Arbeiten bis zum Umfallen?
Ungerührt von den Paradoxien des schlingernden Sozialstaats werden die Rezepte von gestern und vorgestern verordnet
Sozialismus ist eine tolle Sache. August Bebel geriet 1879 ins Schwärmen. Arbeit für alle, nicht zu viel und nicht zu wenig. Nur nützliche Güter werden hergestellt. Profit war gestern, Glück ist morgen.
Heute dagegen gibt es Reformen, besser Reformoffensiven, die im Reformstau stecken und von der sozialen Wirklichkeit schneller überholt werden, als sie der Gesetzgeber nachbessern kann.
Nach SPD-Chef Müntefering bleibt es die Hauptaufgabe der Sozialdemokratie, die Idee des Sozialstaates in diesem neuen Europa zu erhalten. Nach den Regionalwahlen in Frankreich, cum grano salis auch den Wahlen in Spanien, mögen die Sozis wieder ein bisschen Morgenluft wittern. Denn zunächst atmet der hilflose Wähler die Angst vor seiner sozialen Demontage, die Angst vor dem Abstieg in das wachsende Heer der Parias aller Länder.
Jeder, der also soziale Reformen verspricht, so irreal sie auch sein mögen, jeder, der den Abstieg in die Armut glaubt bekämpfen zu können, hat Chancen, gewählt zu werden. Es schlägt die große Zeit der Oppositionen, wenn keine Agenda jenseits der Parteiprogramme existiert (Volle Panik auf der Titanic). Doch das Prinzip Hoffnung unter den unbeirrbaren Auspizien von gestern könnte für den maroden Sozialstaat und seine nationalen Verfechter ein Irrtum sein.
Zwischen Umbau und Demontage des Sozialstaats
Münteferings Sozialstaatsverteidigung klingt nämlich bereits wie das Rückzugsgefecht einer altehrwürdigen Staatszielbestimmung, die einerseits vom globalen Turbokapitalismus überrannt wird und andererseits auf immer knappere Sozialkassen stößt.
Historisch war der Sozialstaat mit dem Nationalstaat verkoppelt und keineswegs der Sieg der "internationalen Arbeiterklasse", von "internationaler Solidarität", die in sozialistischen Programmen vorschnell glorifiziert wurde, ganz zu schweigen. Es ging bei den Sozialstaatskonzepten zuvörderst darum, die Arbeitsbedingungen im jeweiligen Land zu erhalten. Liberales Wirtschaften, gestützt von der Sozialversicherung und anderen sozialen Auffangmechanismen, hieß der eherne Grundsatz, um das heilige Marktgesetz von Angebot und Nachfrage nicht in Abrede zu stellen. Und irgendwie werden sich Unternehmen, Arbeiter und ihre Arbeit, nützliche und weniger nützliche Produkte für Menschen und Shareholder schon "herausmendeln". Das Resultat der unsichtbaren Hand des Marktes, der hin und wieder aus sozialen Gründen bei allzu groben Ausbeutern auf die Finger gepatscht wird, liegt nun vor uns.
Sozialstaatswahrer Müntefering spricht in der sattsam bekannten Diktion der Reformgläubigen vom Umbau des Sozialstaates. Nur könnten Dauerreformstau dieser Regierung und Dauerunzufriedenheit der Bürger ihre Ursache darin haben, dass es mit dem Umbau, mit den ständigen Nachbesserungen längst nicht mehr getan ist. Hier ein bisschen geben, da ein bisschen nehmen, ob nun den Bossen oder den Genossen - aber lasst bloß das Betriebssystem der sozialen Marktwirtschaft intakt, so wenig intakt es dem Stand der Dinge nach doch ist.
Liegt hier der Fehler? Kann man umbauen, was im Mark marode scheint? Und vor allem: Wer soll den Umbau leisten, wenn er mit wenig mehr als einem Notgroschen im Prokrustesbett der Interessenwahrer der Arbeitgeber, Arbeiter, Arbeitslosen und Rentner gequält wird?
Sollten Klassenkampf und Planwirtschaft unter den Bedingungen der kybernetisch besser gerüsteten IT-Weltgesellschaft doch das richtige Konzept sein? Oder bleibt es bei der posthistorischen, postideologischen "Wir sitzen alle in einem Boot"-Gesellschaft? Wie man mit dem Vorstandssprecher der Deutschen Bank Ackermann oder mit Ex-Mannesmann-Chef Esser in einem Boot sitzen kann, ist schwer anzugeben. Die entsolidarisierte Gesellschaft hat nicht nur den einmischungsfreudigen Bundespräsidentenkandidaten Horst Köhler veranlasst, Manager zu kritisieren, die Unsummen einstreichen, während die anderen um die Rente bangen. Strafrechtlich ist das nicht relevant, sagt das Gericht.
Mag sein, aber ein schönes Signal wäre es gewesen, den Prinzen auf der Erbse, wattiert mit einigen Millionen Euros, auf die Finger zu klopfen. August Bebel klagte schon darüber, dass doch angeblich nur die Tüchtigsten an die Spitze der Unternehmen kommen sollten und es in der Regel nur die "Gewissenlosesten und Geriebensten" schaffen würden. Und sind es heute die Qualifiziertesten unserer vorgeblichen Leistungsgesellschaft, die darüber entscheiden, wer welches Unternehmen ruinieren darf? Entscheidend mögen nicht die Exzesse, sondern die Strukturen der Wirtschafts- und Sozialgesellschaft sein.
Immerhin indizieren aber solche Abfindungsskandale, dass es Mega-Unternehmen gibt, die sich noch die Spendierhosen leisten können. Auf wessen Kosten wohl? Was Bundespräsident in spe Horst Köhler wie andere mit folgenloser Appelldemokratie oder frei schwebenden Wirtschaftsethiken versuchen, wollen andere mit Klassenkampf kurieren, wenngleich auch das nicht mehr als alter Wein in neuen Schläuchen sein könnte.
Heute heißt das etwa so: "...wir setzen dem Elend der Macht die Freude am Sein entgegen." Darin erkennen die neokommunistischen "Empire"-Theoretiker Michael Hardt und Antonio Negri eine Revolution, die keine Macht kontrollieren kann. Schön wär's.
Dass nun einer halben Million Demonstranten, die anlässlich des Aktionstags der Gewerkschaften gegen Sozialabbau und längere Arbeitszeiten protestierten, wenigstens die revolutionäre Freude am Sein erhalten geblieben sei, ist so unwahrscheinlich wie die Forderung der Kritiker des "Empire", dass das wahre Sein die besseren Verhältnisse erzwingt. Eher ist es doch so, dass die Töne, die nun in Deutschland erklingen, den angestaubten Kampfgeist der gewerkschaftlichen Frühzeit wieder beschwören.
Wenn Attac eine Managerpuppe zeigt, die "Arbeitssklaven" tyrannisiert, beschwört das die uralte Klassenkampf-Hoffnung, dass die Verhältnisse wieder so überschaubar werden, wie sie längst schon sein sollten. Sollten sich die sozialistischen Theoretiker vielleicht doch nur im Datum der Weltrevolution geirrt haben? Stehen nun die postindustriellen Reservearmeen und ihre Auxiliartruppen, gebildet aus den Armen aller Länder, vor den Toren der reichen Stadt und begehren Einlass?
Der Exodus der Unternehmer
Doch leider ist das einsinnige Bild schief, weil längst nicht alle "Ausbeuter" genügend Ausbeute haben. Mag sein, dass noch manches Schwein zu schlachten wäre, bevor der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland das Insolvenzverfahren einleitet. Doch löst das die Probleme?
Unternehmensflucht in Billiglohnländer ist nicht nur ein Zeichen von Gemeinwohlverrätern in den Chefetagen. Der Ausverkauf des Sozialstaates im Globalisierungsprozess ist strukturell etwas anderes als die Wiedergeburt des Manchesterkapitalismus händereibender Unternehmer. Wenn man das aufhalten wollte, müssten etwa in weitem Umfang Kaufverpflichtungen dekretiert werden. Kauft deutsche Waren! Aber kaufen die Menschen bei Aldi, weil sie sparen wollen? Könnten sie es sich leisten, teure Inlandsprodukte gegenüber "Made in China" zu bezahlen? Der Arbeitsplatzpatriotismus auch gutwilliger Unternehmen wird immer geringer, weil der Globalisierungsterror den Exodus in die Sweat-Shops verordnet.
Die Regierung kann sich jedenfalls Arbeitsplatzsubventionen nur noch in schwindendem Umfang leisten. Mindestens teilweise schreibt der Markt es vor, wenn Unternehmen auf gepackten Koffern sitzen - und der Markt ist ungerecht. Die Ironie dieser Geschichte liegt darin, dass nun die internationale Solidarität der "Arbeiterklasse" dringlicher denn je wäre, aber diese Klasse nicht existiert. Stattdessen erleben wir die Klasse nationaler Besitzstandswahrer, vom überdotierten Manager bis hin auch zum noch nicht verarmten Rentner, der selbst Einbußen von einigen Euros als Angriff auf sein Lebensrecht definiert. Dann steht das Volk auf und der Sturm bricht los...oder auch nicht.
Wie viel Arbeit hätten Sie denn gern?
Was ist zu tun? Wer langfristig längere Arbeitszeiten fordert, ist ein Gestriger. Es ist überhaupt nicht wünschbar, dass Menschen auf Grund eines schlechten ökonomischen Verteilungssystems Arbeit leisten sollen, die heute, spätestens aber morgen von Maschinen besser geleistet werden kann. Längere Wochenarbeitszeiten oder unbezahlte Überstunden mögen in akuten Krisensituationen, im Rahmen konkreter betrieblicher Engpässe eine Lösung sein. Weder der öffentliche Arbeitgeber noch die privaten Unternehmen sind in Zeiten knappster Budgets jederzeit in der Lage, beliebig neue Arbeitsplätze zu schaffen. Auf Grund hoher Lohnkosten wäre Mehrarbeit in Krisensituationen zumindest ein vorübergehendes Mittel, dem Kollaps von öffentlichen und privaten Unternehmen entgegenzuwirken.
Langfristig ist es aber kapitaler Unfug, künstlich Arbeitsplätze zu schaffen, die unterhalb eines möglichen Produktivitätsniveaus liegen. Jeremy Rifkin hat das "Ende der Arbeitsgesellschaft" prophezeit, weil die Steigerung der Produktivität durch den Verbund von Automation, Informations- und Biotechnologien langfristig konkurrenzlos ist. Doch das will man nicht wahrhaben. Jede gesellschaftliche Maßnahme wird großsprecherisch danach beurteilt, ob sie das alte Zwangsideal der Vollbeschäftigung wider jede technologische Vernunft krampfhaft aufrecht erhält. Die Kopplung von Arbeit und Einkommen soll nicht aufgebrochen werden, weil das noch mehr Chaos zu verheißen scheint, als ohnehin bereits eingetreten ist.
Also werden Rezepturen entwickelt, die vornehmlich Arbeit anders verteilen wollen und Automatisierungsprozesse eindämmen. Werner Sombart wies auf die zahlreichen historischen Versuche hin, arbeitsvernichtende Maschinen aus dem Arbeitspark zu verbannen. Im zweiten Jahr von Elisabeth I. wurde eine Maschine zum Walken von Tüchern verboten. Bis 1684 war in Frankreich der Strumpfwirkerstuhl verboten. Colbert erblickte in den Erfindern solcher Maschinen Feinde der Arbeit. Immer ging es darum zu verhindern, dass Menschen Arbeit und Brot verlieren, weil niemand zu denken wagte, dass die biblische Engführung von Erwerbsarbeit und Anspruch auf Subsistenz selbst zum historischen Relikt werden könnte. Doch immer waren die Verbote, die Evolution der Technologie durch künstliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu ignorieren, letztlich erfolglos.
In Zukunft werden die Versuche noch schneller scheitern, sich der technologischen Vernunft und damit einer gesteigerten Arbeitsproduktivität zu verschließen. Die Hoffnungen auf einen extensiven Dienstleistungssektor, auf neue Formen von Telearbeit und fröhlich virtuellen Arbeitsformen in der großen IT-Welt haben sich nicht bestätigt. Und wie sollten sie auch? Die "Arbeit" der Computer und Netze wird immer besser, qualifizierter und vor allem: billiger, ohne menschliche Durchschnittsqualifikationen noch zu benötigen.
Da helfen auch die Beschwörungen der zukünftigen Wissensgesellschaft Deutschland des SPD-Bundestagsabgeordneten und Vorsitzenden der "Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen", Otmar Schreiner, wenig. Das gilt vor allem dann, wenn die neue Bildungsherrlichkeit auf eine Mehrklassengesellschaft aus Eliten und Minderqualifizierten setzt. Auch die menschliche Wissensherrschaft ist womöglich einer von mehreren Restposten einer virtuellen Gesellschaft. Bildung mit kürzesten Halbwertszeiten ist zumindest für die Vielzahl der Menschen längst kein Garant mehr für eine Gesellschaft der Vollbeschäftigung. Der Mensch wird zukünftig nicht im Schweiße seines Angesichts arbeiten. Der Mythos der Vollbeschäftigung endet im virtuellen Maschinenpark. Das sagt indes noch wenig über die kommenden Formen einer sozialverträglichen Gesellschaft aus.
Der Mythos der Erwerbsarbeit
Arbeit macht bekanntlich nicht allzu frei, wenn die Verhältnisse nicht danach sind. In Amerika etwa lohnt sich das Tellerwaschen immer weniger. Die Aufstiegslegenden gehören dort der Geschichte an. Wer hier zu Lande im Auftrag des Sozialamts Dreck wegkehrt, wird darin auch keine Aufstiegsperspektive als freier, selbstbestimmter Mensch erkennen wollen.
Anständige Löhne für anständige Arbeit, fordert Otmar Schreiner. Das genau ist die heilige Kuh: An die lebenslängliche Erwerbsarbeit, die mit Einkommen und Leistung verkoppelt sein soll, will keiner rühren. Unbeirrbar werden Arbeitslosenzahlen, die trotz vermeintlich größter Anstrengungen nicht sinken, wechselnd der Unfähigkeit der Regierung, dem Starrsinn der Gewerkschaften oder den nationalen Verbraucheregoismen zugeschrieben. August Bebel verkündete die Arbeitspflicht aller Arbeitsfähigen, ohne Unterschied des Geschlechts. Das sei das Grundgesetz der sozialistischen Gesellschaft.
Friedrich Engels zögerte nicht zu behaupten, die Arbeit habe den Menschen selbst geschaffen. Das ist heute über die Parteien, Klassen, Gewerkschaft, Unternehmer und Arbeiter hinweg ein immergrüner Mythos. Die Gewerkschaften so wenig wie irgendein Politiker könnten aus Gründen der Humanisierung der Gesellschaft mehr Arbeitslose fordern. Also kündigt man aus alter Routine heraus Streiks an, um die Arbeitsplatzbeschaffung zu zwingen. Vermutlich müssen die Arbeitslosenzahlen noch erheblich höher steigen, um klar zu machen, dass der strukturelle Umbau des Sozialstaates erheblich weiter reichen muss, als es bisher mit Reform und Reförmchen geschieht.
Im Osten schwankt die Stimmung inzwischen von "Orange Alert" zu "Red Alert". Ein geheimer Beraterstab der Bundesregierung vermeldet bis zu 20 % Arbeitslosenquote. Schon will man eine "Sonderwirtschaftszone Ost" konstituieren, was ja nicht ohne historische Ironie wäre, die "Zone" im Zeichen des gescheiterten "Aufbaus Ost" neu zu konstituieren. Doch auch im Westen sind substanzielle Erfolge im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht zu verzeichnen. Das nimmt dann etwa bei den sog. "Nascent Entrepreneurs" groteske Formen an, wenn die Flucht in die Selbstständigkeit auf der Achterbahn des freien Wirtschaftens zu Insolvenz und Sozialhilfe führt. Man kann zwar Statistiken schön färben, Pseudo- und Mc-Jobs schaffen, Arbeitslose zur Fortbildung schicken, doch das ändert nichts an der objektiven Hilflosigkeit, mit den bestehenden Mitteln die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Kohle ohne Arbeit
Erst jetzt wird in konjunkturabhängigen Gesellschaften, die Produktion und Konsumption jenseits der Notwendigkeit lebensnotwendig brauchen, richtig klar, wie fatal der Umstand ist, dass die Erwerbsarbeit der Verteilungsschlüssel für das Medium "Geld" ist. Arbeitslose mit Minimalbudget scheiden damit als verbrauchsfreudige Konsumenten einer gewinnabhängigen Wirtschaft aus. Wenn danach weniger Güter und Dienstleistungen bereit gestellt werden und die Chance, Gewinne zu machen, dürftig wird, fallen wieder Arbeitsplätze weg. Diese Verelendungsspiralen dürften schon bald den Offenbarungseid ganzer Gesellschaften forcieren, wenn das Reformgerede sich nicht bald in einem ernst zu nehmenden Diskurs über die Umstrukturierung der Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft verwandelt.
Dabei wäre für mutige Reformer nur der Begriff der "Arbeit" neu zu definieren. Es gibt auf einmal nur noch sehr wenig Arbeitslose, wenn man nicht den Maßstab der klassischen Erwerbsarbeit zugrundelegt. Und wäre das nicht die beste Gelegenheit, den vorschnell abgelegten Begriff der "entfremdeten Arbeit" gegen die biblische Verheißung von der Arbeit im "Schweiße deines Angesichts" zu reformulieren?
Es kann nur darum gehen, einen sozialen Lohn und ein garantiertes Einkommen für alle zu schaffen, ob sie nun klassischer Erwerbsarbeit nachgehen, Kinder hüten oder im Non-Profit-Bereich die Geschicke dieser armseligen Welt fördern. Notwendig wäre ein Bürgereinkommen, das des Kanzlers eindimensionale Faulenzerthese) genauso verabschiedet wie die immer irrealeren Forderungen nach tendenzieller Vollbeschäftigung in Zeiten steigender Arbeitsproduktivität. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nach heutiger Lesart wäre dann endgültig als Kampf gegen Windmühlen disqualifiziert. Aber das kann doch keiner finanzieren, womit wir wieder beim Ausgangspunkt der Misere gelandet wären, wenn wir weiter auf Legenden bauen wollen.