Arbeitsverweigerer sind nützlich für Arbeitnehmer

Seite 2: ALG II ist die Referenz für Mittelschicht-Einkommen

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Mit den Sanktionen des Arbeitslosengelds II nimmt man Menschen die Freiheit, "Nein" zu schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen/Gehältern zu sagen. Logische Konsequenz: Arbeitgeber drücken die unteren Lohngruppen auf ein Niveau knapp über das ALG II, mit dem Anreiz: "Immerhin mehr als Hartz IV".

Das ALG II ist damit die Referenz für den Mindestlohn und den Niedriglohnbereich. Der Mindestlohn ist die Referenz für die unteren Erwerbseinkommen. Guido Westerwelle meinte dazu: "Mindestlohn ist DDR pur ohne Mauer". Die unteren Erwerbseinkommen sind wiederum die Referenz für das Gehaltsniveau der Mittelschicht. Je niedriger das ALG II bemessen ist, desto mehr Druck ist folglich auf die Mittelschicht-Gehälter möglich. Die Angehörigen der Mittelschicht sollten über die Ursachen ihres stagnierenden Einkommens nachdenken, bevor sie am Stammtisch nach unten treten.

Das "Lohnabstandsgebot" heißt in der bisherigen Glaubenslehre der Regierungsparteien: Das Arbeitslosengeld II muss erheblich niedriger als die Niedriglöhne sein. Umgekehrt wird ein sinnvolles Ziel daraus: Je mehr Geld es für das Nichtstun gibt, desto mehr Geld müssen Arbeitgeber bieten, um genügend Arbeitnehmer zur Mitarbeit zu motivieren. Deshalb sind Arbeitsverweigerer (bis zum break-even point, siehe unten) nützlich für Arbeitnehmer.

Parallelen zum Grundeinkommen

Die Diskussion um das Arbeitslosengeld II hat viele Gemeinsamkeiten mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Aus Sicht der Nicht-Erwerbstätigen ist ein BGE im Wesentlichen ein ALG II ohne Sanktionen. "Wer geht noch arbeiten, wenn man die Sanktionen des ALG II abschafft?" ist das gleiche Argument wie "Wer geht noch arbeiten, wenn es ein BGE gäbe?" Unter anderem die 1,1 Millionen "Aufstocker", die trotz Erwerbstätigkeit weniger Lohn als das ALG II erhalten, entkräften dieses Gegenargument. Aufstocker arbeiten, obwohl es sich nicht lohnt, weil ihr eigener Antrieb zur Arbeit größer ist als die ökonomische Vernunft. Das ist durchaus ehrenwert, aber schädlich für die anderen Arbeitnehmer. Denn dadurch drücken sie das Gehaltsniveau.

Eine weitere Parallele: "Sozialschmarotzer" sind sowohl die Arbeitgeber, die sich über die Aufstocker ihre nicht tragfähigen Geschäftsmodelle vom Steuerzahler subventionieren lassen, als auch Arbeitgeber, die das BGE als Kombilohn missbrauchen wollen und vom Lohn abziehen. Die wichtigste Parallele: Je höher ein BGE / ALG II ist, desto höhere Gehälter müssen Arbeitgeber bieten, wenn sie Arbeitskräfte benötigen (siehe oben). BGE-Modelle sind allerdings nur sinnvoll, wenn sie problemlösend, umsetzbar und mehrheitsfähig sind.

Arbeitslose sind billiger als Arbeitnehmer

Ein gern verwendetes Argument für die Kürzung von Sozialleistungen ist die Meinung, die Empfänger würden "dem Steuerzahler" auf der Tasche liegen. Das ist so nicht richtig. Zunächst einmal unterstellt dieses Argument, dass das ausgezahlte Geld verloren ist. Näher kommen wir der Sache, wenn man die Sozialausgaben als Konsumausgaben betrachtet. Denn das bedeutet: Alles Geld, das Sozialleistungs-Empfänger erhalten, fließt komplett in den Konsum und in Mieten. Also zurück in den Wirtschaftskreislauf, wo dieses Geld direkt oder indirekt die Arbeitsplätze aller Arbeitnehmer mitfinanziert. Sozialleistungsempfänger sind immer auch Konsumenten. Erhöht man den Regelsatz für die Lebenshaltungskosten, fließt dieses Geld zu 100% in den Konsum und treibt die Umsätze höher.

Eine Grundvoraussetzung sowohl jeder nationalen als auch der globalen Volkswirtschaft ist, dass Geld zwischen allen Teilnehmern fließt und Wertschöpfungsketten entstehen. Millionen Rohstoff-schürfende Sklaven in der 3. Welt finanzieren vor allem die Milliardäre, aber auch die Konsumenten und Arbeitnehmer in aller Welt. Unter anderem deutsche Konsumenten profitieren von der Wertschöpfung der ausgebeuteten Migranten auf den spanischen und italienischen Feldern, und so weiter.

Die Gesamtheit der deutschen Steuerzahler finanziert die Gesamtheit der ALG II-Empfänger. Die Gesamtheit der deutschen Konsumenten finanzieren durch ihre Konsumausgaben die Einkommen aller deutschen Arbeitnehmer. Und Sie, der/die Sie diesen Text lesen: Sie sind beides. Sowohl Steuerzahler als auch Konsument.

Mit diesem Bewusstsein rechnen wir einmal nach, der Einfachheit halber mit gerundeten Zahlen. Derzeit kosten die ALG-II-Empfänger (einschließlich ihrer Kinder) die Steuerzahler jährlich rund 37 Milliarden Euro.

Nehmen wir nun an, es gäbe tatsächlich offene Stellen für diese 1,5 Millionen Erwerbslosen, und diese würden "endlich arbeiten gehen". Dann würden sie Gehälter beziehen. Das Durchschnittsgehalt eines deutschen Arbeitnehmers lag 2017 bei 3.771 € brutto. Nehmen wir realistischerweise an, dass die Arbeitslosen weniger als der Durchschnitt verdienen. Sagen wir: 2.500 Euro brutto. Das sind im Jahr 30.000 Euro. Inklusive Lohnnebenkosten kostet jeder dieser zusätzlichen Arbeitnehmer durchschnittlich den Arbeitgeber rund 35.800 Euro. Das sind bei 1,5 Millionen zusätzlichen Arbeitnehmern 53,7 Milliarden Euro zusätzliche Lohnkosten. Wer zahlt diese Lohnkosten?

Die Konsumenten. Also auch Sie. Und zwar über die Preise der Produkte, die Sie kaufen. Hinzu kommt das Kindergeld, dass die aktuell 2.053.000 ALG-II-Kinder nicht gesondert erhalten (wird mit dem Regelsatz verrechnet, der in den 37 Milliarden Euro ALG II enthalten ist). Das macht weitere 5 Milliarden Euro jährlich für den Steuerzahler, also für Sie. Wobei nicht alle Steuern Lohnsteuern sind. Lohn- und Einkommensteuer machen weniger als die Hälfte des Steueraufkommens aus. Würden Amazon, Apple, Google, Microsoft, Facebook, Ikea, Starbucks & Co. keine Steuern umgehen, würde das wahrscheinlich zur Finanzierung des ALG II ausreichen.

So oder so: Entweder zahlen Sie, der/die diesen Text liest, Ihren Anteil an 37 Milliarden Euro für die ALG-II-Empfänger oder Ihren Anteil an 59 Milliarden Euro für die Lohnkosten und das Kindergeld von Erwerbstätigen. Wie man es auch dreht und wendet: Arbeitslose und Arbeitsverweigerer sind (bis zum break-even point, siehe unten) billiger für Sie. Arbeitsverweigerer machen Ihnen keine Konkurrenz und drücken nicht auf Ihr Gehalt.

Die volkswirtschaftlichen Lehrbücher besagen etwas Anderes: Zusätzliche Arbeitnehmer sollten durch deren Kaufkraft die Nachfrage, die Umsätze und damit auch Ihr Gehalt proportional steigern. Dann wäre der obige Vergleich der Kosten von Arbeitslosen und Erwerbstätigen unzutreffend. Nur haben solche Lehrbücher schon lange den Anschluss an die Realität verloren. Seit Jahrzehnten nutzen die Arbeitgeber durch Rationalisierungen / Automation, freie Produktionskapazitäten und das Überangebot an Arbeitskräften ihre Macht, um zusätzliche Profite aus Umsatzsteigerungen und Produktivitätsgewinnen an die Kapitaleigentümer auszuzahlen statt an die Arbeitnehmer.

Deshalb sinkt seit 1974 die Lohnquote am Volkseinkommen, während die Einkünfte der Kapitaleigentümer immer weiter steigen. Die Daten des Internationalen Währungsfonds unter World Economic Outlook, April 2017: Gaining Momentum? Chapter 3: Understanding the Downward Trend in Labor Income Shares belegen, dass die Lohnentwicklung seit Jahrzehnten von der steigenden Wertschöpfung und Produktivitätssteigerungen abgekoppelt ist - und dass dies auch so weiter gehen wird. Durch die zunehmende Digitalisierung / Automation und einen immer höheren Renditedruck der Arbeitswelt wird der Druck auf die Einkommen immer größer. Nicht Arbeitsverweigerer sind das Problem, sondern der steigende Druck auf die Löhne / Gehälter.

Wie viele Erwerbslose trägt eine Volkswirtschaft?

Die Zahl der heutigen Arbeitsverweigerer ist vernachlässigbar gering. Fast alle der derzeit 1,441 Millionen arbeitsfähigen ALG-II-Empfänger wollen aus ihrer Eigenmotivation heraus arbeiten. Es gibt meines Wissens keine Studie, die die Frage untersucht: "Würden Sie auch dann nicht arbeiten, wenn man Ihnen einen attraktiven Job mit guter Bezahlung und Home Office anbietet?" Wobei man dies noch nach Gehaltsstufen differenziert untersuchen könnte. Die Zahl der echten Arbeitsverweigerer läge dann wahrscheinlich im niedrigen 6-stelligen Bereich und ist volkswirtschaftlich bedeutungslos.

Wenn 5% der Menschen nicht arbeiten, gibt es kein Problem. Wenn 80% nicht arbeiten wollten, würde alles zusammenbrechen, zumindest beim derzeitigen Stand der Automationstechnik. Die entscheidende Frage: Wo liegt der break-even point, also die volkswirtschaftliche Nutzschwelle, bei der Arbeitsverweigerung mehr schadet als nutzt? Bei 10 Prozent Arbeitsverweigerern? Bei 30 Prozent?

Was passiert eigentlich, wenn die Hälfte der Bevölkerung nicht arbeitet? Oder gar zwei Drittel? Dann passiert gar nichts. Denn das ist der Status quo. Laut aktuellsten Daten der Bundesagentur für Arbeit gab es im September 2018 33,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Rechnet man die Teilzeitbeschäftigten in Vollzeitbeschäftigte um, und lässt man die sozialversicherungs- und steuerfreien Taschengeld-Minijobs außen vor, finanzieren heute etwa 28 Millionen Vollzeit-Arbeitsplätze fast doppelt so viele Menschen, die nicht arbeiten. Anders ausgedrückt: Der Laden läuft, wenn nur ein Drittel der Bevölkerung arbeitet.

Relevanter wird es, wenn man nur die Quote der Erwerbsfähigen betrachtet. Zieht man also von den Erwerbsfähigen die Rentner, Kinder und Erwerbsunfähigen ab, bleiben über 45 Millionen Erwerbsfähige übrig, die theoretisch Vollzeit arbeiten könnten. Hinzu kommen Rentner, die nicht "zum alten Eisen" gehören wollen und gerne arbeiten würden, sofern diese Arbeit motivierend bezahlt und nicht zu anstrengend wäre. 5-8 Millionen halte ich für realistisch.

Das heißt: Etwa die Hälfte des potentiellen Arbeitskraftpotentials in Deutschland ist heute inaktiv, und dennoch befindet sich das Land als Volkswirtschaft in der globalen Weltspitze (die extrem ungleiche Verteilung des Wohlstands ist ein anderes Thema). Es gibt keine Notwendigkeit, immer mehr Arbeitskräfte in den Markt zu pressen, so lange es nicht nennenswert viele wirklich wichtige offene Stellen gibt, die von angeblichen oder tatsächlichen "Drückebergern" besetzt werden könnten.

Gäbe es zum Beispiel 5 Millionen offene Stellen, die dringend besetzt werden müssten, und für die es passende "Drückeberger" gäbe, dann - und nur dann - ist eine Pflicht zur Arbeit vertretbar. Das ist nur nirgends der Fall. Es gibt kein Heer ausgebildeter Ärzte, das nicht arbeiten will. Wenn die Regierung mehr Ärzte will, muss sie mehr Studienplätze schaffen und den Numerus Clausus durch echte Eignungstests ersetzen. Wer mehr Krankenpfleger will, muss sie besser bezahlen. Noch kein Unternehmen musste durch einen Mangel an IT-Spezialisten Insolvenz anmelden.

Dass Kapitaleigentümer unendliches Wachstum wollen, ist ebenso nachvollziehbar wie unmöglich. Dass die Kapitaleigentümer und ihre Lobbyisten in den Parlamenten und Redaktionen auch ein möglichst hohes Überangebot an Arbeitsuchenden wünschen, um das Lohnniveau der Angestellten immer weiter drücken zu können, ist nachvollziehbar. Aber weder ewiges Wachstum noch niedrige Löhne dürfen ein politisches Ziel sein.

Die wichtigsten Arbeitsmarkt-Ziele für die Politik

Zu den wichtigsten Zielen jedes Politikers müssen möglichst hohe Löhne / Gehälter und Renten für möglichst viele Menschen gehören. Das heißt: Nicht unmöglich hoch, sondern am oberen Rand dessen, was möglich ist. Eine Wirtschaft muss auch ohne Wachstum funktionieren und die öffentlichen Haushalte ausreichend finanzieren. In einigen alternativen Wirtschaftssystemen steckt das Potential dazu.

Selbst im heutigen Wirtschaftssystem ist viel mehr möglich - gerade in Deutschland mit seinen ständigen und viel zu hohen Exportüberschüssen, die zum Großteil auf zu niedrigen Löhnen basieren. Es ist höchste Zeit, ergebnisoffen, gut informiert und durchdacht über Alternativen in Ökonomie und Politik zu debattieren.

Über den Autor: Jörg Gastmann, Jahrgang 1964, ist Sprecher der NGO economy4mankind.org, die das alternative Wirtschaftssystem Economic Balance System vertritt. Bereits in den 80er Jahren wunderte er sich beim Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum über die Widersprüche zwischen Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft. Der obige Artikel ist eine aktualisierte und gekürzte Version des gleichnamigen Unterkapitels seines bereits 2006 erschienenen Buches Die Geldlawine über Arbeitsmarkt, Rentensystem, Kaufkraft und öffentliche Haushalte.

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