Architecture and Morality
Im Computerspiel BioShock wird man in der retro-futuristischen Welt eines gescheiterten Unterwasser-Utopia selbst zum Monster
Ein nächtlicher Atlantik-Flug im Jahre 1960. Plötzlich stürzt die Maschine ab. Man taucht als Protagonist namens Jack zwischen brennenden Wrackteilen auf und rettet sich als einziger Überlebender in einen mysteriösen Leuchtturm auf einem Fels in der Nähe. Die Tür fällt zu, man ist gefangen. Kurz nach einer Statue mit dem kryptischen Plakat „No Gods Or Kings – Only Man“ entdeckt man eine alte rostige Tiefseetauchglocke. Der einzige Ausweg ist der Fahrstuhl hinab in die finsteren Meeresfluten. Aber die Tiefe ist noch schwärzer als gedacht...
Etwa acht Jahre nach dem legendären und von vielen Computerspielern hochverehrten System Shock 2 hat die von 2K Games (einer Take-Two-Interactive-Tochter) aufgekaufte Entwicklerfirma Irrational Games, die unlängst in 2K Boston bzw. 2K Australia umbenannt wurde, mit BioShock ein neues Spiel veröffentlicht. Quasi ein inoffizielles System Shock 3, das es offiziell auf absehbare Zeit vermutlich nicht geben kann, da der Inhaber der Markenrechte Electronic Arts offensichtlich derzeit kein Interesse an einem Relaunch hat. Also Shock mit Bio statt System.
BioShock ist wie die System-Shock-Spiele (oder Deus Ex) ein Hybrid aus Egoshooter und Role-Playing-Game-Elementen mit gen-technischen Manipulationen des Egocharakters. Das klassische SciFi-Weltraum-Szenario von System Shock 2 und dessen noch DOS-basiertem Vorgänger von 1994 ist jedoch einer utopischen Unterwasserstadt im irdischen Ozean gewichen.
Ursprünglich hatten die Entwickler BioShock noch auf einer abgelegenen Insel spielen lassen wollen, auf der Nazi-Wissenschaftler lange nach 1945 unbemerkt teuflische Gen-Experimente durchführen konnten. Klingt nach Inspiration durch den Trash-Horror-Film "Shock Waves". Vielleicht wollte man aber durch eine Unterwasserwelt auch offensichtliche Vergleiche mit dem ersten FarCry-Spiel vermeiden – in jedem Fall war es eine gute Entscheidung für ein originelles und beklemmendes Szenario.
Beim Blick aus der abwärts fahrenden Tauchkapsel lernt man kurz vor dem Erreichen der Unterwasserstadt „Rapture“ erstmals deren Spiritus Rector kennen. Andrew Ryan, ein emigrierter russischer Industrieller und idealistischer Freigeist, erklärt dem geneigten Betrachter in einem kurzen Info-Video, dass er den modernen Menschen (zur Zeit des Zweiten Weltkriegs) aus der Knechtschaft durch Kapitalismus, Kommunismus und organisierte Religion (symbolisiert durch Washington, Moskau und den Vatikan) gleichermaßen befreien wollte. Daher schuf Ryan als Zuflucht das utopische „Rapture“ unter dem Meer, in dem die Forscher-Elite der Menschheit von gesellschaftlichen und moralischen Zwängen befreit wirken können sollte. Erinnert auch etwas an den Kapitän Nemo von Jules Verne. Nach dem Ryan-Video folgt ein atemberaubender Panorama-Blick beim Schweben durch das erleuchtete Gebäude-Ensemble von Rapture, bis endlich das Ziel erreicht wird.
Eine Frau zeigt an, dass Utopia vorbei ist
Der erste echte Schocker bzw. Anhaltspunkt dafür, dass Utopia vorbei ist, ist die Beobachtung einer anscheinend wahnsinnigen Frau bzw. Mutantin, die einen Mann mit Eisenhaken massakriert und dann blindwütig kreischend versucht sich durch die Wände des Tauchfahrstuhls zu hacken. Zum Glück vergeblich, denn man hat ja noch keine Waffen. Das ändert sich aber schnell, denn nunmehr meldet sich über Lautsprecher erstmals die Stimme eines mysteriösen Mannes namens „Atlas“ und bietet Hilfe an, wenn man ihm seinerseits hilft seine Familie wiederzufinden. So beginnt der albtraumhafte Weg durch die zerfallende Unterwasserstadt, die, weil sie in den frühen 40er Jahren erbaut wurde, im nostalgischen Art-Deco-Stil gestaltet ist. Nicht nur bei der Erforschung eines Silvesterparty-Festsaals fühlt man sich deshalb manchmal an den Horror-Klassiker „The Shining“ von Stanley Kubrick erinnert.
Es geht in BioShock aber nicht nur darum klassisch Waffen, Munition und Healthpacks aufzusammeln und sich den Weg zum Level-Ausgang freizuballern. Wie von den Irrational Games-Entwicklern schon aus System Shock 2 bekannt, hat man auch die Möglichkeit Elemente aus RPG-Spielen anzuwenden. Man kann aus gefundenen Tonbandaufzeichnungen Hintergründe der tragischen Geschichte von Rapture erfahren, Waffen und Munition herstellen und aufrüsten, Security-Systeme hacken, fliegende Wachdrohnen umpolen sowie nicht zuletzt auch den eigenen Körper und seine Funktionen vielfältig manipulieren.
Gerade dafür ist es wichtig, die Hinterlassenschaften der fatalen Gentechnik-Experimente in „Rapture“ zu nutzen, um sich gegen die diversen Gegner behaupten zu können: Frühere Einwohner, die zu viel mit ADAM experimentiert haben und sich in unterschiedlich grotesk mutierte Gen-Freaks verwandelt haben, die teleportieren können, spinnenartig über Wände kriechen, Feuerstrahlen schleudern oder Sprengstoff werfen.
Meeresschnecken-Stammzellencocktail
Den wackeren Rapture-Forschern war es nämlich in der guten alten Zeit gelungen, aus dem Sekret einer Meeresschnecke Stammzellen zu isolieren. Der daraus gewonnene Gen-Cocktail mit dem originellen Namen ADAM wurde zur Heilung von Krankheiten und generellen Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit benutzt. Wie sich im Lauf des Spieles herausstellt, war ADAM damit aber auch der Auslöser des Untergangs von „Rapture“ durch einen verheerenden Bürgerkrieg um die Macht über das knapper werdende Lebenselixier, der erst wenige Monate vor der Ankunft des Protagonisten endete.
Das Elixier kann im Spiel dazu verwendet werden verschiedene sogenannte Plasmide zu generieren, mit denen unterschiedliche übermenschliche Kräfte als zusätzliche Waffen – nebst stilechter Schrotflinte oder Maschinenpistole aus den 50ern - gewonnen werden. Man bekommt die unterhaltsamen Fähigkeiten Starkstromblitze oder Hornissen aus den Händen zu schleudern, per Telekinese Gegenstände zu manipulieren (wie mit der Gravity Gun aus Half-Life 2) oder Eis zu schmelzen. Daneben gibt es diverse „Tonics“-Substanzen, die eher defensiv eingesetzt werden, um sich schneller bewegen zu können oder temporär unsichtbar zu sein.
ADAM ist besonders bei den aus Gametrailern bereits wohlbekannten „Little Sisters“ begehrt: Befremdliche Kinder, die die Substanz mit einer großen Spritze aus Leichen extrahieren und dabei von „Big Daddy“-Giganten in gepanzerten Tiefseetaucheranzügen meist mit einem Drillbohrer-Arm vor marodierenden Mutanten und dem sich vorwitzig nähernden Ego-Charakter beschützt werden. Die buckligen Riesen sind gerade im höchsten Schwierigkeitsgrad ziemlich schwer zu töten. Man sollte also sehr darauf achten, dabei die Umgebung (wie z.B. festinstallierte MG-Turrets oder andere Monster) optimal zu seinen Gunsten auszunutzen, nur dann kommt man an die seltsamen Mädchen heran.
Schwerwiegende moralische Fragen
Und dann steht der Spieler auch wieder vor schwerwiegenden moralischen Fragen: Töte ich das wimmernde Mädchen, bekomme ich doppelt soviel ADAM-Substanz wie wenn ich „Little Sister“ großherzig laufen lasse. Hmmm... Solche Entscheidungen wie auch die grundsätzliche Wahl zwischen Ausbeutung und Rettung der verbliebenen „Rapture“-Bewohner wirken sich entscheidend auf den Spielverlauf bis zum Ende aus.
Wer BioShock in seiner Schönheit genießen will (speziell die Wassereffekte der aufgebohrten Unreal-3-Engine sind auch ohne DirectX 10 das Beste was es bisher gegeben hat) und sich dafür eine neue Grafikkarte kauft, sollte unbedingt darauf achten, dass sie mindestens Shader-Model 3.0 unterstützt - sonst bleibt der Bildschirm schwarz.
Ärgerlich ist, dass entgegen des hehren Moral-Themas von BioShock der Vertrieb bei der Implementierung von SecuROM-Kopierschutz extrem unmoralische DRM-Daumenschrauben angezogen hat. Nachdem zunächst die Zahl der gleichzeitig erlaubten obligatorischen Online-Aktivierungen des Spiels pro Rechner auf zwei (!) beschränkt war und nur drei (!!) Neuinstallationen insgesamt erlaubt sein sollten, hat sich 2K Games aufgrund massiven Unmuts in der Spieler-Community jetzt immerhin entschlossen etwas nachzubessern. Fragen dazu beantwortet 2K Games hier.
Bug-frei ist BioShock ebenfalls noch längst nicht. Viele Käufer beklagen in Foren, dass das Spiel speziell unter Vista z.T. massive Ton-Probleme hat und visuell auf Widescreen-Monitoren nicht richtig dargestellt wird.
Schön wäre daher einmal ein Spiel namens „CopyShock“, in dem durch DRM-Kopierschutz-Terror derangierte verzweifelte Spielekäufer Jagd auf Manager-Monster von Publisher-Firmen wie Ubisoft, Electronic Arts und Take Two machen. Vielleicht könnten sich ja die garantiert unmoralischen „Manhunt“-Spezialisten Rockstar Games dafür erwärmen ?