israelliebenden Rechten "Globalisten". Die habe mit George Soros ihr Feindbild gefunden.
Diese Brücke, so die Folgerung Pfeffers, zeige sich nicht nur in den USA und Großbritannien, sondern auch in Frankreich, bei den Gelben Westen.
Nehmen Sie Frankreich als weiteres Beispiel, wo die Randalierer der Gelbwesten, die von beiden Enden des politischen Spektrums kommen, sich anti-semitischen Gesängen ergeben und an diesem Wochenende ein jüdisches Geschäft in Paris mutwillig beschädigten.
Anshel Pfeffer, Ha'aretz
Es hätte die "von links und rechts rührende Judeophobia der Gelben Westen" gar nicht gebraucht, um zu sehen, dass sich die beiden Pole in Frankreich angenähert haben, wenn es um Juden gehe, so Pfeffer. Das hätten zuvor schon Reaktionen von Mélenchon und Le Pen gezeigt, die Macron widersprachen, als dieser von der Verantwortung Frankreichs für KZ-Transporte im Vichy-Régime gesprochen hatte.
Ganz offensichtlich kommt die Protestbewegung der Gilets jaunes bei Pfeffer nicht gut weg. Ihm fallen hauptsächlich Randalierer ("yellow-vested rioter") auf und antisemitische Gesänge. Zu hoffen ist, dass Pfeffer bei seinen anderen Kommentaren differenzierter und sachlicher vorgeht.
Bislang sind die antisemitischen Gesänge nicht in den Vordergrund der Berichterstattung der Proteste der Gelbwesten gelangt, was aber lange nicht heißt, dass es sie nicht gebe. Nur waren der Berichterstattung der französischen Medien, auf die an dieser Stelle zu den jeweiligen Protestsamstagen häufig eingegangen wurde, andere Äußerungen offenbar sehr viel wichtiger. Als Charaketeristikum der Demonstrationen taugen sie nicht.
(Nachtrag: Ein Artikel der Libération im Rahmen einer News-Überprüfung erwähnt die Gesänge. Interessant ist, dass der Check-News-Artikel vom Sonntag zum Inhalt hatte, auf den Verdacht zu reagieren, wonach Gelbwesten für das hingesprayte "Juden" auf das Schaufenster eines Bagelstein-Lokals verantwortlich sind. Dem wird ein Gespräch mit einem Verantwortlichen des Lokals entgegengehalten, wonach der antisemitische Vandalismus seiner Auffassung nach "nichts mit den Gilets Jaunes-Demonstrationen zu tun habe, weil die anderntags stattfanden und an einem anderen Ort" [siehe auch weiter unten]. In dem Artikel der Libération wird erwähnt, dass "vor einigen Wochen der Gesang der 'Quenelle', die auf eine antisemtische Geste von Dieudonné zurückgeht, gesungen wurde".)
Kennzeichnen einer Protestbewegung
Die Frage wäre ja, ob diese Gesänge pars pro toto kennzeichnend sind. Französische Medien, wie zum Beispiel BMFTV sind nicht gerade zimperlich, wenn es darum geht, die Randale, die Gewaltakte und die Zerstörungen bei den Demonstrationen der Gelbwesten als pars pro toto zu nehmen, als Kennzeichen der Gilets jaunes, ganz so wie es auch die Regierung macht. Die Gesänge spielten dennoch bislang auch dort keine auffällige oder kennzeichnende Rolle.
Dagegen wurde über die Spray-Attacke auf das Bagel-Lokal "Bagelstein" in Paris mit den Schmierereien "Juden", die Pfeffer erwähnt, vielfach berichtet. Es stellte sich aber heraus, dass diese antisemitischen Hassschmierereien nicht während der Gilet-Jaunes-Proteste am Samstag ausgeführt wurden, sondern am Tag zuvor. Nach Aussage des Geschäftsführers müsse die gelbe Farbe(!) nicht unbedingt auf Gelbwesten deuten, da der Judenstern der deutschen Nazis auch gelb war.
Es wurden anscheinend noch weitere Läden der Kette angegriffen und die französischen Medien berichten am heutigen Dienstag darüber hinaus über mehrere antisemitische Attacken und Schmierereien an symbolischen Orten oder Gegenständen. Das Politikum dabei ist, dass sie zum Teil direkt oder indirekt mit den Protesten der Gelbwesten in Verbindung gebracht werden, obwohl Beweise ausstehen.
Für Frédéric Potier, der für die Regierung gegen Antisemitismus kämpft, gibt es, wie Le Monde berichtet, offenkundig einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg antisemitischer Akte in den letzten Wochen des vergangenen Jahres und der Bewegung der Gelbwesten. Einen Nachweis dafür liefert auch er nicht. (Dass sich Zeichen antisemitischer Gewalt häufen, wird allerdings von verschiedenen Stellen, die sich damit befassen, bestätigt.)
Die Protestbewegung ist so weit gestreut, dass es keine große Überraschung ist, wenn man unter den Gilets Jaunes nicht nur Vertreter abenteuerlicher Spekulationen über Attentate und Komplotte (von denen auch der Präsident selbst nicht frei ist) findet, sondern auch Antisemiten (die sich der Geste Dieudonnés bedienen). Allein die Sprüche auf den Rücken der gelben Westen liefern vermutlich einige Fundstücke, unter denen die Gleichsetzung von Macron mit Rothschild noch das billigste Klischee ist.
Politisch heikel wird es da, wo man die ganzen Gilets jaunes-Proteste, die ein größeres politisches Spektrum abdecken, damit erledigt, dass man sie ähnlich der Art, wie es der Ha'aretz-Kommentar demonstriert, hauptsächlich in den Kategorien Gewalt und Antisemitismus (plus Verschwörungstheorien) schildert und sie derart in die Tonne zu treten versucht. Die Pariser Rabbinerin Delphine Horvilleur hat die Protestbewegung dazu aufgerufen, dass sie am nächsten Samstag "not in my name" signalisiert.