Volle Panik auf der Titanic

Agenda ohne Steuermann - das trunkene Schiff BRD in den Strudeln der Demokratie

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"Hitler brauchte weder auf Unternehmerverbände noch auf Gewerkschaften Rücksicht zu nehmen, er konnte beide in der ŽDeutschen ArbeitsfrontŽ zusammenzwingen und damit lahm legen, und er konnte jeden Unternehmer, der ungenehmigte Auslandsgeschäfte machte oder die Preise seiner Ware erhöhte, ebenso ins KZ sperren wie jeden Arbeiter, der Lohnerhöhungen verlangte oder gar dafür zu streiken drohte", merkte Sebastian Haffner zum deutschen Wirtschaftswunder nach 1933 an. Auch wenn die faschistische Rosskur jener Tage schließlich in der totalen Katastrophe mündete und nicht allein aus diesem Grunde indiskutabel ist, gerät man im Angesicht der gegenwärtigen politischen Bewegungsstarre ins Grübeln.

Die Bundesrepublik verliert in dramatischer Weise ihre Handlungsfähigkeit, während der Politikapparat zwangsoptimistisch von Agenda 2010 Der milde Mut zur Besserung) oder Akutprogramm (CSU) redet. Die gegenwärtige Krise verrät vor allem eins: Staat und Gesellschaft sind nicht mehr in der Lage, ihre Kräfte sinnvoll zu bündeln und auf ein gesamtgesellschaftliches Ziel zu richten.

Das politische System ist heillos überfordert, divergente gesellschaftliche Interessen in einer gemeinsamen Agenda zu integrieren. Kanzler Schröder steht unter Hochdruck, noch bis zum Parteitag wenigstens seinen linken Flügel zu bändigen, um seine uralten Versprechungen doch noch Wirklichkeit werden zu lassen. Die ständigen Rücktrittsdrohungen des strapazierten Agenda-Chefs sind eines der deutlichsten Symptome, dass das ökonomische Katastrophenmanagement in dieser Demokratie nicht mehr funktioniert. Die Rücktrittsforderungen der Opposition umranken diesen Befund, ohne deshalb schon wie Guido Westerwelle glauben zu müssen, lediglich die Koalition befände sich in einem Auflösungsprozess. Denn im Grunde glaubt doch niemand, die Opposition würde nun leichten Fußes den Weg aus dem Tal der Tränen finden, zudem die Rezepte von Regierung und Opposition nicht allzu weit auseinanderliegen.

So mag sich die Union jetzt zwar über die Avancen der Gewerkschaften freuen, jenseits der Schröder-Agenda einen gerechten Kurs gegen Sozialdemontage und alles kommende Elend zu finden. Doch diese seltsame, konservativ-klassenkämpferische Partnerschaft dürfte keine Zukunft haben, wenn irgendwann die machttaktischen Gründe für die Opposition wegfallen sollten, Schröders Regierung loszuwerden.

Der Staat wankt. Das vor wenigen Tagen verkündete 126-Milliarden-Haushaltsloch des Bundes - ohnehin inzwischen eine korrekturbedürftige Zahl unter Vernachlässigung der Konjunkturprognose - ist eine Katastrophe, die schon bald dazu führen wird, dass immer elementarere Staatsaufgaben von dieser oder jener Agenda gestrichen werden. Staatliche Leistungen für den Bürger werden auf Notprogramme schrumpfen. Der öffentliche Raum, Straßen, Plätze und unzählige Gemeinschaftseinrichtungen werden die öffentliche Armut schon bald so augenfällig demonstrieren, dass sich die Bundesrepublik im Spiegel ihrer Tatsachen selbst nicht mehr wieder erkennt. Vor allem aber wird der Sozialstaat zur Titanic einer ganzen Gesellschaft, wenn die sozialen Sicherungssysteme, Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung, vollends wegbrechen.

Die unsolidarische Gesellschaft

Immer stärkere Solidaritätseinbrüche gegenüber diesem abgewirtschafteten Gemeinwesen werden die Folge sein, sofern überhaupt je in der Bundesrepublik Solidarität bestanden hat, die diesen Namen verdient. Denn die Solidarität in den fetten Jahren war doch zumeist nichts anderes als die nicht allzu sehr schmerzliche Umverteilung des Steuerstaats. Oder - ganz kostenfrei - Sonntagsreden mit oder ohne Lichterkettenromantik. Solidarität in echten Krisenzeiten muss dagegen in einer anderen Währung gezahlt werden.

Ohne begründete Hoffnung auf eine erträgliche Zukunft ist niemand bereit, einen hohen Preis für andere zu zahlen. Doch Optimismus ist in diesem Gemeinwesen, das doch angeblich nur vom rechten Impuls, von geistig-moralischen Wenden (gestern Kohl, heute wieder Westerwelle) abhängig ist, nicht mehr vermittelbar. Jene gemeinschaftsseligen Zeiten der Trümmerfrauen sind endgültig vorbei, wo jeder/jede beherzt zupackte, ohne lange zu fragen, ob auch wirklich der eigene Vorteil daraus entspringt. Hans Eichel redet nicht viel anders als der Kanzler von "gemeinsamer Kraftanstrengung", als würde das gesamte Gemeinwesen ein Problem anpacken. Stattdessen gewinnen Partikularinteressen, Gruppenegoismen und irreales Besitzstandsdenken immer stärker die Oberhand auf dem sinkenden Luxusliner von einst.

Das Problem der Staats- und Wirtschaftsmisere ist längst nicht der Mangel an Rezepten, sondern die nicht mehr herzustellende Einigkeit, wie zu handeln ist, ohne das tradierte Selbstverständnis der diversen Interessengruppen so zur Disposition zu stellen wie den maroden Staatshaushalt selbst. Denn vielleicht noch nie so sehr wie heute sprudeln die Rezepte der Wirtschaftsweisen aller Sorten, der kritischen Bescheidwisser, der fröhlichen Dilettanten, wie nun die Reform bzw. die Reform der Reform ad infinitum auszusehen hätten.

Da die Politik die Wirtschaft nicht sanieren kann, sondern nur die Wirtschaft sich selbst (Niklas Luhmann), müssen wohl Steuern und Lohnnebenkosten gesenkt werden, um Investitionen und Konsum anzustacheln (Rolf Peffekoven). Und das wiederum setzt voraus, dass der Staat seine Ausgaben reduziert, den Haushalt also konsolidiert, um nicht völlig in der Kreditaufnahme zu versumpfen.

Das sind, am Alter der Bundesrepublik gemessen, ohnehin uralte Erkenntnisse: Schon Ludwig Erhard erläuterte 1957 sein Programm "Wohlstand für Alle" als eine enge Abstimmung von Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der staatliche Versorgungsleistungen einer leistungsfähigen Wirtschaft unterstellt werden müssten. Allein wer richtet die Verhältnisse diesmal, um diesen Erkenntnissen oder noch besseren Weisheiten beherzte Taten folgen zu lassen?

Paradoxien des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses

Hier geht es nicht allein um parlamentarische Mehrheiten, die durch Abstimmung zu erzielen wären, sondern um einen Konsens, den alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen auch jenseits des Parlaments tragen müssten. Die immer größere Distanz der Gewerkschaften zu der früheren Partei ihres Vertrauens, die nun regiert, ist symptomatisch für die Risse, die sich inzwischen kreuz und quer durch diese Gesellschaft ziehen.

Regierung und Opposition sind sich über den öffentlichen Sparkurs zumindest tendenziell einig. DGB-Chef Sommer sieht das fundamental anders, weil er die Gewerkschaften für das "letzte Bollwerk des Sozialstaats" hält. Halten muss! Nur, eine Erklärung, wie lange dieses Bollwerk der elendig wachsenden Staatsverschuldung noch standhält, vermag auch er nicht zu geben. Vor allem aber machen die Paradoxien effektiven Handelns auch vor solchen Appellen längst nicht mehr Halt: Die rigide Gewerkschaftspolitik führt zu Solidarisierungen von Unternehmensführungen und Belegschaften an der Interessenvertretung der Gewerkschaften vorbei. Was nützen schon Tarifabschlüsse, wenn ein Betrieb schließlich in die Insolvenz geht?

Die inzwischen auch intern zerstrittenen Gewerkschaften sind in der Sackgasse ihres Politikverständnisses angelangt. Denn welche Rolle würden Gewerkschaften noch spielen, wenn sie ihre Politik umstellen und etwa Lohnkürzungen fordern würden, um langfristig die Arbeitsmenge zu vergrößern und damit die Kaufkraft? Wie weit es gekommen ist, belegen die Ankündigungen von IG-Metall-Chef Zwickel, nun die CDU/CSU zu umwerben, um gewerkschaftstreue Sozialvorstellungen zu realisieren. Die Hoffnung auf einen Sieg über die Arbeitslosigkeit wird ohnehin immer vergeblicher, weil der Vormarsch von Maschinen und die Automatisierung nicht nur im Industrie-, sondern auch im Dienstleistungssektor unaufhaltsam ist.

Die Kollisionen gesellschaftlicher Machtgruppen sind längst keine Frage persönlicher Irrtümer, sondern das deutliche Zeichen, dass diese Gesellschaft als wirtschaftliche und soziale Schicksalsgemeinschaft nicht so steuerbar ist, wie es uns die vollmundigen Verkündungen diesseits und jenseits der Regierung einflüstern wollen. Gerade das Prinzip organisierter Interessen, das auch im Angesicht der Katastrophe unbeirrt an Gruppenegoismen festhält, ist als Krisenmanagement völlig untauglich.

Die klassische Politik der lauen Rücksichtnahme, es allen "irgendwie" recht zu machen, mag in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität akzeptabel bis finanzierbar sein. In Zeiten der Krise wird sie zum suizidalen Fatalismus einer ganzen Gesellschaft. Wir haben uns an eine Politik gewöhnt, ob nun im Parlament oder außerhalb in den Verbänden, die keine unpopulären Maßnahmen ungestraft ergreifen darf. Im Angesicht von Rezession und Deflation wird diese Unentschiedenheit schließlich von den Verhältnissen überrannt.

Die bundesrepublikanische Demokratie hat es zwar wie wenige zuvor geschafft, die gesellschaftliche Machtverteilung - bei allen Schwächen im Übrigen - halbwegs erträglich auszutarieren. Doch für den Ausgleich gesellschaftlicher Interessen im Rahmen des Arbeits-, Wirtschafts-, und Sozialsystems gibt es weder eine Instanz noch beflügelt der systemtheoretische Glaube, dass schließlich doch auf die Selbstorganisation der gesellschaftlichen Interessen zu bauen ist.

Neoliberalistische Fiktionen

Im Grunde geht es bei dieser Krise weniger um wirtschaftliche und soziale Rezepturen, als um die Offenbarungserklärung eines gesellschaftlichen Betriebssystems. Nur ist kein anderes in Sicht. Der keck gewordene Neoliberalismus schwadroniert von der Tatkraft des Einzelnen, die nicht vom Sozialstaat zugeschüttet werden dürfe. Dabei hat dieser Liberalismus, der heute vor allem bei der FDP programmatisch wird, immer geflissentlich übersehen, dass Gesellschaften wie die BRD gerade durch die Zügelung von Einzelinteressen und unternehmerischem Geist wirtschaftlich stark geworden sind.

Wenn jeder eine Ich-AG bildet bzw. vollends paradox Arbeitnehmer sich als Arbeitgeber verstehen sollen, würden global konkurrenzfähige Wirtschaftsstrukturen, die sich über Ein-, Über- und Unterordnung strukturieren, gar nicht möglich sein. Die völlig schwerelose Manie, Unternehmen zu gründen, an die Börse zu bringen und dann zu verschwinden, haben wir im Start-up-Fieber erlebt. Die neoliberale Fetischisierung der Eigenverantwortlichkeit, die weder "neo" noch "liberal" ist, provoziert unerfüllbare Perspektiven für den Einzelnen und würde zudem einen realistischeren Sozialstaat als den gegenwärtigen völlig demontieren.

Der Kritiker der "deformierten Gesellschaft", Meinhard Miegel, dem eine staatsferne Selbsthilfegesellschaft der Bürger vorschwebt, verkennt, dass Solidarität ohne staatliche Zwänge zwar dynamischer sein mag, aber solche Dynamiken ein unabsehbares Potenzial an Ungerechtigkeit bergen. Eine verantwortungsbereite Bürgergesellschaft ohne staatlichen Druck und Unterstützung bleibt eine ideologische Konstruktion, die allenfalls zur Kritik an den gegenwärtigen Zuständen geeignet sein mag, aber längst kein hoffnungsträchtiges Konzept für die Zukunft birgt. Die dem verbundene Mentalitätskritik der üblichen Art, die Deutschen wollten sich nicht mehr anstrengen, gehört ohnehin zum Wissen der Stammtische (Vom Menschenrecht auf Faulheit). Auch Gewerkschafts-Bashing allein vermag keine Lösungen zu spenden, wenngleich DGB-Chef Sommers Mahnung zur verräterischen Selbstbeschreibung wird: "Der soziale Friede ist immer dann gefährdet, wenn es große gesellschaftliche Gruppen gibt, die auf ihn pfeifen."

Vollzieht sich jetzt im kapitalistischen System ein Krisentypus, für den keine Mittel zur Bewältigung bereitstehen?

Die Verhältnisse sind bleiern, weil diese Gesellschaft weder eine Universalisierungsinstanz ihrer Interessen noch eine Selbststeuerung auf der Ebene des Gesamtsystems (Niklas Luhmann) besitzt. Unser alltägliches Krisengerede, die Rufe nach Steuerung sind vielleicht längst nicht radikal genug. Muss der Grad der Betroffenheit noch weiter wachsen, bis auch die Reflexion der Zustände so radikal ist, wie es die Zustände bereits sind? Oder ist das auch nur eine Variante von "schwarzmalerischem Herdenjournalismus", den Helmut Schmidt dieser vermeintlich selbstmitleidigen Gesellschaft vorwirft?

Immerhin flüstert uns auch des Altkanzlers nietzscheanisch eingefärbter Begriff ein, dass rigorosere Herrschaftsformen als die von Partikularinteressen perforierte Demokratie notwendig sein könnten, das über uns hereinbrechende Chaos aufzuhalten. Womit wir wieder am Ausgangspunkt unserer Überlegungen wären und nur um ein Dilemma reicher.