Architektur auf den Wellen des urbanen Niedergangs

Die Auflösung der Stadt ist ein langsamer und unaufhaltsamer Prozeß, der wie ein evolutionärer Trend vor sich geht. Der Architekturtheoretiker Martin Pawley erklärt so das Scheitern des Urbanismus.

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Martin Pawley: Der Prozeß der Enturbanisierung durch die neuen Medien

Wie der Aufstieg der asiatischen und pazifischen Region und die auf und ab schaukelnde Balance des wirtschaftlichen Fortschritts in Osteuropa zeigt, wird die Rolle der Architektur, die Entwicklung der Innenstadt, der Stadtperipherie und des Umlands durch Auflagen für neue Gebäude zu kontrollieren, immer mehr in Frage gestellt. In den alten Welten, wozu Amerika ebenso wie Europa zählt, scheinen wir in einen aussichtslosen Kampf verwickelt zu sein, eine mächtige Naturkraft mit der Hilfe von zunehmend geschwächten Verwaltungen zu kontrollieren. Diese mächtige Naturkraft ist nichts anderes als der Prozeß des Niedergangs und des Zerfalls, der jedem organischen und anorganischen Leben eigen ist. In der natürlichen Welt gibt es "Städte" in zahlreichen Formen. Manche werden durch Riffe von Austern, Entenmuscheln und anderen Weichtieren errichtet, die über Jahrhunderte hinweg an riesigen Ablagerungen in flachen Küstengewässern bauen. Diese großen natürlichen Städte besitzen ihren eigenen Zyklus von wachstum und Niedergang. Ihre Massen nimmt langsam zu, bis ihre ganze Struktur durch einen inneren Zerfallprozeß auseinanderbricht und instabil wird, so daß sie irgendwann von den Wellen des Ozeans, also von ihrer natürlichen Umwelt, zerstört werden.

Wenn wir diesen natürlichen Zyklus als Paradigma der urbanen Situation nehmen - zu einer Zeit, in der der Urbanismus, wie dies der Architekt Rem Koolhaas einleuchtend ausgedrückt hat, zu einem Ende gekommen ist, aber die Urbanisierung weitergeht - kommen wir zum Schluß, daß das, was wir bislang als urbane Ausdehnung und Verbreitung gesehen haben, in Wirklichkeit gar kein Wachstumsprozeß sein könnte, sondern die Endphase in einem Zerfallsprozeß, der mit der molluskenartigen Überbelastung der Infrastruktur und einem daraus folgenden Verlust jeder Fähigkeit zur Selbstreperatur und und Selbsterhaltung einsetzte. Die urbane Diddusion, die Ausbreitung der Städte in ihr Umland, könnte also einfach aus dem Verlust an Elastizität im zentralen urbanen Gebilde stammen, aus der Unfähigkeit mithin, eine wachsende Selbsterhaltungslast zu tragen.

Wenn wir diese Behauptung für einen Augenblick einmal akzeptieren, daß die Städte der alten Welten sich weniger ausbreiten als erodieren, dann können wir den Prozeß der peripheren Ausdehnung als einen Gradienten betrachten, der sich von einem theoretisch hohen Punkt im Stadtzentrum bis zu einem theoretisch niedrigen Punkt am äußersten ländlichen Bereich erstreckt. Dieser Gradient vom hohen urbanen bis zum niedrigen ländlichen Leben verflacht sich durch Migrationen und Diffusionen in eine entropische Ebene. In einem fraktalen Mikrokosmos der großen Explosion unseres Sonnensystems zersplittern ein innerer Verfall und eine große Erosionskraft tatsächlich unsere alten Städten und schleudern ihre Bruchstücke weit umher.

Wie diese Beschreibung deutlich werden läßt, muß ein solcher Prozeß, wenn es ihn gibt, schon lange vor unserem Jahrhundert begonnen haben. Vergreisung und Verfall hängen nicht von der Planungspolitik ab, sie sind Bestandteil der Umwelt, in der die Planung existiert und in der sie auch erst entstanden ist. Die Auflösung der Städte ist ein weit tiefreichender und unwiderstehlicher Prozeß, als uns die Planungsstrategien glauben lassen. Verglichen mit seiner unbarmherzigen Auswirkung auf Investionen in Architektur und auf Architekturtheorie, ist die Stadtplanung ein triviales Anhängsel des entropischen Niedergangs des Urbanismus: zu schwach, zu neu und zu sehr den Extravaganzen der politischen und wirtschaftlichen Ereignisse unterworfen, um die Richtung eines langfristigen und vielfältigen Trends zu verändern.

Um einen derartigen Prozeß zu verstehen, müßten wir nicht den gescheiterten Urbanismus der letzten hundert Jahre, sondern die urbane Topographie und Demographie der letzten tausend Jahre untersuchen und ihn als riesigen Kampfplatz eines sich beschleunigenden und wieder verlangsamenden Wandels sehen, auf dem einzelne Megastrukturen aufbrechen und in verstreute Mikrostrukturen mit geringer Dichte zerfallen. In seinem solchen langfristigen Kontext ist die traditionelle Stadtplanung nicht mehr als Weise, über ein unsteuerbares Ausbluten der Substanz des dichten urbanen Lebens in einen sich ausbreitenden Teppich einer gleichmäßig verteilten Autobahnsiedlung zu sprechen.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer